Bisher unveröffentlichte Predigten und Ansprachen von Papst Franziskus
Ob in seinen Predigten zu kirchlichen Hochfesten, vor Jugendlichen am Marienwallfahrtsort Luján, vor Trauernden nach einer Katastrophe oder vor Priestern – Papst Franziskus findet für alle einfühlsame, aber auch kritische Worte. Er nimmt Anteil, ruft zur Begegnung und zum Dialog auf und scheut sich nicht vor scharfen gesellschaftlichen Analysen. Sein Anliegen: im Mitmenschen
Gott begegnen.
Antonio Spadaro ist einer der engsten Vertrauten von Papst Franziskus. Jetzt legt er bisher unveröffentlichte, ausgewählte Predigten und Ansprachen aus der Zeit von Mario Bergoglio als Erzbischof von Buenos Aires von 2005 bis 2009 vor, zu kirchlichen Hochfesten und gesellschaftlichen Ereignissen – kritisch, aufrüttelnd, ermutigend. Sie zeigen ihn als Priester und Privatperson und geben einen einzigartigen Einblick in das Leben und Denken des heutigen Papstes.
»Im Dialog entdecken wir die Erinnerung an unsere Väter wieder, wir entdecken wieder, was wir zum Erbe erhalten haben – nicht, damit wir es konservieren: Wir haben ein Erbe erhalten, damit es mit uns wächst. Im Dialog setzen wir uns gemeinsam mit den Herausforderungen der Gegenwart auseinander und sorgen dafür, dass dieses Gedächtnis in den aktuellen Situationen Gestalt annimmt und auf jede Herausforderung der Gegenwart eine Antwort gibt. Im Dialog finden wir den Mut, dieses Erbe, das sich mit der Gegenwart eingelassen hat, in die Utopien der Zukunft einzubringen und unsere Pflicht zu erfüllen, nämlich das erhaltene Erbe dadurch wachsen zu lassen, dass wir uns fruchtbar auf Zukunftsutopien einlassen.« (PAPST FRANZISKUS)
Exklusives Interview mit Antonio Spadaro zum fünfjährigen Amtsjubiläum von Papst Franziskus
Welches sind die zentralen Motive im Denken von Jorge Mario Bergoglio?
Ich glaube, sein Pontifikat ruht auf zwei Säulen: Barmherzigkeit und Unterscheidung. Die Barmherzigkeit ist das wahre Antlitz Gottes, dessen Fähigkeit darin besteht, zu integrieren und willkommen zu heißen. In der Unterscheidung offenbart sich das Handeln Gottes, der in der Geschichte und im Leben eines jeden Menschen gegenwärtig ist, und der sich nicht in Normen und abstrakte Vorschriften einzwängen lässt. Die Gegenwart Gottes bringt das hervor, was Bergoglio mit einem Oxymoron den „Frieden der Unruhe“ nennt. Das heißt, er rüttelt auf, er bewegt, er erzeugt Kontraste, er treibt vorwärts. Bergoglio ist kein „Pazifist“. Es geht ihm nicht um den Frieden als „Ruhe“: Der Frieden ist vielmehr immer mit sozialer Gerechtigkeit und innerem Kampf verbunden.
Warum ist es so wichtig, die Reden und Predigten aus seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires zu kennen?
Liest man seine Predigten und Ansprachen aus den Jahren 1999 bis 2013, gewinnt man den Eindruck einer großen Kontinuität, aber auch eines Wachsens durch die Begegnung mit Menschen jeder Art: mit Arbeitern, Politikern, Erziehern, Gläubigen unterschiedlicher Religionen. Die Bände „Im Angesicht des Herrn“ dokumentieren, wie sich die Perspektive Bergoglios im Laufe der Zeit entwickelt hat – im Kontakt mit den großen Herausforderungen für Glaube und Gesellschaft. Jahr um Jahr vertiefen sich die Themen – aber sie werden auch einfacher. Sein Blick wird immer klarer, und er reichert sich mit Erfahrungen an. Wer diese Bände liest, lernt, das Pontifikat im Sinne der ersten Predigt zu verstehen, die dort abgedruckt ist: „Mit seiner ganzen Existenz“ zu handeln, „mit den Händen, mit dem Herzen, mit dem Wort“.
Wodurch überrascht Papst Franziskus?
Franziskus ist immer gut für Überraschungen. Mich erstaunt er immer wieder durch die Frische seiner Worte. Zwei „Überraschungen“ möchte ich konkret benennen: Die erste ist seine Fähigkeit, zu sehr unterschiedlichen Kategorien von Personen zu sprechen. Diese Fähigkeit ist die Frucht seiner großen Offenheit und Bereitschaft zur Begegnung mit Menschen. Das heißt, seine Worte zeugen von direktem Kontakt, von der Erfahrung. Franziskus geht von seinem Wissen um dem Kontext aus – und von einer spirituellen Intuition. Eine zweite Überraschung ist die große Bedeutung, die er dem Thema der Erziehung zumisst. Die Begegnung mit Jugendlichen ist für ihn sehr wichtig. Man ist wirklich erstaunt über die schiere Menge der Reden und Botschaften, die sich mit der Bildung, und das heißt: mit der Zukunft, beschäftigt. Diese Texte zu lesen – das gibt einem Energie!
Wofür können die Katholiken dem Papst dankbar sein?
Für seine einfache und direkte Verkündigung des Evangeliums in all seiner Kraft. Damit erzeugt er auch Spannungen, Widerstände und Opposition. Aber so kommt es eben zur Unterscheidung. Wir sehen heute, wie in der Kirche alles Gute und alles Schlechte deutlich wird. Wir sehen insbesondere Franziskus, wie er alles Böse „auspresst“, das in der Kirche im Verborgenen gewirkt hat. Er treibt es aus. Aber just diese Widerstände sind für ihn das Zeichen, dass er in die richtige Richtung geht. Opposition gehört zum Prozess. Auf der anderen Seite macht er positive Energien frei: Er ermutigt Menschen, die sich für eine bessere Welt einsetzen wollen, er gibt der Mission neue Kraft, er zeigt den Menschen eine Kirche der offenen Tore und der offenen Arme, er gibt Trost. Franziskus ist letztlich die einzige große moralische Autorität der Welt.
Übersetzt von Gabriele Stein