Im AT begegnen „asketische“ Weisungen vor allem situationsbedingt im Zusammenhang mit der Einhaltung der von Gott im Dekalog gegebenen Lebensordnung; sie werden schließlich zusammengefasst als „Gebet, Fasten, Almosen“ (Tob 12, 8). Einen Sonderfall der Askese bildet die sexuelle Enthaltsamkeit, die primär nicht im Dienst der Selbstbeherrschung, sondern der kultischen Reinheit steht. Im NT stehen die Ratschläge zum Verzichten unter dem Vorzeichen der Naherwartung der Vollendung der Herrschaft Gottes, angesichts deren das weltliche Sich-Einrichten als vorläufig und überholt erscheint. Das Schicksal Jesu angesichts des Kreuzes gibt der Nachfolge Jesu eine neue asketische Qualität.
Die christliche Askese war von Anfang an von Deformierung bedroht: Weltverachtung (aus Feigheit oder Ressentiment), Weltflucht, Untreue gegenüber der Verantwortung für die Schöpfung, Hoffnung auf „jenseitigen“ Lohn für Verzicht und gute Werke. In der Praxis der christlichen Askese sind Motive und Werte enthalten, die sie auch heute verständlich und sinnvoll erscheinen lassen: Läuterung egoistischer Antriebe (christlich: „Kampf gegen die Sünde“), Training zur Erlangung einer größtmöglichen Harmonie zwischen den verschiedenen Schichten und Kräften des Menschen (christlich: Einübung von Tugenden), Konsumverzicht als Bewährung individueller Freiheit und als Dienst an der Bewahrung der Schöpfung. Aber zum Wesen der christlichen Askese gehört diese moralische Askese nicht. Ebenso wenig ist christliche Askese kultische Askese, d. h. die Auffassung, Gott habe am bloßen Verzicht als Opfer Wohlgefallen, und durch größere oder kleinere Opfer komme man immer tiefer in die Dimension des Heiligen. Auch die mystische Askese als „entleerende“ Hinreise in den Personkern, um unter Hinterlassung der „Welt“, ja des eigenen Willens eine Gotteserfahrung möglich zu machen, gehört nicht zum Wesen der christlichen Askese. Diese wird vielmehr begründet durch eine radikal christliche Interpretation des menschlichen Daseins, und zwar des Daseins als eines zutiefst und offensichtlich sinnwidrig bedrohten: des unweigerlich dem Tod ausgesetzten Daseins. Christliche Askese bedeutet, sich der Todessituation bewusstseinsmäßig zu stellen, sie zu akzeptieren, sie als Möglichkeit der Nachfolge Jesu auch in seinem Sterben zu begreifen. Diese „Realisierung“ des Todes besagt, ihn nicht auf die letzte Agonie zu beschränken, sondern ihn lebenslang stückweise einzuüben, ihm den Charakter als bloß erzwungenes Widerfahrnis zu nehmen und statt dessen loslassend und verzichtend aus ihm eine Tat der Übereignung an Gott zu machen. Ein solches Verständnis schließt ein dankbares Genießen der Schöpfungsgaben nicht aus (so wie Jesus, der den Weg zum Tod als „Muss“ auffasste, sich dennoch dem Vorwurf konfrontiert sah, er sei ein Fresser und Säufer: Mt 11, 18 f.). Die konkrete Art und Weise, wie eine christliche Askese realisiert wird, unterliegt keinem Schema; sie ist Sache einer persönlichen Berufung.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder