Zweierlei Recht?

Auf der Suche nach strukturellen Ursachen des Mißbrauchsskandals, der die katholische Kirche in den vergangenen Monaten erschüttert hat, hat man auch das katholische Kirchenrecht in den Blick genommen. Hat die Behandlung der Straftaten nach den Normen des eigenen Rechtssystems der Kirche womöglich dazu geführt, daß die Kirche diese Straftäter - zumindest faktisch, wenn nicht sogar bewußt - dem Zugriff der staatlichen Justiz entzogen hat? Die römischen Dokumente aus den Jahren 1962 ("Crimen sollicitationis") und 2001 ("Sacramentorum sanctitatis tutela") sprechen eine Verpflichtung zur Geheimhaltung aus. Ist sie nicht als Aufforderung zur Vertuschung zu deuten? An den im Jahr 2002 beschlossenen Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz wurde bemängelt, daß sie nicht in jedem der Kirche bzw. ihren Verantwortlichen angezeigten Fall, sondern nur "gegebenenfalls" eine Einschaltung der Staatsanwaltschaft verlangen. Es wurde auch die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob die Kirche überhaupt ein eigenes Strafrecht besitzen und anwenden solle.

Vorschriften, wonach die gerichtliche Zuständigkeit für Geistliche und Ordensleute nicht bei den weltlichen, sondern bei den kirchlichen Autoritäten lag, lassen sich seit der Konstantinischen Wende im vierten Jahrhundert nachweisen. In seiner ausgeprägtesten Form betraf diese - zusammenfassend als privilegium fori bezeichnete - Unterstellung unter die kirchliche Gerichtsbarkeit nicht nur Straf-, sondern auch alle Zivilprozesse, an denen Kleriker oder Ordensleute beteiligt waren. In dem von einer Einheit zwischen Kirche und Staat geprägten Heiligen Römischen Reich war diese besondere gerichtliche Zuständigkeitsordnung mindestens ebensosehr in den weltlichen wie in den kirchlichen Rechtsnormen verankert.

Wenngleich die neuzeitlichen Staaten das privilegium fori immer weniger akzeptierten, hat der Codex des kanonischen Rechts von 1917 - also zu einer Zeit, als die meisten Staaten bereits "gleiches Recht für alle" anwandten - den Anspruch darauf noch einmal erneuert. Zu einem kirchlichen Verzicht auf das privilegium fori kam es erst in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Nachdem das Konzil erklärt hatte, daß "die politische Gemeinschaft und die Kirche auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom sind" (Gaudium et spes 76), wurde bei der Vorbereitung des neuen kirchlichen Gesetzbuches im Jahr 1966 entschieden, den Anspruch auf eine Herausnahme von Klerikern und Ordensleuten aus der staatlichen Gerichtsbarkeit völlig aufzugeben.

Dabei war von vornherein klar, daß auf ein eigenes kirchliches Strafrecht nicht verzichtet werden konnte. Es beanspruchte seine Geltung aber spätestens von diesem Zeitpunkt an nicht mehr anstelle des staatlichen Strafrechts, sondern parallel dazu. Ähnlich wie gegen einen straffällig gewordenen staatlichen Beamten nicht nur

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das Strafgesetzbuch angewendet wird, sondern auch disziplinarrechtliche Maßnahmen im Hinblick auf seine künftige Tätigkeit verfügt werden, konnte sich auch die Kirche nicht mit einer staatlichen Verurteilung kirchlicher Amtsträger begnügen, sondern mußte die Frage angehen, welche Folgen sich aus einer Straftat für die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung im kirchlichen Dienst ergeben. Ein religiös neutraler Staat kann der Kirche die Beantwortung dieser Frage nicht abnehmen. Es braucht dafür ein eigenes Kirchenrecht, in der katholischen Kirche ebenso wie in anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Die von der römischen Kurie erlassenen Dokumente über den Umgang mit Fällen sexuellen Mißbrauchs gehen auf die Frage des Verhältnisses von staatlicher und kirchlicher Rechtsprechung an keiner Stelle ein, sondern widmen sich allein dem kirchlichen Strafverfahren. Von der katholischen Lehre, wonach die von der zuständigen staatlichen Autorität erlassenen Gesetze auch den Christen moralisch verpflichten, machen diese Dokumente keinerlei Abstriche. Das gilt auch für die von einigen Staaten - nicht aber vom deutschen Recht - eingeführte Anzeigepflicht. Die in den kirchlichen Normen ausgesprochene Verpflichtung zur Geheimhaltung bezieht sich - zum Schutz des Geschädigten und auch des Täters - nur auf das kirchliche Verfahren; außerhalb dieses Verfahrens Informationen an staatliche Stellen weiterzugeben, wird keinem der Beteiligten untersagt. Die Zielsetzung der Dokumente kann aus heutiger Sicht nur begrüßt werden. Die Normen von 1962 verfolgten das Ziel, die Verfolgung der betreffenden Straftaten effizienter zu machen, insbesondere durch die Herabsetzung der für solche Verfahren geltenden Beweisanforderungen. Die Normen von 2001 erhöhten die Altersgrenze für Sexualdelikte von 16 auf 18 Jahre und verlängerten die Verjährungsfristen, die von da an erst mit Erreichen der Volljährigkeit des Opfers zu laufen begannen. Aus heutiger Sicht ist zu bedauern, daß die geltenden Normen von 2001 sich allein mit dem kirchlichen Verfahren befassen und auf die Frage des Verhaltens gegenüber den staatlichen Behörden mit keinem Wort eingehen.

Die Normen von 1962 dürften weithin unbekannt geblieben sein. Sie durften nur in den Geheimarchiven der bischöflichen Kurien aufbewahrt und in keiner Weise veröffentlicht oder kommentiert werden; in den meisten Bistümern sind sie vermutlich bald in Vergessenheit geraten. Aus heutiger Sicht hat sich die Kirche durch diese Pflicht zur Geheimhaltung der Normen selbst ein Bein gestellt. Manches Leid hätte wohl verhindert werden können, wenn die Normen bekannter gewesen und konsequenter angewendet worden wären. Daß bei der Revision der Normen im Jahr 2001 dieser Fehler teilweise wiederholt wurde, indem zwar das päpstliche Motu proprio, nicht aber die zugehörigen Normen der Glaubenskongregation im Gesetzblatt des Apostolischen Stuhls veröffentlicht wurden, ist kaum zu verstehen. Daß diese Normen binnen kürzester Zeit im Internet verfügbar sein würden, war ohnehin vorhersehbar. Die Kirche braucht ihre Rechtsnormen nicht zu verstecken; sie sollte es auch nicht.

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