Es war ein Match, das Geschichte machte: Das Endspiel der Rugby-Weltmeisterschaft im Jahr 1995 stellt den Höhepunkt des jüngsten, von Clint Eastwood inszenierten Kinofilms "Invictus - Unbezwungen" dar, der im Februar 2010 in den deutschen Kinos anlief. Völlig unerwartet gewinnt die südafrikanische - "Springboks" genannte - Nationalmannschaft. Die wichtige Rolle, die Präsident Nelson Mandela (im Film verkörpert von Morgan Freeman) allein durch seine Anwesenheit beim Finale vom 24. Juni 1995 spielte, wird sowohl im Film wie im Buch des Journalisten John Carlin, auf dem der Film basiert1, als Teil seiner intensiven Strategie dargestellt, im damals eben erst demokratisierten Südafrika die Versöhnung voranzutreiben. Das 1875 verfaßte Gedicht "Invictus" des englischen Poeten William Ernest Henley sollte dabei helfen: Es hatte Mandela während seiner jahrelangen Haft auf der im Atlantik vor Kapstadt gelegenen Gefängnisinsel Robben Island Kraft und Trost gespendet - jetzt sollte es dem auf aussichtslosem Posten kämpfenden Rugby-Team als "Inspiration" dienen. Mandela lud Mannschaftskapitän François Pienaar (dargestellt von Matt Damon) in den Präsidentenpalast ein, um einen Verbündeten zu gewinnen: "Wir brauchen Inspiration, damit jeder von uns die eigenen Erwartungen übertreffen kann." Und das Wunder geschah!
Mandelas überschwengliche Unterstützung für ein überwiegend weißes Team (und einen Sport, der haupsächlich bei der weißen Minderheit populär war und als Symbol der Apartheid galt) sowie die daran anschließenden, völlig unrassistisch ablaufenden Tage fröhlicher Feiern, die auf den Sieg folgten, verhießen Gutes für die Zukunft. Das ganze Land jubelte damals - Schwarze wie Weiße. Die einst verhaßten, seit den 70er Jahren wegen der Rassentrennungspolitik des Landes international boykottierten "Springboks" waren schlagartig zum Symbol des neuen Südafrika geworden, das dabei war, sich als "Regenbogennation" neu zu erfinden.
Vom 11. Juni bis 11. Juli 2010 ist Südafrika nun Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft. Seit Jahren laufen Vorbereitungen, um für den Sport der "schönen Spiele" eine Weltklasse-Infrastruktur zu schaffen. Ungeachtet mancher Kritik an den entstandenen Kosten für die Renovierung von Stadien oder den Bau neuer Verkehrsnetze hoffen fast alle Südafrikaner, daß die Spiele ein Riesenerfolg werden - auch wenn ehrlicherweise nur wenige an einen Sieg der Nationalmannschaft wie seinerzeit im Jahr 1995 glauben. Wie hat sich das Südafrika von 1995 - ein Jahr nach Erlangung der Freiheit bzw. der Abschaffung des Apartheidsystems - in den letzten 15 Jahren verändert? Wie läßt sich die "Lage der Nation" am Vorabend der Weltmeisterschaft einschätzen? Die Herausforderungen, vor die sich Südafrika gestellt sieht, hängen stark miteinander zusammen und sind ebenso vielfältig wie komplex. Um ein Bild zu gebrauchen: Es ist ein bißchen wie das Spiel mit dem magischen Würfel, der auch Zauber- oder Rubikwürfel (nach seinem ungarischen Erfinder Ernö Rubik) genannt wird und in den 80er Jahren zu einem beliebten Spielzeug bei groß und klein wurde: Es schaut so aus, als ob man auf einer Seite des Würfels ein Farbfeld zusammenfügen könnte, die anderen Felder dabei jedoch durcheinandergeraten. Der Trick, den Südafrika immer noch herausfinden muß, besteht darin, den Würfel so zu ordnen, daß alle Seiten miteinander klarkommen.
Politik im neuen Südafrika
Was zu den politischen Errungenschaften und Lücken im neuen Südafrika zu sagen ist, bleibt in sich oft widersprüchlich. Vereinfacht betrachtet2 ist Südafrika eine funktionierende Demokratie, die sich aus einem autoritären Regierungssystem heraus entwickelt hat: Seit dem Ende der Apartheid gab es drei im Prinzip freie und faire Wahlen. Südafrika hat sich eine (vor allem an Skandinavien und Deutschland orientierte) Verfassung gegeben; es existiert ein Mehrparteiensystem mit Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive und Judikative); und das Land besitzt eine der liberalsten Gesetzessammlungen von Rechten und Pflichten in politischen, wirtschaftlichen, sozialen und zivilen Fragen ("Bill of Rights") weltweit. Das Verfassungsgericht, zu dem jeder Bürger bei Menschenrechtsverletzungen und in verfassungsrechtlichen Fragen in letzter Instanz Zugang hat, arbeitet überaus effizient, ist sehr angesehen und hat nie gezögert, gegen Regierungsvorlagen zu entscheiden, wenn es der Meinung war, die Regierung habe ihre Grenzen überschritten.
