Der Koordinator der Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche, Harald Dreßing, zeigte sich am Dienstag in Fulda erschüttert über das Ausmaß. Auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, bekundete Scham und Erschütterung. Vertreter von Politik und Kirche forderten tiefgreifende Reformen, die auch den Zölibat, klerikale Machtstrukturen, die Rolle der Frauen und die Beichte betreffen.
Die Ergebnisse der Studie legten nahe, dass es in der Kirche Strukturen gegeben habe und gebe, die Missbrauch begünstigen, sagte Dreßing. "Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, aber auch der Zölibat und der Umgang mit Sexualität, insbesondere mit Homosexualität". Auch die Rolle der Beichte müsse überdacht werden, sagte der Psychiater.
Die Wissenschaftler ermittelten Missbrauchsvorwürfe gegen 1.670 Kleriker, was einem Anteil von 4,4 Prozent der geprüften Geistlichen entspricht. Es handele sich aber um eine "untere Schätzgröße" und die Spitze eines Eisbergs.
Marx erklärte: "Allzulange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden. Der Schutz der Institution sei höher gewertet worden als der Schutz der Opfer. "Ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für mich! Wir haben den Opfern nicht zugehört." Die Kirche müsse neues Vertrauen aufbauen: "Ich verstehe viele, die sagen: Wir glauben Euch nicht." Der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, erklärte, der Forschungsbericht gebe der Kirche "deutliche Hinweise", welche Strukturen und Dynamiken Missbrauch begünstigen könnten.
Marx und Ackermann betonten, es seien weitere Schritte nötig, um das Thema gründlicher aufzuarbeiten. Vielleicht könne es dabei so etwas wie unabhängige "Wahrheitskommissionen" in den Bistümern geben, sagte Marx. Auch für eine engere Zusammenarbeit mit dem Staat, der Justiz und dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sei er grundsätzlich offen. Ackermann begrüßte die Forderung von Opferverbänden nach einer Verbesserung der Entschädigung.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) forderte unterdessen eine "ehrliche und umfassende" Aufarbeitung. "Menschen, die so etwas tun, haben in keinem Amt der Kirche etwas zu suchen." Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) forderte, die Bistümer und Orden müssten Verantwortung für jahrzehntelanges Vertuschen und Verleugnen übernehmen. Nur wenn sich die Kirche ernsthaft der Debatte über Machtstrukturen und Sexualmoral stelle, könne sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Der kirchenpolitische Sprecher der Union, Hermann Gröhe (CDU), betonte, die Kirche müsse auch die Priesterausbildung auf den Prüfstand stellen und den Umgang mit der eigenen Sexualität thematisieren. Der religionspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Stefan Ruppert, sagte, die Kirche müsse nun zeigen, dass sie in Fällen sexuellen Missbrauchs konsequent eine Null-Toleranz-Politik verfolge. Auch die frühere deutsche Vatikan-Botschafterin Annette Schavan plädierte für "tiefgreifende Veränderungen" in der Kirche. Papst Franziskus habe immer wieder Klerikalismus und Machtmissbrauch angeprangert, sagte sie im rbb.
Die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" verlangte eine unabhängige Aufarbeitung. Auch der Vatikan müsse Zugang zu den dort befindlichen Missbrauchsakten gewähren. Weiter mahnte die Initiative eine angemessene Entschädigung an.
Die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs" erklärte, dringend geboten sei eine "Analyse täterfreundlicher Strategien". So müsse die Kirche das Beichtgeheimnis, aber auch die Gemeinde- und Seelsorgearbeit kritisch überprüfen.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, plädierte für mehr Zusammenarbeit von Staat und Kirchen. Beispielsweise gehe es darum, genau festzulegen, welche Rechte Betroffene künftig haben müssten, etwa zur Akteneinsicht. Der Kriminologe Christian Pfeiffer forderte, die Kirche müsse offenlegen, wo sie Fehler begangen habe. "Das Entscheidende fehlt: Wir wissen nicht, wer die Verantwortlichen sind."
Auch Vertreter katholischer Einrichtungen und Verbände forderten strukturelle Reformen sowie ein verändertes Verständnis von Sexualität. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sprach sich dafür aus, dass "die Kirche ihr Verständnis von Sexualität, insbesondere auch von Homosexualität, überdenken muss".
ZdK-Präsident Thomas Sternberg kritisierte ein überholtes Amts- und Kirchenverständnis. Deshalb müssten "klerikale Führungs- und Leitungsstrukturen" aufgebrochen und synodale Elemente gestärkt werden. Auf allen Ebenen müssten gewählte Frauen und Männer mitentscheiden können.