Der Freispruch des Bundesgerichtshofs (BGH) am 6. Juli 2010 für einen Arzt, der in Selbstanzeige seine Anwendung der genetischen Belastungsprüfung von Embryonen (PID) im Rahmen einer genetisch indizierten Befruchtung im Reagenzglas (IVF) auf Zulässigkeit untersuchen ließ, setzte eine Diskussion über die Novellierung des Embryonenschutzgesetzes von 1990 in Gang. Diese Debatte ist nicht neu. Sie wurde bereits unter Gesundheitsministerin Andrea Fischer und Staatssekretärin Christa Nickels im Jahr 2001 mit viel Aufwand betrieben. Es ging schon damals um ein neues Fortpflanzungsmedizin-Gesetz, das sowohl den technischen Neuerungen als auch den ethischen Grundsätzen entsprechen sollte.
In der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 8. Juli 2010 griff Martin Spiewak das Anliegen von 2001 auf, "neue Regeln" für die "künstliche" Befruchtung einzusetzen. Der Bericht wird mit einer Graphik zum Thema: "PID, der Gencheck nach der Befruchtung" illustriert, die mit zwei Bildern arbeitet: Daumen oben (Einpflanzung) und Daumen unten (Verwerfung). Der letzte Satz zur Graphik lautet: "Kranke Embryonen ... werden entsorgt."
Die Sprache ist nicht nur verräterisch, sie ist auch falsch. Denn "krank" im medizinischen Sinn sind die Embryonen nicht; sie sind mit einer genetischen Prognose belastet. Am Ende eines in den Artikel eingefügten Kastens mit dem Titel "Ein Arzt bricht veraltetes Recht" heißt es: "Für eines der drei Paare hat sich die Grenzüberschreitung des Mediziners ausgezahlt: Neun Monate nach der Behandlung wurde ein gesundes Kind geboren." Es scheint so, als sei das Kind aufgrund der Behandlung "gesund". Verdeckt wird dabei, daß zwei von den drei behandelten Paaren ohne diesen Erfolg blieben. Der Bericht geht darauf nicht ein. Diese Art des Sprachgebrauchs, der Ausklammerung von Kontexten und der versteckten Wertungen ist leider nicht unüblich.
Die genetische Präimplantationsdiagnostik (englisch genauer: Preimplantation Genetic Diagnosis PGD, deutsch meist PID - man nennt die Sache nicht gern beim richtigen Namen) beruht auf einer assistierten Zeugung im Reagenzglas, die mit Gentests verbunden wird, um, je nach genetischem Befund, die Embryonen unterschiedlich zu behandeln: die genetisch Auffälligen zu verwerfen und die Unbelasteten einzupflanzen. Möglich scheint auch eine Überprüfung der Fruchtbarkeitseignung von Embryonen, das heißt eine Prüfung, ob eine innerhalb der In-Vitro-Fertilisation (IVF) intendierte Schwangerschaft Aussicht auf Erfolg haben kann. Sofern diese Eignung genetisch zu ertesten ist, geschieht dies im Verlauf einer ansonsten nur Reproduktionszwecken dienenden In-Vitro-Fertilisation.
Wird der Trend zu problematischer Pränataldiagnostik mit der Präimplantationsdiagnostik beherrschbar?
Freilich wird bezweifelt, ob es möglich ist, diesen Weg angesichts seiner Dynamik eng zu halten, wenn er einmal passierbar ist. Denn nachweislich entwickelt sich die Präimplantationsdiagnostik in den Ländern, wo sie bereits zugelassen ist, weiter. In dem im Jahr 2002 erschienenen PID- und In-Vitro-Bericht der europäischen Überwachungskommission (European Society of Human Reproduction and Embryology - ESHRE) für 2001 konnte man erstmals lesen, daß das "social sexing" in Europa im Vormarsch ist. Nach der Auflistung der Institute und ihrer Merkmale durch diese Behörde bieten manche Zentren für Präimplantationsdiagnostik diese Methode an. Gemeint ist eine Geschlechtsauswahl, nicht aus genetischen Gründen (weil eine Erbkrankheit an ein bestimmtes Geschlecht gebunden ist), sondern aus dem schlichten Wunsch heraus, einen Jungen oder ein Mädchen zu bekommen und darum nach einem Test das jeweils unerwünschte Geschlecht nicht einpflanzen zu lassen.