Südafrikas Wahlsystem basiert auf einer Mehrparteienlandschaft mit Verhältniswahlrecht. Die Wähler stimmen bei nationalen und bei Provinzwahlen für eine Partei, nicht für einen Kandidaten. Die Kandidatenlisten werden entsprechend der parteiinternen Popularität aufgestellt. Das hat den Vorteil, daß die Wahl eindeutig ist - der Nachteil besteht darin, daß die Parteien ohne jede Kontrolle darüber verfügen, wer letztlich ins Parlament einzieht. Das Parteiensystem wurde geschaffen, um politische Vielfalt zu gewährleisten - kleinere Parteien haben dadurch größere Chancen als im Mehrheitswahlrecht Westminsterscher Prägung vor 19943, einige Sitze zu bekommen. Das zeigte sich bisher bei den ersten drei Wahlen, führte aber nicht dazu, daß der regierende Afrikanische Nationalkongreß (ANC) jemals weniger als 63 Prozent der Stimmen landesweit erhielt. Die immense Unterstützung, die der ANC genießt, hat faktisch zu einer Einparteiendominanz ("One Party Dominant": OPD) geführt4. Trotz der Unzufriedenheit in einigen Landesteilen über seine Politik und trotz heftiger innerparteilicher Debatten gilt der ANC als hegemonial: Was er will, bekommt er größtenteils auch. Seine einzige, nicht unerhebliche Selbstkontrolle ist das Verfassungsgericht. Anders als in den USA werden die Richter jedoch für eine bestimmte Amtszeit von einer (stark vom ANC beeinflußten) Rechtskommission ernannt. Bisher kam es zwar noch nicht dazu - und tatsächlich haben viele ANC-nahe Richter vor Gericht ihre Loyalität im Interesse der Auslegung der Verfassung zurückgestellt -, aber es besteht die berechtigte Sorge, daß in nächster Zukunft das Gericht in einem unzulässigen Ausmaß unter den Einfluß der Regierungspartei geraten könnte.
Die Regierungspartei hat Verbindungen zu Wirtschaftseliten aufgebaut, sowohl zu alten (weißen) als auch zu neuen (schwarzen). Die Wirtschaft wird von der ANC-Politik dominiert. Diese begünstigt die Eliten und hat auch dazu beigetragen, eine "patriotische Bourgeoisie", wie es in ANC-Kreisen heißt, zu schaffen. Viele Beobachter, auch ANC-Unterstützer, sehen diese enge Beziehung sowohl für die Wirtschaft als auch für die Integrität der politischen Entwicklung als gefährlich an. Die erforderliche wirtschaftliche und soziale Wiedergutmachung zum Ausgleich der Ungerechtigkeiten aus der Apartheid-Zeit wird zunehmend als Begünstigung der mächtigen Allianz zwischen Regierungspartei und der "regierenden Klasse" erlebt. Zahlreiche Interessenkonflikte bei öffentlichen Ausschreibungen - bei denen Aufträge an Parteiunterstützer, Familienangehörige von Parlamentsabgeordneten und ANC-Funktionäre vergeben wurden - haben zu Anklagen wegen Vetternwirtschaft und sogar Korruption geführt.
Wachsende, bislang jedoch unwirksam gebliebene Unstimmigkeiten, ja offener Widerspruch aus den Oppositionsparteien, den neuen sozialen Bewegungen und auch innerhalb des ANC selbst, waren die Folge. Dabei fällt der Protest der Oppositionsparteien, besonders der "Democratic Alliance", der "Inkatha Freedom Party", der "Independent Democrats" und des "Congress of the People" (COPE) am wenigsten ins Gewicht. Sie besetzen zusammen rund ein Drittel der Parlamentssitze; da sie untereinander jedoch völlig zerstritten sind, erweisen sie sich als politisch schwach und werden vom ANC oft mit Spott und Hohn überzogen. Viele dieser Parteien haben - zu Recht oder zu Unrecht - eher lokale Bedeutung. Deshalb gelten sie als Stimmen von Minderheiten: der Weißen, der Farbigen, der asiatischen Südafrikaner. Ihre Bedenken gegenüber dem Verhalten des ANC werden bestenfalls als Behinderung der "nationalen Revolution" angesehen, schlimmstenfalls als unfähige Entrüstung der "nörgelnden Weißen".
Politisch wie sozial herausfordernder sind die neuen, radikalsozialen Bewegungen, die aufgrund ungelöster Probleme unter der armen Bevölkerung in der Stadt und auf dem Land entstehen, zum Beispiel das "Treatment Action Committee", das den freien Zugang zu antiretroviralen Medikamenten gegen HIV fordert, das "Soweto Electricity Crisis Committee", das die vom staatlichen Stromkonzern gekappten Haushalte wieder an das Netz anschloß, das "Landless Peoples' Movement", das sich für die Verlierer der Landreform einsetzt oder das "Anti-Privatisation Forum", das gegen die Privatisierung der Wasser- und Stromversorgung Kämpft5.
Obwohl diese Bewegungen die überbezahlten Topmanager (sogenannte "fat cats") im ANC bzw. in der Regierung anprangern, hat dies bisher nicht zu irgendeiner nennenswerten neuen Partei im linken Spektrum geführt. Die "South African Communist Party" (SACP) und der "Congress of South African Trade Unions" (COSATU) - der größte organisierte Arbeiterblock des Landes - sind bei ihrer historischen Allianz mit dem ANC geblieben, trotz der zunehmenden Kritik an dessen neoliberaler Wirtschaftspolitik.
