Das Gebet Jesu
Die Evangelisten erzählen, wie Jesus seine Jünger das Vaterunser zu beten gelehrt hat. Die ausführlichere Fassung von Matthäus ist bis heute in Gebrauch. Dort ist das Vaterunser Kernstück der Bergpredigt. Die knappere Version im Lukasevangelium wird auf der Reise von Galiläa nach Jerusalem angesiedelt. Aufgrund der Gemeinsamkeiten zwischen beiden Varianten nimmt die Bibelwissenschaft eine gemeinsame schriftliche Quelle an. Aus dieser schöpften beide Evangelisten, sammelten und verstärkten die Jesustraditionen ihres eigenen Kontextes. So entstand aus ihren Überlieferungen ein lebendiger christlicher Gebrauchstext, der noch den Geist jüdischen Betens in sich trägt: „Das Vaterunser ist nicht nur eine Schnittstelle zwischen Himmel und Erde. Es ist auch eine Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum. Das Vaterunser ist ein Gebet, das Jesus nur als Jude seine Jünger, die alle Juden waren, hat lehren können.“ (Thomas Söding) In diesem Sinne kann es wie kein anderes Gebet ermöglichen, gemeinsam zu Gott zu beten.
Vaterunser in Geschichte und Liturgie
Schon die Kirchenväter erkannten, dass Jesus seine ganze Lehre in dieses Gebet legte und seine Botschaft im Vaterunser einprägsam konzentrierte. Seit den Anfängen der christlichen Gemeinden ist das Vaterunser der Grundtext für Verkündigung, Katechese und gelebten Glauben. Spätestens unter Karl dem Großen wird das Vaterunser zum Grundgebet aller Christen nördlich der Alpen und prägt im Mittelalter das Bild des christlichen Gottes, der mit den Menschen spricht und lebt. Martin Luther und das Konzil von Trient betonen später die dreifache Funktion des Vaterunsers: Es ist programmatisches Gebet, Kurzformel des Glaubens und christliche Lebensregel.
Schon in frühchristlicher Zeit wurde das Beten des Vatersunsers dreimal am Tag empfohlen. Seit dem 4. Jahrhundert ist es in der Eucharistiefeier der Ost- und Westkirche bezeugt. Mit der Vergebungs- und der Brotbitte, die eucharistisch verstanden wurde, eignete sich das Vaterunser besonders als Kommunionvorbereitungsgebet. So fand es in der Liturgie seinen Platz nach der Brotbrechung. Gregor der Große fügte das Vaterunser in der römischen Messe an das Hochgebet. Die ursprüngliche römische Praxis mit einem Vorbeter wurde durch das gemeinschaftliche Vollziehen ersetzt. In der frühchristlichen Taufvorbereitung wurde den Katechumenen das Vaterunser feierlich anvertraut – eine Tradition, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder auflebte und so die Funktion des Vaterunsers als Taufgedächtnis erneuert. Die dort ebenfalls erneuerte Tagzeitenliturgie sieht am Ende von Laudes und Vesper das gemeinsam gesprochene Vaterunser vor.
Vater unser im Himmel
Der Schlüssel zum Gebet ist die Anrede „abba“, Vater. Sie zeigt die persönliche Gottesnähe Jesu, in deren Geist Gläubige das Gebet auch heute noch sprechen: Im Vertrauen auf Gottes Macht und seine unbedingte Liebe zum Menschen.
Geheiligt werde dein Name
Dein Reich komme
Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden
Das Gebet beginnt mit der unmittelbaren Ansprache „Du“, um Gott zum Handeln zu motivieren – nach seinem Willen. Die Nähe, das Kommen seines Reiches zeigt sich dann dort, wo sein Wille geschieht.
Wie jede weitere Bitte zielt auch diejenige zur Heiligung des Namens Gottes darauf, dass Gott den Menschen in seinen Dienst nimmt. So wird dafür gebetet, offen zu sein für das Kommen des Reichs Gottes und seinen heiligen Namen weiterzutragen.
Unser tägliches Brot gib uns heute
In den folgenden „Wir-Bitten“ geht es um die elementaren Lebensnotwendigkeiten der Beterinnen und Beter, das persönliche und gemeinschaftliche Wohlergehen auf Erden. Sie bauen darauf auf, dass Gott seinen Namen heiligt, seinen Willen geschehen und so sein Reich kommen lässt – und zwar durch die Menschen, die sich an ihn wenden, mit den von Jesus gegebenen Worten.