Der Bericht sprach damals von 28 auf 1000 Fälle. Diese Zahl war bis zum letzten, im Internet abrufbaren ESHRE-Bericht von 2006/07 zwar nicht gewachsen. Dennoch ist nicht einsehbar, warum der Artikel in der "Zeit" behauptet, "die bisherige Entwicklung im Ausland" biete "auch kaum Anlaß" zu selektiven Befürchtungen. Auffällig ist nach dem letzten Bericht, daß auf 5858 Zyklen der Ei-Entnahme ("oocyte retrieval", davon 82 für "social sexing") 1437 Schwangerschaften und von diesen 1206 geborene Babies zu verzeichnen sind. Da fragt es sich, ob das eine Erfolgsstory ist. Denn die sogenannte "baby take home-Rate" ist bei der In-Vitro- Fertilisation kaum gewachsen. Wer spricht für die Erfolglosen, wer erwähnt die Belastungen durch In-Vitro-Fertilisation?
In der Zeitschrift der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft (Alzheimer-Info 2 und 3/2002) erschien eine Kontroverse über die erste in den USA vorgenommene "erfolgreiche" Präimplantationsdiagnostik bei Alzheimer (!) - eine Folge der Ausdifferenzierung von Genomanalysen. Es mag als besonders widersinnig erscheinen, daß Eltern mit In-Vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik eine Wahl unter möglichen Kindern nach dem Kriterium ihrer wahrscheinlichen Lebensdauer oder möglicherweise einmal entstehenden Altersbelastung vornehmen: Eine Sicherheit solcher Voraussagen gibt es nicht.
Manche Humangenetiker in Deutschland halten einen Test auf die Huntington- Krankheit (Chorea Huntington, früher: Veitstanz) selbst bei jungen Erwachsenen für moralisch bedenklich. Auf der anderen Seite konnte ich einmal mit eigenen Ohren von dem bekannten Humanisten Horst Eberhard Richter hören, zwar sei die genetische Selektion zu diskriminieren, doch bei Chorea Huntington müsse man eine Ausnahme machen, weil sonst Kinder zu früh Halbwaisen werden könnten. Was sagen dazu die vielen Menschen, die, wie ich, als Kriegs-Halbwaisen aufgewachsen sind? Auch gegen eine solche Testpraxis mittels Präimplantationsdiagnostik hörte man sofort Widerspruch von einigen Humangenetikern.
Ist eine Zulassung im Rahmen des deutschen Embryonenschutzgesetzes möglich?
Der Bundesgerichtshof hat sich offensichtlich denen angeschlossen, die bereits in der Debatte von 2001 eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik rechtlich für möglich gehalten haben: Erstens, weil das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1990 darauf nicht explizit eingeht; zweitens, weil die Totipotenz der entnommenen Zellen und damit die Gleichsetzung mit Embryonen und ihrem "Status" nicht vorhanden sei und drittens, weil gegebenenfalls die Nichteinpflanzung von Embryonen mit letaler Belastung ohnehin die Möglichkeit reduziere, schwanger zu werden und, noch mehr, ein lebend geborenes Kind zu bekommen.
Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang auch die begrenzte Zulassung - nämlich begrenzt auf die zugelassenen Indikationen für die In-Vitro-Fertilisation sowie auf genetische Tests, bei denen die Innidations- und die Austrage-Unwahrscheinlichkeit hoch genug seien, so daß man die betroffenen Frauen nicht mit aussichtslosen Versuchen belasten dürfe. Demgegenüber wurde juristisch auf das Junktim zwischen Befruchtung und Einpflanzung verwiesen. Was freilich rechtlich bestritten oder zumindest umstritten ist, könnte durch eine sogenannte "begrenzte" Zulassung geändert werden. Die Befürworter gehen freilich in der Debatte weit darüber hinaus. Der Bundesgerichtshof hat diesen Argumentationen nun Wind in die Segel geblasen.
Die "begrenzte" Zulassung und ihre Widersprüche
Die Befürworter der "begrenzten" Präimplantationsdiagnostik (auch in der Stellungnahme des Nationalen Ethikrates) haben sich mit solchen Problemen nicht auseinandergesetzt. (Viele Gegner auch nicht.) Die Befürworter wollen zwar nur eine "begrenzte" Zulassung, das heißt eine Ausweitung und Auswüchse ausschließen, aber sie kommen dabei mit dem Argument, daß die Präimplantationsdiagnostik bei einer Einführung stark zu begrenzen sei, selbst über Kreuz. Denn einerseits wollen sie, daß die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik (PND) auf die Präimplantationsdiagnostik "vorgezogen" werden, um das Dilemma der möglichen Eltern von der Selektion "in vivo" auf die "Selektion "in vitro" zu verlegen. Anderseits möchten sie, um des Arguments der begrenzten und "verantwortungsvollen" Einführung willen, für die Präimplantationsdiagnostik mehr Einschränkungen vorsehen als für die Pränataldiagnostik (etwa im Fall der Huntington-Krankheit).
Damit anerkennen sie den Unterschied zwischen Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik, der für die Contra-Position zentral ist: Das selektive Planungsmoment wird durch die scheinbar distanzierte In-Vitro-Situation verstärkt. Damit wird ihre Argumentation mit der vorgezogenen Präimplantationsdiagnostik, welche die Pränataldiagnostik erspare, nicht mehr für alle Pränataldiagnostik- Fälle zutreffend. Also kann man nicht so schlicht von einer "Vorverlegung" sprechen. Man muß zudem darauf hinweisen, daß eine fachgerechte ("lege artis") Präimplantationsdiagnostik aufgrund ihrer relativen Ungenauigkeit eine nachfolgende Pränataldiagnostik im Mutterleib vorschreibt. Es gab sogar einen von ESHRE 2001 berichteten Fall von "social sexing", wo die Präimplantationsdiagnostik das Geschlecht falsch bestimmte und daher nachträglich eine Abtreibung vorgenommen wurde. Die "Vorverlegung" ist also auch in dieser Hinsicht nur eingeschränkt möglich.
Auch das Argument, zwischen schlechterem Fötenschutz bei Pränataldiagnostik und (in Mitteleuropa) strikten Embryonenschutzgesetzen bei In-Vitro-Fertilisations- Techniken bestehe ein "Wertungswiderspruch", ist fragwürdig. Sigrid Graumann, Biologin, Philosophin und Mitglied der Enquete-Kommissionen des Bundestags von 1998 bis 2005, verweist darauf, daß eine bereits eingetretene Schwangerschaft mit keiner anderen Lebenssituation vergleichbar sei und daß "der Konflikt zwischen den Rechten der Frau und dem Schutz des Embryos" nach einer Pränataldiagnostik nicht "unausweichlich" sei. Die genaue Ablaufplanung bei der Präimplantationsdiagnostik setzt aber die vorherige Entscheidung zur Nichteinpflanzung bei belastendem Befund voraus. Denn die möglicherweise eintretende Selektion gehört von vornherein zum Setting des Ablaufs. Ein Zurückkommen auf das Vorhaben ist im Verlauf nicht mehr möglich. Es ist diese "Kaltblütigkeit", die einen unterstellen läßt, wer so etwas befürworte, könne nicht zugleich der Behauptung entsprechen, auch er nehme den Embryo als menschliches Lebewesen "verantwortungsvoll" wahr und wolle ihn schützen.
Bei alldem wird noch einmal deutlich, in welches Dilemma eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik geraten würde, die einerseits, um nicht eine Diskriminierung bestehender Krankheiten und Behinderungen zu ermöglichen, auf "objektive" Selektionslisten verzichten müßte, anderseits aber in jedem konkreten Fall in eine nicht mehr überprüfbare Kasuistik hineingeriete, welche Krankheiten denn nun in welchem Fall so geartet seien, daß eine Entscheidung für die Präimplantationsdiagnostik den nachsuchenden Paaren zugestanden wird. Der Bedarf an Entscheidung und unabhängiger Beratung (eine Mangelware!) im äußerst sensiblen Bereich des Kinderwunsches würde anwachsen.
In diesem Zusammenhang wird von den Befürwortern viel von "Selbstbestimmung" gesprochen. Vor allem in den mitleidigen Zusprüchen für die Präimplantationsdiagnostik erscheint sie als primär. Sie muß jedoch immer von außen geregelt und zugeordnet werden - etwa bei 25 Prozent Wahrscheinlichkeit eines erbkranken Nachwuchses oder aufgrund der Zulassung durch ein Komitee. Dieser unvermeidliche Kontext hält die Selbstbestimmung in Grenzen. Wer will sich solche Entscheidungen anmaßen, die auf eine "Selbstbestimmung" rekurrieren, die in Wirklichkeit eine Zulassung ist? Den künftigen Eltern will man das ja nicht schlicht überlassen. Sonst wäre es vorbei mit der "begrenzten" Befürwortung. Aber wie auch immer: Ein Konzept der Selbstbestimmung, das von vornherein die Verwerfung eines anderen plant, dürfte in sich widersinnig sein - es sei denn, der/die andere (denn ein Geschlecht und eine erste Leiblichkeit liegt ja schon vor) sei eben bloß ein "Es" im Sinn jenes "Zellhaufens" der beinahe zum deutschen "Unwort des Jahres 2002" geworden wäre.