Jacob Zuma - der neue Präsident
Die größte Herausforderung für den ANC seit 1995 kam von innen: Die Allianz mit SACP und COSATU war angespannt. Es gab eine Reihe von Veränderungen beim ANC. Während Mandelas Präsidentschaft (1994-1999) durch Goodwill und Versöhnung gekennzeichnet war, profilierte sich sein Nachfolger, Thabo Mbeki (1999-2008) 6 eher als ergebnisorientierter Staatschef. Seine zentralen Themen waren Effizienz und wirtschaftliches Wachstum - abgesehen vom zunehmenden persönlichen Autoritarismus und einer patriarchalen Haltung, die im ANC immer mehr auf Befremden stieß, besonders beim linken Parteiflügel, aber auch bei der Business Class im Herzen der Partei, die mehr oder minder den Eindruck gewann, aus Mbekis Blickfeld verschwunden zu sein.
Der dramatische Sturz Mbekis und seiner Verbündeten erfolgte während der Nationalkonferenz des ANC im Dezember 2007, auf der nicht nur Mbeki, sondern fast alle seiner engsten Vertrauten von einem - aus einer Allianz von Populisten, der armen Bevölkerung und der Linken gebildeten und von Jacob Zuma angeführten - Mehrheitsblock aus ihren Parteiämtern abgewählt wurden. Kurz darauf jagte die neue ANC-Führung Mbeki aus dem Präsidentenamt, indem sie sich auf das Recht der Partei berief, die Parlamentslisten nach parteiinternen Kriterien aufzustellen, und so jeden Kandidaten nach eigenem Ermessen streichen oder hinzufügen konnte. 2009 wurde Jacob Zuma nach dem dritten Wahlsieg des ANC mit überzeugender Mehrheit zum Präsidenten Südafrikas gewählt7.
Der Effekt von Zumas Doppelsieg muß sich erst erweisen. Ein unmittelbares Ergebnis der Absetzung Mbekis war die Schaffung einer Splitterpartei, nämlich des "Congress of the People"; viele seiner Mitglieder sind Mbeki-Anhänger. COPE, der im wesentlichen einen eher konservativen Flügel des ANC repräsentiert, schlug sich bei den Wahlen 2009 für eine neue Partei bemerkenswert gut. Beobachter meinen, daß sie den Höhepunkt der Wählergunst damit bereits erreicht haben könnte. Bemüht, ein Bündnis mit anderen Parteien zu knüpfen, was sie vor dem Untergang bewahren könnte, zeigen sich bereits erste tiefgreifende Spaltungen, wie sie typisch sind für eine Partei, die als Reaktion auf etwas gebildet wurde und keine eigene klare Linie hat. Die Meinung, daß Oppositionsparteien unpatriotisch sind und lediglich rassistische Interessen vertreten, ist weit verbreitet, und der ANC setzt dieser Auffassung innerhalb seiner Anhängerschaft auch nichts entgegen.
Eine andere Überlegung der Beobachter kreist um die Frage, ob und wann die Linke (SACP/COSATU) sich vom ANC abspalten wird. Ungeachtet populistischer Versprechen zu Beginn seiner Amtszeit, weiß sich Zumas Präsidentschaft einem kapitalistischen Programm verpflichtet. Die Linke fühlt sich in wichtigen Entwicklungen oft an den Rand gedrängt. Obwohl manche ihrer Führer in die Regierung berufen wurden, gibt es regelmäßig ein deutliches Murren an der Basis8. Doch wer wird aus einer Allianz mit dem politischen Gewinner ausbrechen, wenn er weiß, daß der ANC die nächsten 20 Jahre an der Macht bleiben wird?
Rasse, Versöhnung und Entschädigung
Kurz nach der Rugby-Weltmeisterschaft von 1995 begann die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC)9 mit den Anhörungen zu den Greueltaten und Menschenrechtsverletzungen während der Apartheid-Ära. Die Täter wurden aufgefordert, sich zu stellen. Wer sich voll und ganz zu seinen Taten bekannte - ohne daß jedoch Bedauern oder eine Entschuldigung abverlangt war -, dem wurde Straferlaß in Aussicht gestellt, wenn die Aktionen eindeutig politisch motiviert waren. Auch Opfer meldeten sich zu Wort und machten ihre Aussagen. Als der Schlußbericht vorlag, hatten Tausende als Zeugen ausgesagt.
Erklärtes Ziel der Wahrheits- und Versöhnungskommission war die Schaffung eines gemeinsamen Geschichtsbildes für die Zeit der Apartheid. In gewisser Weise wurde dieses Ziel erreicht. Soweit es aber um die Versöhnung rivalisierender politischer Interessengruppen und um das Verständnis zwischen den Rassen ging, war das Ergebnis weit entfernt von einem uneingeschränkten Erfolg. Einige Kritiker gaben neulich zu bedenken, daß das Unterbleiben der Verfolgung der entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen psychologisch gesehen viele Menschen in Südafrika in einer Vergangenheit gefangen halte, die noch nicht wirksam abgeschlossen sei, denn Verbrechen blieben ungeahndet und Täter kamen straffrei davon. Das weckte bei manchen den Verdacht, Begnadigungen würden gewährt, ja könnten sogar erwartet werden, solange jemand seine Taten zugab.
Natürlich löste die Kommission einige Probleme rund um die Rassenfrage, die in der Geschichte Südafrikas eine zentrale Rolle spielten. Obwohl viele die Rassenzugehörigkeit im Zusammenhang mit der Gesellschaftsschicht sehen würden - de facto ist es so, daß die Rassenzugehörigkeit um so weniger eine Rolle spielt, je höher jemand in der ökonomischen oder sozialen Hierarchie steht -, bleibt sie dennoch ein Schlüsselthema in Politik und Gesellschaft. Die Vision einer echten nicht-rassistischen Gesellschaft prallt an der Realität ab, die in der Geschichte wirtschaftliche und politische Macht mit der Hautfarbe bestimmter Menschen verknüpfte. Mandelas Vision und sein Umwerben der Weißen während seiner Amtszeit waren der Versuch, wie ein Makler Versöhnung zwischen den Rassen zu betreiben. 15 Jahre später haben seine Bemühungen unterschiedliche Früchte hervorgebracht.
Zweifellos gibt es mittlerweile bis zu einem gewissen Grad staatlich verordnete Integration: ein freies, nicht-rassisches Wahlrecht, uneingeschränkter Zuzug in Wohngebiete (Aufhebung des "Group Areas Act" von 1950) und qualifizierte Zusagen für Chancengleichheit; qualifiziert durch die verpflichtende "Schwarze Wirtschaftsförderung" - "Black Economic Empowerment" (BEE) und "Affirmation Action" (AA) - und institutionalisierte Fördermaßnahmen, die Diskriminierung verhindern sollen. Es gibt inzwischen auch einen viel höheren Grad an sozialer Vermischung, besonders in der Mittel- und Unterschicht, die viele Interessen miteinander teilen (manchmal im Konflikt mit der ärmeren Mehrheit). Dennoch ist Rassenidentität zu einem vorrangigen politischen Thema geworden.
Verstärkt hat sich so etwas wie eine schwarzafrikanische Identitätspolitik entwickelt - eine Politik, die in den Schwarzen die Hauptakteure des öffentlichen Lebens in Südafrika sieht. Es gibt starke Vorbehalte gegen die Vorstellung, daß Weiße, Farbige (Menschen mit gemischter Rasse) und asiatische Südafrikaner als echte Südafrikaner Gelten10.
Damit verbunden ist eine Tendenz feststellbar, sich auf eine nebulöse "afrikanische Kultur" zu berufen - von der es in Südafrika unzählige gibt -, was häufig als Gesprächskiller eingesetzt wird, um jegliche Form von Sozialkritik zu überspielen: Kritik von schwarzer Seite wird als "Kokosnuß" (außen schwarz, innen weiß) angesehen, Kritik von weißer Seite gilt (bewußt oder unbewußt) als rassistisch motiviert. Selbst eine Partei wie der ANC mit seiner langen, einer offenen und gleichwertigen Gesellschaft verpflichteten Geschichte ist bereit, die "Rassenkarte" auszuspielen, wenn es ihr nötig erscheint.
Solche Haltungen sind von schwarzen wie weißen Kritikern gleicherweise in Frage gestellt worden. Viele Veteranen des Anti-Apartheid-Kampfes, einschließlich Erzbischof Desmond Tutu, haben diesen "neurassistischen" Diskurs ebenso kritisch hinterfragt wie eine Reihe von Politologen, die die Begrifflichkeit von Rasse und Nationalität als spitzfindig, fließend und vielfach sozial konstruiert ansehen11. Die Mehrheit der Südafrikaner wertet die Angelegenheit überdies als einen durch die Rassenbrille gesehenen Konflikt um Ressourcen. Rassistische Zwischenfälle haben zugenommen - ebenso wie Fremdenfeindlichkeit gegenüber Arbeitsmigranten und Flüchtlingen aus anderen Teilen des Kontinents, von denen viele besser ausgebildet und für den Arbeitsmarkt geeigneter sind als Einheimische.
Soziale Bedingungen im neuen Südafrika
So wie schon ein paar falsche Drehungen auf unserem Zauberwürfel eher Verwirrung auslösen als zu einer Lösung zu führen, sollte man das soziale Gefüge Südafrikas nicht getrennt, sondern in direkter Beziehung zur Politik sehen - und umgekehrt. Die Probleme des Landes haben zu einem großen Teil hier ihre Ursachen. Das Bildungswesen und die Wirtschaft sind fast wie mit einer Nabelschnur miteinander verbunden. Die Auswirkungen der Apartheid-Erziehung, die gehorsame, unterwürfige und weitgehend schlecht ausgebildete Arbeitskräfte für die Weißen zu produzieren hatte, machen sich noch heute bemerkbar. Die meisten Lehrer an schwarzen Schulen sind Produkte dieses Systems. Die Aufstände gegen die Apartheid-Erziehung, die im Juni 1976 begannen und sich bis zur Befreiung im Jahr 1994 Fortsetzten12, haben eine "verlorene Generation" von Jugendlichen mit dürftiger Bildung, wenig Fachkönnen und geringer Aussicht hervorgebracht, in die Wirtschaft des neuen, globalisierten Südafrika einzusteigen.
Zugunsten des ANC muß gesagt werden, daß er von Anfang an dem Bildungswesen und der Ausbildungsförderung hohe Priorität eingeräumt hat, indem er diesen Bereich fortlaufend zum größten Einzelposten in den Budgets machte. Zusätzlich zu den entsetzlichen Überbleibseln aus der Apartheid-Erziehung fehlt eine neue Generation "frei geborener" Kinder und Jugendlicher. Es herrscht selbst beim ANC weitgehend Übereinstimmung darüber, daß das neue System es versäumt hat, genügend Jugendliche für den Arbeitsmarkt heranzubilden, die lesen, schreiben und rechnen können13.
Wie kam es dazu? Erfüllt vom Idealismus des "Nie wieder" kehrten die Entscheidungsträger für Bildungspolitik autoritären Erziehungsmethoden und mechanischem Auswendiglernen entschieden den Rücken und institutionalisierten in den späten 90er Jahren ein System "ergebnisorientierter Bildung" ("Outcomes Based Education": OBE), das sich weitgehend an Neuseeland und Kanada orientierte14. Allerdings hat sich dieses System aus einer Reihe von Gründen als nicht praktikabel erwiesen: Erstens baut es auf Klassen von 20 Schülern - jede mit zwei Lehrern - und einer voll funktionsfähigen Schulbibliothek bzw. einem Förderzentrum auf. In Südafrika liegen die Klassenstärken jedoch bei bis zu 60 Schülern, die oft nur einen einzigen Lehrer und, wenn überhaupt, dann nur eine bescheiden ausgestattete Bibliothek haben. Zweitens mußte die Regierung die Lehrer einsetzen, die noch unter dem Apartheidsystem ausgebildet worden waren: Viele von ihnen sind schlecht qualifiziert, demoralisiert, Veränderungen gegenüber resistent und neigen zum häufigen Fernbleiben; in einigen Fällen kam es zu Alkoholmissbrauch während der Schulstunden. Drittens sind die Lehrergewerkschaften sehr mächtig und schützen ihre Mitglieder enorm. Viertens fehlen gut ausgebildete Lehrer in Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch - die besten wandern meist in besser bezahlte Jobs in Verwaltung, Wirtschaft und Industrie ab. Natürlich ist es wichtig, die vorhandenen Lehrkräfte zu halten und zu fördern, die schlechten auszusortieren und ein System zu entwickeln, das bessere Ergebnisse hervorbringt. Anfang 2010 räumte der Erziehungsminister ein, daß die "ergebnisorientierte Bildung" gescheitert sei und daß es drastischer Korrekturen bedarf. Das sind gute Nachrichten, nicht zuletzt für die Wirtschaft.
Diese ist hoch komplex und durchläuft gerade eine Reihe von Transformationen15. Ausgehend von einer Agrar- und Mineralienwirtschaft, beginnt sie, sich zu diversifizieren und ein Akteur auf dem globalen Markt zu werden - eine Entwicklung, die manchen zu langsam geht. Weltweit und nach herkömmlichen Maßstäben gemessen, rangiert die Wirtschaft Südafrikas im Mittelfeld. Aber das täuscht gewaltig.
Eine genauere Überprüfung - unter Einbeziehung des Gini-Koeffizienten zur Messung von Einkommensunterschieden - offenbart, daß Südafrika ein Land mit extremen Gegensätzen zwischen arm und reich ist: Die Reichen sind sehr reich, die Armen sehr arm, und die Mittelschicht ist - obwohl sie zunimmt - relativ klein. Für die meisten Südafrikaner ist der Eintritt in die Weltwirtschaft nicht zur Quelle des Wohlstands geworden. Die Erosion des Protektionismus zog in vielen Bereichen Rationalisierungen oder die Schließung von Fabriken nach sich, besonders durch Importe von billigen asiatischen Gütern. Schlechte Ausbildung und begrenztes Fachwissen haben
dazu geführt, daß südafrikanische Arbeiter in der Regel nicht imstande waren, mühelos in neue Arbeitsbereiche zu wechseln. Seit 1995 zeigen die Statistiken (viele von ihnen nicht völlig zuverlässig) eine nationale Arbeitslosenrate von 25 bis 40 Prozent - trotz eines jährlichen Wirtschaftswachstums, das, außer von 2000 bis 2003, zwischen vier und fünf Prozent lag. Die Schulen bringen zum Großteil nur ungenügend ausgebildete Schüler hervor. Das hat einen Fachkräfte- und Akademikermangel zur Folge; ungeeignete Neuzugänge und die wachsende Zahl von Studienabbrechern führten beinahe zum vollständigen Zusammenbruch des universitären Bildungswesens.
Dazu kam die Politik der "Affirmative Action" und des "Black Economic Empowerment"16. Ursprünglich ist sie von der Absicht getragen, die durch die wirtschaftliche Kraft zementierte, rassistisch geprägte Unausgewogenheit der Bevölkerungsstruktur dahingehend zu ändern, daß sie die Nation als ganze exakter repräsentiert. Ihre Umsetzung hat eine Reihe von Problemen aufgeworfen.
Die Quotenregelung für die Arbeitsplätze zog eine ganze Serie von unbeabsichtigten Konsequenzen nach sich: Das Erbe der Apartheid und die schlechte Ausbildung in der Zeit danach hat einen kleinen Pool von schwarzen Absolventen geschaffen, die jedoch sowohl den beruflichen Anforderungen als auch der Quote nicht genügten. Was folgte, war die Anstellung und schnelle Förderung von unerfahrenen Leuten - manchmal ohne Berücksichtigung von versierteren Minderheiten. Die Folgen waren Inkompetenz, peinliche Situationen für involvierte Personen, Frustration bei den Firmen und gleicherweise bei einem Teil der Arbeiter, von denen viele den Eindruck gewannen, sie müßten unerfahrene Kollegen "mitschleppen". Ein weiteres Ergebnis war die Beschäftigung von Immigranten aus anderen Teilen Afrikas, die verstärkt zu Fremdenfeindlichkeit geführt hat.
Bis zum Jahr 2020 strebt der ANC einen Anteil der schwarzen Eigentümer an der südafrikanischen Wirtschaft von 20 bis 25 Prozent an. Die Aussichten dafür sind gering, außer man zieht Verstaatlichung und eine Neuverteilung der Vermögenswerte in Betracht (was unwahrscheinlich ist, da Südafrika eine massive Kapitalflucht vermeiden möchte). "Black Economic Empowerment" - für gewöhnlich eine Unternehmensbeteiligung durch Aktienkauf von schwarzen Privatpersonen oder Konsortien an von Weißen geführten Firmen, die oft auf Darlehen beruhte, die die Firmen den Käufern gewährten - hat sich ziemlich uneinheitlich entwickelt. Abgesehen von einigen bemerkenswerten Erfolgen und dem Aufkommen einer neuen superreichen schwarzen Elite17, die meist eng mit dem ANC verbunden ist, gab es viele Mißerfolge. Teile des "Black Economic Empowerment" haben in riskante Projekte investiert, die später durch leichtsinnige Investitionen gescheitert sind, und wurden zu Opfern von zwielichtigen Geschäftsleuten oder von Mißwirtschaft.
"Affirmative Action" und "Black Economic Empowerment" haben viele Kritiker.
Arrivierte, von Weißen betriebene Unternehmen haben sich darüber beschwert, daß öffentliche Aufträge, die diesen "neuen" Firmen zugesprochen wurden, zu Mißmanagement, Verschwendung und dürftigen Ergebnissen geführt hätten. Auch wenn diese Einschätzung oft ressentimentgeladen ist, trifft sie, objektiv gesehen, in vielen Fällen zu. Bei wichtigen staatlichen Bauvorhaben wurde gepfuscht, Geld wurde vergeudet. Ernster zu nehmen sind die Beanstandungen, die unter anderen auch Thabo Mbekis Bruder Moeletsi äußerte, nämlich daß "Black Economic Empowerment" eine Kultur des Günstlingskapitalismus geschaffen habe, die nicht zu wirtschaftlichem Wachstum führe, sondern zur Schaffung einer neuen, unproduktiven schwarzen Kapitalistenklasse, die wie Maden im Speck von florierenden Unternehmen lebten18.
Eine weitere Herausforderung für die Wirtschaft war, oft aufgrund von Mißmangagement, der Rückgang öffentlicher Einnahmen, die für wirtschaftliches Wachstum notwendig sind. Fehlplanungen des nationalen Energieversorgers ESKOM - die, wie man einräumen muß, in die Zeit vor 1994 zurückreichen - haben zu Energieengpässen und Stromausfällen und zu einer geringeren Ertragsleistung in den Bergwerken, in der Schwerindustrie und im Handel geführt. Die
Warnung der Untergangspropheten vor einer massiven Kapitalflucht ist zwar übertrieben. Aber infrastrukturelle Pfuscherei sowie die Macht der Gewerkschaften und liberale Arbeitsgesetze haben dazu geführt, daß manche ausländische Firmen zögern, weiter zu investieren.
Gesundheitswesen, Wohlfahrt und Epidemien
Zur Agenda des ANC gehörte ein bewundernswertes sozialdemokratisches Engagement für eine umfassende öffentliche Gesundheitsversorgung und soziale Fürsorge. Aber auch hier wurden edle Absichten und ausgezeichnete Strategien auf dem Papier nicht immer gut in die Praxis umgesetzt19. Einmal mehr liegen die Probleme bei den "üblichen Verdächtigen": bei der schlechten Ausbildung und bei der Wirtschaft. Eine Unmenge von neuen Kliniken ist gebaut worden - oft in Gegenden, die bis dahin noch nie eine Krankenschwester oder einen Arzt gesehen hatten. Programme zur Armutsminderung und Sozialhilfe wurden finanziell aufgestockt - ein Paradox in der heutigen Welt, wo der Neoliberalismus, den der ANC ebenfalls befürwortet, viel vom früheren sozialen Konsens ausgehöhlt hat. Immer noch sind staatliche Krankenhäuser personell wie medikamentös unzureichend ausgestattet und in vielen, hauptsächlich ländlichen Gegenden erreicht die Sozialhilfe nicht diejenigen, die sie brauchen. Warum?
Genau genommen liegt es nicht daran, daß die Ressourcen nicht vorhanden wären - sie werden einfach nicht effizient verwaltet. Die Versorgungsinfrastruktur ist schlecht, weil die Organisation der Verteilung und Auslieferung entweder im bürokratischen Papierkrieg erstickt, überhaupt fehlt oder von korrupten Beamten um des eigenen Vorteils willen manipuliert wird. Ein anderes Problem im öffentlichen Gesundheitswesen ist das Personal: Medizinische Fachkräfte im öffentlichen Gesundheitswesen werden im Vergleich zum privaten Sektor relativ schlecht bezahlt. Die Arbeitsbedingungen - Mittelkürzungen, schlechte Instandhaltung und Sicherheitsrisiken am Arbeitsplatz - haben dazu geführt, daß viele Ärzte ausgewandert sind, die über schlechte Arbeitsbedingungen und persönliche Ungewißheit aufgrund der hohen Kriminalitätsrate im Staat geklagt hatten. Teilweise behaupten Ärzte aus Minderheiten, daß "Affirmative Action" ihren beruflichen Aufstieg im öffentlichen Gesundheitssektor behindert, weswegen sie zusehends in Privatpraxen oder nach Kanada, Neuseeland und Australien abwandern.
Der schwierigste Aspekt des Gesundheits- und Sozialwesens besteht im HIV/Aids-Problem20. Südafrika hatte eine der am schnellsten wachsenden Raten von Aids-Infektionen und -Übertragungen weltweit. Obwohl das Problem erkannt wurde, litt die Bearbeitung doch unter Verzögerungen. Schuld daran ist teilweise der Eindruck, daß die Aids-Debatte rassistisch geführt wurde: daß Aids in Afrika entstanden sei; daß es von Schimpansen auf Menschen übertragen wurde (manche betrachten dies als eine Anspielung des Westens auf angebliche afrikanische Sodomie); daß das alte koloniale Stereotyp von sexuell unersättlichen und promiskuitiven Schwarzen unter einem "wissenschaftlichen" Deckmantel wieder neu auflebt. Während die einen Aids durch Armut verursacht sehen - was teilweise stimmt, zum Beispiel, weil die am meisten Gefährdeten sehr oft arme Frauen sind, die wegen Hunger und Geldnot von ihren Sexualpartnern abhängig sind -, relativieren anderedas Problem, indem sie es als eine von vielen chronischen Krankheiten bezeichnen, die Afrika kennt - was auch nicht ganz falsch ist. Einige, unter ihnen der frühere Präsident Mbeki und zwei seiner Gesundheitsminister, sprachen für die Lobby der "Aids-Skeptiker". Sie machten geltend, daß eine Verbindung von HIV und Aids nicht bewiesen sei und daß antiretrovirale Medikamente schädliche Nebenwirkungen hätten und daher nicht großflächig im öffentlichen Gesundheitssystem verbreitet werden sollten.
Die gute Nachricht ist, daß solche Ansichten innerhalb wie außerhalb des ANC und der Regierung ein Umdenken provozierten. Skeptiker wie Mbeki sind von anderen öffentlichen Persönlichkeiten, einschließlich ihrer alten Kampfgefährten wie Nelson Mandela und Aids-Aktivist und ANC-Mitglied Zackie Achmat, zur Rede gestellt worden. Der Staat hat die Verteilung von antiretroviralen Medikamenten entschlossen in Gang gesetzt - oft behindert von einer unzulänglichen Verwaltung. Das Aids-Problem ist zu einem zentralen Thema der öffentlichen Debatte geworden. Obwohl es noch zu früh dafür ist, kann man hoffen, daß die HIV-Infektionsrate langsam sinken wird.
Kriminalität und Korruption
Südafrika hat den teils berechtigten, teils übertriebenen Ruf, eines der gefährlichsten Länder der Welt zu sein. Historisch gesehen gab es schon immer das Problem der organisierten Kriminalität und der Verbrechen. Schon immer gehörten Gangs zum Leben der schwarzen Townships - der Gangster als ambivalente Gestalt: einerseits ein sozialer Bandit und Rebell gegen das Apartheid-System, anderseits eine Gestalt, die Furcht und Schrecken verbreitet. Die Öffnung Südafrikas zur Welt hat dazu geführt, daß neue Banden aus dem Ausland (chinesische Triaden, russische Mafia, lateinamerikanische Drogenkartelle) ins Land drängten, die nicht selten lukrative Allianzen mit den etablierten Gruppierungen schlossen. Bittere Armut führt zu Kleinkriminalität und häuslicher Gewalt.
Die polizeiliche Überwachung hat sich als schwierig erwiesen21. Die alte Polizei bestand aus wirkungsvollen paramilitärischen Kräften des Systems mit weitreichenden Vollmachten für Festnahmen, einer faktischen Blankovollmacht, nach Belieben zu schießen, und fast keinen Einschränkungen, bei Verdacht Folter anzuwenden. Die politische Linie der Polizeiarbeit nach 1994 konzentrierte sich auf ihre Entmilitarisierung, auf striktes Festhalten an rechtsstaatlichen Prinzipien und auf Zurückhaltung bei der Gewaltanwendung. Außerdem wurde - mit gemischtem Erfolg - versucht, moderne wissenschaftliche Ermittlungsmethoden einzuführen. Der Polizeidienst hat sich geändert - eine Entwicklung, die nicht leicht, aber notwendig war, um vergangene Verfehlungen zu überwinden. Dieser Fortschritt wurde unmittelbar der Politik gutgeschrieben. Unerfahrene neue Beamte haben couragiert dafür gekämpft, das System aufrechtzuerhalten. Inzwischen hat die Polizei einschneidende Verluste erlitten: Polizisten, die wegen Streß oder einer unterbliebenen Beförderung resigniert haben; es gab Selbstmorde und - bezeichnenderweise - Polizisten, die im Einsatz getötet wurden und zwar in einem Ausmaß, das, mit einer Bürgerkriegssituation vergleichbar ist. Außerdem hält schlechte Bezahlung viele begabte Fachkräfte davon ab, in den Polizeidienst einzutreten.
Polizei und Staat in Südafrika sind mit der höchsten Quote an Gewaltverbrechen weltweit konfrontiert. Die Kriminalitätsstatistiken sind unzuverlässig - manchmal werden sie als politischer Trick des Staates gesehen, die allgemeine Angst unter Verschluß zu halten, die die ärgerlichen Rassen-, Klassen- und politischen Grenzen noch verstärkt. In jüngster Zeit, unter Jacob Zuma, hat sich der Umgang des ANC mit dem Problem geändert: Vorher wurden Befürchtungen als übertrieben abgetan, und öffentliche Beschwerden wurden Weißen zugeschrieben, die mit der PostApartheid-Gesellschaft unzufrieden waren. Inzwischen hat die Regierung erkannt, daß wir wirklich ein Problem haben; wie damit umzugehen ist, wird heiß debattiert. Was bleibt, ist das Gefühl, daß das Verbechen außer Kontrolle geraten ist, das Justizsystem unter der Last stöhnt und, besonders irritierend für diejenigen, die sich einen Wandel zum Guten erhoffen, daß Teile des Polizeiapparats selbst korrupt sind.
Dies bestätigt lediglich die wachsende Erkenntnis, daß auch viele Bereiche in der Gesellschaft, der Regierung und des öffentlichen Dienstes in Korruption verstrickt sind. Der Korruptionssindex (CPI), der in einer jährlichen Studie von der angesehenen Anti-Korruptionsorganisation "Transparency International" erhoben wird, belegt diesen Rückgang des öffentlichen Vertrauens in den Staat: 1995 rangierte Südafrika unter den 20 bis 30 am wenigsten korrupten Ländern; 2008 ist es auf Platz 55 abgerutscht22. Das ist zwar noch weit entfernt vom Ende der Liste; trotzdem beunruhigt diese Verschlechterung nicht zuletzt deshalb, weil die Regierung Südafrikas und die Privatwirtschaft Programme zur Korruptionsbekämpfung und für eine gute Regierungsführung ("Good Governance") entwickelt haben. Wieder einmal wird die tragische Kombination von gutem Willen und schlechter Umsetzung vor dem Hintergrund wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit zwischen reich und arm deutlich.
Am Vorabend der WM 2010
Die letzten 15 Jahre waren für Südafrika vertrackt. Obwohl die öffentliche Ordnung grundsätzlich gut gedacht und geplant war, wurde sie oft schlecht umgesetzt - lediglich teilweise als Hinterlassenschaft der Apartheid, aus der wir hervorgegangen sind. Der Effekt des Zauberwürfels charakterisiert viel von dem Phänomen, das ich etwas oberflächlich beschrieben habe: Die Drehung einer Würfelzeile bringt eine Seite farblich in Ordnung und alle anderen noch mehr durcheinander. Größere Gleichheit zum Beispiel hat Restbestände des Rassismus und Ressentiments wieder aufleben lassen. Versuche, Fehler der Vergangenheit zu beseitigen und das Wirtschaftsleben und die akademischen Berufe demographisch repräsentativer zu gestalten, hat alte Effizienzprobleme aufgeworfen. Die Mittelschicht hat mit dem Aufkommen einer starken schwarzen Berufsgruppe erheblich zugenommen, aber gleichzeitig hat sich die Kluft zwischen arm und reich ausgeweitet.
Wie sieht der durchschnittliche Südafrikaner all das? Einmal abgesehen von der Tatsache, daß Kriminalität und das Gespenst der Arbeitslosigkeit in einer sich ungleichmäßig entwickelnden Wirtschaft Unsicherheit erzeugen, und abgesehen von Problemen im Bildungs- und Sozialwesen wie im öffentlichen Sektor, besagt eine jüngere Studie, daß eine knappe Mehrheit der Südafrikaner grundsätzlich optimistisch ist23. Politikwissenschaftler mögen über die Dominanz des ANC besorgt sein. Sogar innerhalb des ANC fürchten einige, sie führe zu Selbstgefälligkeit, Arroganz, Korruption und Verrat an den demokratischen Gründungsidealen. Aber nur sehr wenige Südafrikaner gleich welcher Rasse - außer einer kleinen, aussterbenden Sorte von Hardcore-Rassisten - betrachten die Apartheid-Vergangenheit mit Nostalgie. Im Gegensatz zu den Prognosen der Untergangspropheten ist Südafrika weder im Bürgerkrieg versunken noch ein gescheiterter Staat.
In gewisser Hinsicht ist Südafrika ein Gesellschaftsexperiment, vielleicht das letzte eines modernen Nationalstaats. Wie für einen durchschnittlichen Menschen, der versucht, die Felder des Zauberwürfels in die gewünschte Position zu bringen, war und bleibt es ein frustrierender Prozeß von Versuch und Irrtum, eine Vielzahl von gesellschaftlichen Problemen miteinander zu koordinieren. Frustration, Fehlstarts und Versagen sind Teil dieses Prozesses. Entscheidend sind Ausdauer, kritischer Wagemut und der Wille, Chancen zu nutzen und Risiken einzugehen, damit eine normale Gesellschaft realisierbar wird. Es ist die Bereitschaft, sich bietende Chancen wahrzunehmen - wie es Nelson Mandela so heroisch tat, der, um sein zerrissenes Land zu einigen, auf ein überwiegend weißes Team setzte, das allen Widrigkeiten zum Trotz ein Spiel spielte, das einmal Symbol des weißen rassistischen Machismo gewesen war. Jeder weiß, was dann geschah.