Einerseits ist das gesegnete Brot der Kommunion für die Gläubigen Zeichen göttlicher Fürsorge, die jeden Hunger stillt. Auch eine ethische Bedeutung hat die Brotbitte: Die Gemeinschaft des Glaubens ist gefordert, sich um die Armen zu sorgen. Und schließlich ist diese Bitte auch Hoffnung für diejenigen, die tatsächlich hungern müssen: sie ist geistige Nahrung und Trost, dass im Sinne der Bergpredigt besonders den Hungernden der Segen im himmlischen Leben zuteilwird.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Die Vergebungsbitte führt von der materiellen zur moralischen Not. Auch die Betenden müssen ihre Sünden bekennen und um Vergebung bitten. Diese Vergebung der Schuld ist ein Wesensmerkmal der Sendung Jesu. Denn Gott ist es möglich in seiner Schöpferkraft, die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit vereinigt, immer wieder neu zu vergeben. Dafür hat Jesus sein Leben eingesetzt. In der Gottes- und Nächstenliebe des Vatersunsers geht er den schmerzhaften Weg bis zum Tod und erfüllt damit gewissermaßen sein Gebet.
Und führe uns nicht in Versuchung
Die Bitte um Verschonung vor der Versuchung hängt bei Matthäus eng mit der Rettung aus dem Bösen zusammen, eine endzeitliche Erwartung klingt dort an. Im Lukasevangelium bezieht sich diese Bitte eher auf konkrete weltliche Situationen. Im Vaterunser ist Gott der liebende Vater, der den Menschen nicht einer unmöglichen Probe aussetzt. Er bleibt stets derjenige, der die Rettung vollbringen kann, und sei es in der umfassenden Gerechtigkeit seines Gerichts, das zur Versöhnung führt. Das bedeutet jedoch nicht, dass der „Vater“ von seinen „Kindern“ alle Schwierigkeiten fernhält. Er mutet ihnen in liebevollem Zutrauen gerade etwas zu – die Passionsgeschichte zeigt, was Gott seinem Sohn zugetraut hat.
Sondern erlöse uns von dem Bösen
Knapp ist das Ende in beiden Evangelien, ein abrupter Schrei nach Hilfe. Die letzte Bitte steigert die Vergebung der Sünden und wendet das vorangehende „führe uns nicht in Versuchung“ ins Positive. Die Bitte enthält den starken Kontrast zwischen dem angesprochenen Gott, der das Leben schenkt und dem Bösen, das den Tod bringt. Nur im Vertrauen auf Gott ist Rettung, Erlösung und Befreiung zu erhoffen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit
Fast wortgleich findet sich eine Parallele zum Gebet des Matthäus in der Didache. Diese frühchristliche „Zwölfapostellehre“ überliefert als Kirchenordnung das Vaterunser im Zusammenhang mit Fasten und Eucharistie. Übernommen wurde daraus der abschließende Lobpreis, erst in der Lutherbibel und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch in der katholischen Kirche.
Amen
Das Vaterunser wird geschlossen mit dem bekräftigenden „Amen“. Es heißt: „So ist es“, „das glaube ich“, „es ist wahr“. Wer „Amen“ sagt, betet gewissermaßen noch einmal von vorn. Darin steckt das absolute Vertrauen in das Gebet und das unbedingte Ja zu Gott.
Aktuelle Diskussion um das Vaterunser
Seit 2000 Jahren werden die Worte Jesu von Generation zu Generation im Christentum überliefert, das birgt auch ein Risiko: Vom ursprünglichen Aramäisch Jesu erst ins Griechisch der Bibel, dann ins Latein der westlichen Kirche und schließlich auch ins Deutsche. In der Übersetzung kann bei der Übertragung Wesentliches verfälscht werden. Im französischen Sprachgebrauch änderte sich daher mit dem Jahr 2017 die Zeile des Vaterunsers „und führe uns nicht in Versuchung“, in die neue Fassung „und lass uns nicht in Versuchung geraten“. Daraufhin kritisierte Papst Franziskus die deutsche und andere Übersetzungen dieses Verses. Die Formulierung sei nicht passend: Der Satan verführe zur Sünde, ein Vater keinesfalls. Die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche halten jedoch die Deutung des Verses für entscheidend und eine Änderung der seit Martin Luther üblichen deutschen Formulierung, die sich nah am griechischen Urtext hält, nicht für nötig.