Gradualismus im Status von Embryonen?
Aber muß nicht wenigstens eine Graduierung des moralischen Status von Embryonen gründlich bedacht werden? Eine breite kontinentaleuropäische Mehrheit scheint den "starken" Gradualismus, den Peter Singer bereits in den 80er Jahren in die Debatte gebracht hatte, abzulehnen. Demnach sind nicht einmal Säuglinge als Rechtsträger im Sinn der Personwürde zu betrachten. Einen besonderen Dreh gab Singers utilitaristischen und "personizistischen" (nur wer Bewußtsein und individuelle Interessen hat, ist Person) Positionen der Australier Julian Savulescu beim Bioethik-Weltkongreß in Brasilien im November 2002, indem er behauptete: Auch wenn man von der Annahme ausgehe, daß Embryonen Personen seien, müsse man diesen doch unterstellen, daß sie wegen einer größeren Überlebenschance eine Welt wählen würden, in welcher es Embryonentötung gebe. Denn eine solche Welt böte zahlenmäßig mehr Embryonen eine Überlebenschance, verglichen mit einer Welt ohne Embryonenversuche und Embryonenselektion. Der Grund liege darin, daß man durch Embryonenversuche, verbesserte In-Vitro-Methoden und auch die Selektion Gesunder in der Summe mehr Leben rette als durch das Belassen der natürlichen Abweisung einer großen Zahl von Embryonen vor der Einpflanzung. Ein fiktiver Embryo müsse doch, wenn er vor seinem Eintritt in diese Welt die Wahl hätte, für eine Welt stimmen, die Verbrauch und Selektion zulasse.
Dies ist ein typisch utilitaristisches Summenspiel. Mit der moralischen Idee von aus der Menschenwürde abgeleiteten Rechten Lebender läßt sich dies jedoch nicht vereinbaren. Wir haben die Verpflichtung zur Prävention im Gegensatz zur Option für eine Welt, in der das Lebensrecht dem größeren Wohl einer größeren Zahl oder gegenwärtiges menschliches Leben der Lebenschance Zukünftiger geopfert wird. Zudem setzt Savulescu voraus, daß die Technik der In-Vitro-Fertilisation die Geburtsquote des "natürlichen Zufalls" überbieten könne, und dafür betrachtet er es als Voraussetzung, daß IVF-Embryonen mit embryonalen Stammzellen "behandelt" werden, um die "baby take home rate" zu verbessern. Es handelt sich also um einen Zirkelschluß: Das, was durch das Summenspiel bewiesen werden soll, wird zur Ermöglichung desselben vorausgesetzt.
In der Präimplantationsdiagnostik-Debatte wird aber eher ein "schwacher" Gradualismus vertreten. Demnach geht es nur um die Relativität, nicht um die völlige Bestreitung des Rechts eines Embryos vor der Einpflanzung in den Uterus, das heißt um die ersten etwa 14 Tage oder um die entsprechend kürzere Zeit "in vitro". Dafür werden unter anderem als Argumente angeführt: daß die "Natur" Embryonen auf dem Weg zur Einpflanzung in hoher Zahl verlorengehen läßt und daß man diesen Embryonen ja bei der Gleichsetzung von Mensch und Person die gleichen Rechte zugestehen müsse, niemand aber einen Rettungsversuch unternehme oder gar rechtliche Aufmerksamkeit darauf richte; daß aus dem frühen Embryo durch Spaltung aufgrund der Totipotenz der Teile noch Zwillinge werden könnten, so daß nicht ein einziges Individuum "unteilbar" vorläge; daß auch historisch die abrahamitischen Buchreligionen eine sukzessive Beseelung und damit eine Graduierung gekannt hätten.
Diese Argumente sind freilich erheblichen Einwänden ausgesetzt. Denn die "Natur" hat keine Verantwortung und ist deshalb kein moralisches Vorbild. Das mit einer Möglichkeit spielende Zwillingsargument widerspricht der "de facto"-Situation, daß nur aus einem geringen Prozentsatz eineiige Zwillinge werden und daß man die anderen mit diesem Teilbarkeitsargument unter die "Hermeneutik des Verdachts" stellen müßte, ihre fiktive Possibilität zur Teilung spreche gegen ihre ungeteilte Realität. Wer darüber nachdenkt, wer er einmal gewesen ist, wird es auch intuitiv abwehren, mit diesem Argument in seinem frühen Stadium des Schutzes beraubt zu werden. Und schließlich läßt sich nachweisen, daß die Sukzessivbeseelungs- Theorien nicht auf der Basis originärer theologischer Annahmen, sondern aufgrund überholter antiker Reproduktionstheorien entstanden sind (vgl. Michael Willam 2007). Das Hauptargument gegen den Gradualismus besagt, daß von ihm nicht mehr, wie Kant fordert, die Menschheit in jedem Menschen gleich geachtet wird. Man kommt zu einer Spaltung von Mensch und Person innerhalb der Menschheit, die den Nur-Menschen für die Pläne von Personen verfügbar macht. Würden wir diese Welt mit allen Konsequenzen wollen?
Eugenische Elemente der Präimplantationsdiagnostik?
Aber folgen wir in der Gesellschaft nicht bereits den Gedanken eines Robert Edwards, der 1978 Geburtshelfer für das erste "In vitro"-Baby war und schon 1971 einen Artikel zu seinen Forschungen geschrieben hat, in welchem er deren Sinn damit rechtfertigte, daß Eltern endlich die Verantwortung für die Gesundheit ihrer künftigen Kinder zu übernehmen hätten? Ich habe 1997 auf einem Kongreß in Stuttgart, zu dem ich Edwards eingeladen hatte, diese Äußerung selbst von ihm gehört. Am Ende stünde dann eine ungetestete Elternschaft im Ruf der Verantwortungslosigkeit. Warum leistet sich eine europäische Gesellschaft, die ja über Eugenik- und Selektionserfahrungen verfügt, solche Trends? Warum finden sich intellektuelle Befürworter aus verschiedenen Disziplinen und Repräsentanzen für einen Weg, dessen Folgen so absehbar sind? Sie berufen sich dabei oft auf "Selbstbestimmung".
Manche Aporien sind schon am Gebrauch des moralischen Zauberworts "Selbstbestimmung" ablesbar. Lassen wir das schon erwähnte Problem, daß Selbstbestimmung immer nach Regelung verlangt, beiseite, dann wird immer noch die Begrenzung auf diejenigen, die sich selbst vertreten können, deutlich: Die Einbeziehung anderer, deren Schicksal durch Auswahl bestimmt wird, bleibt peripher. Manche der selektiven frühen Gentests haben mit Fragen der "Zumutung" des behinderten Kindes an die Eltern nichts mehr zu tun. Sie stellen nur noch ein Urteil über die genetisch reduzierte Biographie des Kindes dar, das eigentlich nur diesem selbst zusteht. Die moralische Dimension der Selbstbestimmung, wie sie in der kantischen freien Selbstverpflichtung unter das geprüfte moralische Gesetz zum Ausdruck kommt, wird ebensowenig erreicht wie die Forderung der Diskursethik, die in der Verpflichtung auf einen fairen Diskurs aller Betroffenen besteht; ja, die Idee einer solchen Dimension wird schlicht in der Normsetzung aufgegeben und dem privaten Bereich zugewiesen.
Inszenierte Denkveränderungen? - Das Problem der fortschreitenden Privatisierung des Guten
In einer neoliberalen Gesellschaft kann man von der normativen (und auch politischen) Kraft der Privatisierung des Guten sprechen. Dahinter steckt eine sich gesellschaftlich auswirkende Aporie: Auf der einen Seite gehört es zum Rechtsstaat, Optionen des guten Lebens nicht zu bevormunden; auf der anderen Seite liefert er sich damit hilflos den "fortschrittsfreundlichen" individuellen Optionen aus. Wenn sich eine ausreichende Lobby dafür findet, die solche Optionen für "richtig", angemessen und zumindest für rechtlich nicht behinderbar erklärt, werden die sozialen Kontexte und Folgen nicht mehr eigens gewichtet. Im Labor der so reduzierten Güterabwägung wird die Dynamik des sozialen Wandels ratifiziert und seine Dramatik ausgeblendet. Man muß sich nicht darüber wundern, findet sich doch oft in Ethikkommissionen die Ansicht, daß die faktischen Entwicklungen normativ sind. Meinungen drängen sich so vor Begründungen.
