Als Minderheit, die auch um den Preis des eigenen Lebens an ihrem Glauben und an ihrer religiösen Selbständigkeit festhielt, waren die Juden schon in vorchristlicher Zeit da und dort gesellschaftlicher Ächtung, ja Pogromen ausgesetzt. Seit den jüdischen Aufständen gegen die römische Besatzung wurde auch die Haltung der römischen Behörden gegenüber den Juden zunehmend feindselig; die Christen wurden z.T. als jüdische Sekte angesehen und mitverfolgt. Den wesentlichen Anteil am Entstehen des eigentlichen Antisemitismus haben die schon mit dem NT beginnenden antijüdischen Texte. Die wissenschaftlich-exegetische Diskussion bezieht sich vor allem auf die Frage, ob es sich bei antijüdischen Äußerungen im NT um Zeugnisse einer innerjüdischen, orientalisch heftigen Auseinandersetzung oder um feindselige Polemik der vom Judentum tragisch getrennten frühchristlichen Gemeinden handelt. Unter den diskutierten Texten des NT waren und sind besonders folgenschwer: Die judenfeindliche Haltung des Johannesevangeliums, das pauschal „die Juden“ als Bezeichnung der Gegner Jesu sagt und „die Juden“ religiös disqualifiziert, den Teufel als ihren Vater bezeichnet (Joh 8, 23 44); das „Blutwort“ im Matthäusevangelium (27, 25), das dem ganzen jüdischen Volk eine Selbstverfluchung in den Mund legt; die pauschal negative Einschätzung der Pharisäer und Schriftgelehrten in den synoptischen Evangelien. Dazu kommen Äußerungen über die Verstockung Israels, über die Verstoßung aus dem Bund, die offensichtlichen Versuche, aus Opportunismus den Anteil der Römer am Tod Jesu zu verkleinern.
Der in den Texten des NT selber und nicht erst in späteren Interpretationen breit dokumentierte Sachverhalt wurde in der Wirkungsgeschichte durch die singulären Äußerungen Joh 4, 22 („das Heil kommt von den Juden“) und Röm 9–11 nicht „neutralisiert“.
Der Antijudaismus prägte die Haltung der Christen gegenüber den Juden von Anfang an auf allen Ebenen, von der Volksreligiosität bis zur Theologie. Legitimiert wurde er durch den Vorwurf des Christusmords, gelegentlich auch des „Gottesmords“ und durch die Behauptung, die Juden hätten, von Gott verflucht, die Zugehörigkeit zum Bund, die Auserwählung und die Qualität als Eigentumsvolk Gottes verloren; das Judentum sei in allen positiven Hinsichten von der Kirche beerbt worden.
Mit dem zunehmenden öffentlichen Einfluss der Kirche wuchsen die Bedrohungen der Juden, die zu den Judenverfolgungen des Mittelalters und zu Sondergesetzen für die Juden führten (IV. Laterankonzil 1215: Die Juden werden gezwungen, sich an ihren Kleidern zu kennzeichnen). Eine Zusammenfassung des christlichen Antijudaismus stellt M. Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1546) dar. Gesellschaftlich wurden die Juden nicht nur diskriminiert, sondern regelrecht dämonisiert („Weltverschwörung“). So verband sich der christliche Antijudaismus nahtlos mit dem Ende des 18. Jh. einsetzenden rassistischen Antisemitismus, der von der unteren kirchlichen Ebene bis in die Bereiche der Literatur und des Theaters und in die Politik (Frankreich, Österreich-Ungarn, Deutschland) reichte. Die christlichen Kirchen verhielten sich, von Ausnahmen abgesehen, teilnahmslos gegenüber der modernen Judenverfolgung mit dem Mordprogramm der „Endlösung“.
Ausgelöst durch den Schock von Auschwitz, setzte in den 40er Jahren nach dem Krieg in den christlichen Kirchen eine Besinnung ein, die auf evangelischer wie auf katholischer Seite wiederholte Schuldbekenntnisse und Verurteilungen des Antisemitismus zur Folge hatte. Eine theologische Revision begann mit Johannes XXIII. und dem II. Vaticanum (NA 4) (Judentum und Christentum); auch evangelische Synoden erklärten das Fortbestehen der Erwählung der Juden und des ungekündigten Gottesbundes mit ihnen.
Die neue christliche Haltung leidet aber auch (z. B. hinsichtlich der Verwendung antijüdischer NT-Texte im Gottesdienst) unter Zaghaftigkeit und Bedenken und sieht sich vor der Aufgabe, den noch immer existenten christlichen Antisemitismus effektiver zu bekämpfen.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder