Mißbrauch - Hat die Kirche dazugelernt?

"Ich denke ... an das ungeheure Leiden, das durch den Mißbrauch von Kindern verursacht wurde, besonders wenn es in der Kirche und durch ihre Diener geschah. Vor allem möchte ich gegenüber den unschuldigen Opfern dieser unbeschreiblichen Verbrechen mein tiefes Bedauern zum Ausdruck bringen, gemeinsam mit meiner Hoffnung, daß die Kraft der Gnade Christi ... ihrem Leben eine tiefgreifende Heilung und Frieden bringen möge": Diese Worte sprach Papst Benedikt XVI. bei seiner Predigt am 18. September 2010 in der Westminster Cathedral in London.

Kein anderes Thema hat das öffentliche Interesse in deutschsprachigen Ländern und darüber hinaus im zu Ende gehenden Jahr so sehr dominiert. Als der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes SJ, Ende Januar 2010 an die Öffentlichkeit trat, konnte er nicht ahnen, daß er eine Lawine lostreten würde. Innerhalb kurzer Zeit kamen immer neue ungeheuerliche Geschehnisse von sexuellem, physischem und emotionalem Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen ans Licht - verübt von Priestern, männlichen oder weiblichen Ordensleuten oder Angestellten in kirchlichen Einrichtungen. Opfer meldeten sich der Reihe nach in großer Zahl: Menschen, die jahrzehntelang mit den Folgen von furchtbaren Erlebnissen gelebt hatten. Endlich fanden sie Mut und konnten reden vom Schmerz, der Scham, der Erniedrigung, der Wut, den Schuldgefühlen, dem Selbstzweifel und von vielem, was sie so lange vor anderen, selbst Nächststehenden, und oft auch vor sich selbst verborgen hatten.

Das Stimmengewirr mehr oder weniger offizieller Stellungnahmen von kirchlicher Seite trug nicht dazu bei, die öffentliche Diskussion in ihrer Komplexität zu versachlichen. Erst allmählich kam es zu unmißverständlichen Botschaften seitens der katholischen Kirche: Wir erkennen die Schuld an, wir wollen den Opfern helfen. Beratungs-Hotlines und Büros wurden eingerichtet. Die überarbeiteten - und vielfach gelobten - bischöflichen Leitlinien zum Umgang mit Mißbrauchsfällen wurden am 31. August 2010 vorgestellt.

Das außergewöhnliche öffentliche Interesse sowie die Mißbrauchsfälle in der Odenwaldschule und in anderen Bereichen (Sportvereine, Beratungseinrichtungen, Heime) brachten die deutsche Bundesregierung dazu, einen "Runden Tisch - Sexueller Kindesmißbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich" einzurichten, den die Ministerien für Justiz, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie für Bildung und Forschung leiten. Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz wie auch der Ordensoberenkonferenz sind hier Mitglieder.

Die Kirche hat sich in diesen Gremien der Diskussion und den getroffenen Entscheidungen im größtmöglichen gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu stellen. Dies

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ist sicherlich ein großer Fortschritt und ein wichtiges Signal - nach innen wie nach außen: nach außen, weil damit unmißverständlich klar wird, daß die Kirche sich an geltendes Recht hält und die Hilfsmaßnahmen für die Opfer mitträgt; nach innen, weil so jenen Kreisen in der Kirche, die hinter der Mißbrauchsdiskussion vor allem eine Medienkampagne vermuten, zu verstehen gegeben wird, daß es keine andere Wahl als die vom Papst geforderte "Null-Toleranz-Politik" gibt, die Monsignore Charles J. Scicluna, der Chefermittler in der Glaubenskongregation, am 23. August 2010 so formulierte: "Es führt kein anderer Weg aus dieser Situation heraus als der, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen."

Hier kommt es zu zwei wichtigen Befunden. Erstens: "Rom" - die offiziellen Stellungnahmen und Maßgaben von Papst, Glaubenskongregation und anderen Dikasterien - ist eindeutiger, mutiger und schneller in seinen Reaktionen als manche Ortskirchen. Ein Beispiel ist die Verschärfung der "Normae de gravioribus delictis" vom 21. Mai 2010, in denen unter anderem klargestellt wird, daß der Umgang mit Mißbrauchstätern entsprechend der Gesetzgebung des jeweiligen Staates zu erfolgen hat. Und zweitens: Die gängigen Muster von "konservativ" und "liberal" verschwimmen, wenn man das Vorgehen genauer betrachtet: In beiden "Lagern" gibt es Befürworter von größtmöglicher Transparenz und von verbindlicher Zusammenarbeit mit den jeweiligen Behörden; und es gibt - wohl aus unterschiedlichen Gründen - auf beiden Seiten mehr oder weniger offenen Widerstand dagegen.

Immer noch kommt es vor, daß Akten nicht einsichtig gemacht oder undurchsichtige Sonderwege bei Entschädigungszahlungen gegangen werden. Da stellt sich die Frage, ob "der gute Ruf" eines Bistums, einer Abtei oder eines Ordensgründers nicht doch vor die notwendige Aufklärung und Aufarbeitung gestellt wurde. Hier sind auch strukturelle Fragen von großem Gewicht: Wie kann verhindert werden, daß Klöster oder Ordensinstitutionen hermetisch abgeschirmte, durch gegenseitige Abhängigkeit gebildete Schweige- und Vertuschungskartelle bilden? Welche Weisen des subsidiären Eingreifens der Ordens- oder Kirchenleitung gibt es, besonders bei dezentral organisierten Orden und ihren Klöstern? Auch in der Auswahl und Ausbildung von Priesteramts- und Ordenskandidaten sieht die ortskirchliche Wirklichkeit oft anders aus, als von Rom seit Jahren gefordert.

Die Aufarbeitung des Mißbrauchsskandals ist schmerzlich, aber vielleicht auch reinigend. Die Kirche muß ein eigenes Interesse an der wissenschaftlichen Forschung zum Mißbrauch haben - und dies durch aktive Mitarbeit unterstützen, besonders wenn es um den Zusammenhang zwischen systemischen und persönlichkeitspsychologischen Komponenten geht. Was kann man etwa darüber herausfinden, welche Art von Institution welchen Typ von Menschen anzieht, und wie verstärken sich Aspekte von Institutionen und Personen gegenseitig? Das Wichtigste von seiten der Kirchenleitung aber sind das Eingeständnis der Schuld und des Versagens, eine ehrliche Entschuldigung, das Angebot von Hilfe und auch von Begegnungen, in denen Versöhnung und Genugtuung beginnen können.

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