In der biomedizinischen Ethik herrscht zudem oft die Einschränkung des Denkens auf Labor, Krankenbett und verständliche Gefühle vor. Ein Gedanke wie das Gemeinwohl, verstanden als Gemeinschaft der Rechte, kommt nicht mehr zur Sprache. Patientinnen- und Patienten-Interessen werden nicht weiter auf ihr Anspruchs- recht, sie werden nur auf ihre Intensität und Opferbereitschaft hin überprüft. Ihnen gegenüber trage die Gesellschaft die Beweislast dafür, daß sie nicht alle verfügbaren technischen Mittel einsetze. Damit wird von vornherein eine sozialethische Perspektive aufgegeben, wonach die gesellschaftliche Solidarität davon abhängt, ob die Mittel, mit welchen die individuellen Optionen erfüllt werden sollen, mit den Grund- werten der Gesellschaft verträglich sind. Der sogenannte "informed consent" (sofern das Individuum sich mit seinen Interessen artikulieren kann) bevorzugt das individuelle ärztliche Mitleid und drängt es in die Dimension der Verdrängung und Vergleichgültigung sozialer Kontexte angesichts technischer Machbarkeiten.
Zu viel technische Machbarkeit - zu wenig soziale Problemlösungen?
Die Risiken und Mißerfolge technischer Problemlösungen werden meist als in Kauf zu nehmende, nicht intendierte Wirkungen gehandelt. In jedem Fall aber erwarten viele in unserer Gesellschaft - Ärzte, Ethiker, Juristen und Politiker - in Fragen der Reproduktion mehr von technischen Problemlösungen als von sozialen Strategien. Sie verstehen oft nicht, wie man die Prioritäten sozialer Strategien - etwa gegenüber fortschreitender Unfruchtbarkeit - überhaupt vertreten kann. Das ist seit den Schwangerschaftsabbruch-Debatten, trotz ihrer beachtlichen Suche nach Gerechtigkeit, deutlich geworden: Das technisch Machbare verschiebt spürbar, auf Dauer und selbsttätig die soziale Intention. Am Schicksal der Pränataldiagnostik läßt sich das ablesen: Die Einschränkungen verschwinden; die Einklagbarkeit des am Leben bleibenden "Kinderschadens" ist erreicht. Der Eingriff in die Schwangerschaft, die gläserne Mutter, etabliert sich zugleich als Verschiebebahnhof für soziale Probleme - wie etwa die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Gleichberechtigung, die soziale Solidarität mit dem natürlichen Kinderwunsch oder die Möglichkeit der Adoption.
Zudem werden Gewöhnungseffekte im moralischen Bewußtsein etabliert. Dieser Gewöhnungseffekt ist in der Gesellschaft unübersehbar geworden. Der technisch ratifizierte Wandel wird als Kulturwandel ausgegeben, der den Moralwandel selbsttätig wie eine nachfolgende Größe mit sich zieht. Die normative Kraft des Faktischen verbündet sich mit der normativen Kraft des Fiktiven. Journalisten fragen häufig danach, was sich durchsetzen werde, statt danach, was ethisch richtig sei. Die Prognose ersetzt in solchen Köpfen das ethische Nachdenken.
Die Ideologie des normativen Pluralismus und die fortschreitenden Deregulierungen
Wer nicht nur den empirischen Pluralismus der Gesellschaft und den strukturellen Pluralismus der Demokratie akzeptiert, sondern auch noch einen normativen Pluralismus vertritt, wird immer bei der Deregulierung landen. Denn ein Pluralismus, der Normen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner vorschreibt, wird stets diejenigen Optionen begünstigen, die diesen Nenner bereits in Anspruch nehmen wollen. Wenn im "normativen" Pluralismus alle Meinungen am Tisch des Diskurses gleich wiegen, dieser Diskurs aber erwartungs- und ergebnisorientiert geführt und zudem meist ohne negativ Betroffene oder mit entsprechend ausgewählten Betroffenen organisiert wird, dann wird diejenige Meinung herrschen, bei welcher die größere Verpflichtung strikterer Optionen jeweils in den privaten Bereich abgeschoben wird. Die Forderungen der Diskursethik werden ohnehin nicht erfüllt, weil der Diskurs nicht mehr advokatorisch gestaltet ist. Es fehlen die Advokaten derer, die sich nicht selbst äußern können. Oder derer, die die Mißerfolge bezeugen. Kann eine Gesellschaftspolitik nur davon leben, daß die interessens- und artikulationsfähigen Menschen aneinander vorbeikommen und den Frieden wahren? Eine Gesellschaft, die eine Wertegemeinschaft darstellen will und die diese ständig, sogar europaweit, reklamiert, müßte bereit sein, alle Rechte und die daraus resultierenden Verpflichtungen anzuerkennen.
Die Abschleifung des Profils des moralischen Bewußtseins wird in der "Bioethik" oft zu wenig thematisiert; daher muß hier die Sozialethik deutlicher zu Wort kommen. Dabei sollten die kontextuellen Fragen gestellt werden: Wollen wir den Wandel der Werte bewußt und mit Gründen, oder passen wir uns ihm nur deshalb an, weil wir die Ethik bloß für eine Ratifikation eines Wandels halten, der vom etablierten Verbundsystem von Wissenschaft, Technik und Ökonomie bereits inszeniert ist? Zugleich haben diese Fragen im Kontext der bisher viel zu wenig diskutierten Etablierung einer strukturierten europäischen Wertegemeinschaft ein Profil, das weit über nationale Grenzen hinausreicht. Die gleichen Diskussionen werden in verschiedenen europäischen Ländern geführt. Man kann sich dabei auf das Gesetz eines anderen Landes aber nur dann beziehen, wenn man auch die Kritiker aus diesem Land hört.
Selektives Mitleid?
Das Mitleid mit belasteten Paaren, deren intensiver Kinderwunsch entweder durch Unfruchtbarkeit behindert ist oder von genetischen Sorgen belastet wird, stellt sich spontan ein. Es ist jedoch ein selektives Mitleid. Es blendet die Idee der unbedingten Annahme der Menschen durch andere Menschen aus. Diese Idee richtet sich nicht gegen sekundäre Bedingungen der Annahme in einem emphatischen Sinn. Aber wenn wir primär nicht das existierende Menschenleben annehmen, sind unsere Annahmebedingungen vernichtend. Dies mag man nicht auf den Rücken einzelner schwere Lasten tragender Menschen laden wollen, aber sozialethisch gesehen stehen die Strukturen der Gesellschaft vor der Aufgabe, Annahme von Menschenleben nicht unter selektionierende Bedingungen zu stellen, das heißt dort, wo die Annahme schwerfällt, durch intensive Beratung zu helfen. Seit Kinderlosigkeit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als "Krankheit" eingestuft wird - die gleiche Organisation kämpft aber aus verständlichen Gründen auch mit Verhütungsmitteln gegen allzu große Fruchtbarkeit und nimmt in Kauf, daß Fruchtbarkeit unter das Vorzeichen von "Krankheit" geraten kann -, wird die negative Antwort auf die Frage, ob es ein Anspruchsrecht auf ein Kind gebe, unterlaufen. Mediziner denken daher nicht über den Unterschied von Abwehr- und Anspruchsrechten nach, sondern über "Krankheiten". Manchmal wundert man sich über die Leichtfertigkeit und Widersprüchlichkeit, mit der in internationalen Organisationen schwierige Fragen durch "autoritative" Sprachregelungen vorentschieden werden. Freilich werden solche Sprachregelungen erst durch die nationalen Adaptionen und durch die normative Kraft des Faktischen "autoritativ". Die Verantwortung dafür läßt sich nicht an die WHO delegieren.
Auch die Lehre von der Fruchtbarkeit als Ehezweck, in ungelöster Spannung mit der Liebe als Ehesinn, müßte in der katholischen Kirche so bedacht werden, daß sie angesichts der technischen Fruchtbarkeitshilfen nicht zur Falle bzw. zum Bumerang wird. Die Kirche braucht hier eine differenzierte Moralverkündigung, in welcher die verantwortete Kinderlosigkeit eine Rolle spielt. Zwar ist die kirchliche Option, den Kinderwunsch nicht auf Wunschkinder auszudehnen, klar und deutlich, aber vielleicht würde hier eine zusätzliche Akzentuierung gut tun.