Tag des Judentums

Manchmal haben die Österreicher den Deutschen etwas voraus: Seit dem Jahr 2000 wird zwischen Bodensee und Neusiedler See jeweils am 17. Januar, genau einen Tag vor Beginn der weltweiten Gebetswoche für die Einheit der Christinnen und Christen (18. bis 25. Januar), der "Tag des Judentums" begangen - "zum bußfertigen Gedenken", wie es in einem liturgischen Direktorium heißt, "an die jahrhundertelange Geschichte der Vorurteile und Feindseligkeiten zwischen Christen und Juden und zur Entwicklung und Vertiefung des religiösen christlich-jüdischen Gesprächs". Die Initiative dazu war von der Zweiten Ökumenischen Versammlung in Graz (1997) ausgegangen. Diese wiederum hatte eine mehrjährige Praxis der ökumenischen Dialoggruppe "Teshuvà" in Mailand aufgegriffen.

Das Datum - 17. Januar - ist kein Zufall, sondern eine ganz bewußte Wahl: Vor aller konfessionellen Verschiedenheit der christlichen Kirchen soll damit auf das gemeinsame biblisch-theologische Fundament - die Verwurzelung im Judentum - hingewiesen werden. "Es geht nicht darum", so eine Information auf der Homepage des Wiener Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, "eine Feier mit folkloristischen jüdischen Elementen zu gestalten, auch nicht um ein Kennenlernen des Judentums. … Es geht um ein fundamental neues Selbstverständnis der Kirchen, das sich aus seiner jüdischen Quelle nährt. Dem entsprechend wollen wir am Tag des Judentums mit den Mitteln unserer eigenen Traditionen ein positives Bekenntnis zur Wurzel unseres Glaubens ablegen."

Damit wird dieser Gedenktag dann doch zum "Lehr- und Lerntag". Denn er dient der Bewußtseinsbildung: Christen danken Gott, daß sie durch Jesus Christus an den Verheißungen des erwählten Volkes Israel teilhaben dürfen. Man erinnert sich: Am 13. April 1986 war es zu einem historischen Besuch gekommen. Als erster Papst in der Geschichte überhaupt betrat Johannes Paul II. die Große Synagoge in Rom und würdigte dabei die Juden als "unsere bevorzugten" und "älteren Brüder". 24 Jahre später, am 17. Januar 2010, meinte Benedikt XVI., der zuvor bereits Synagogen in Köln und New York aufgesucht hatte, am selben Ort: "Unsere geistliche Nähe und Brüderlichkeit finden in der Heiligen Schrift - in hebräisch Sifre Qodseh oder 'Bücher der Heiligkeit' - ihr solides, ewiges Fundament, aufgrund dessen wir uns beständig vor unsere gemeinsamen Wurzeln, vor unsere gemeinsame Geschichte und das reiche geistliche Erbe gestellt sehen."

Dieses Erbe verpflichtet. Als Konzilstheologe hat der jetzige Papst die ebenso abenteuerliche wie konfliktreiche Entstehungsgeschichte von Nummer 4 der "Erklärung über die Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate" miterlebt, die ursprünglich als eigenständiges "Judendekret" vorgesehen war. Während seiner Amtszeit als Präsident der Päpstlichen Bibelkommission (und als Präfekt der Glaubenskongregation) wurde das Dokument "Das jüdische Volk und seine Heiligen Schriften in der christlichen Bibel" (2001) veröffentlicht. Es steht im Kontext der Bemühungen um eine "Reinigung des Gedächtnisses" am Ende des 20. Jahrhunderts, vor allem angesichts der Shoah wie der christlichen und kirchlichen Mitverantwortung an der jahrhundertelangen Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus - in einer Reihe mit dem vatikanischen Dokument "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Schoa" (1998) und der Vergebungsbitte Johannes Pauls II. für das Schuldigwerden von Christen gegenüber Juden am 12. März 2000.

Die Schatten der Vergangenheit liegen und lasten über Juden und Christen. Gesten wie die erwähnten Besuche sind wichtig. Emotionen können dabei nicht ausbleiben. Was heißt das für die Gegenwart?

Juden gehören zu Deutschland. Erstmals seit Kriegsende wurden 2009 zwei orthodoxe Rabbiner, Anfang November 2010 zum ersten Mal seit 75 Jahren eine Frau, die dem Reformjudentum angehörende 31jährige Ukrainerin Alina Treiger, zur Rabbinerin ordiniert. Es gibt neue Synagogen in Berlin, Pforzheim und München. Doch die Einweihung der Hauptsynagoge "Ohel Jakob" in München im November 2006 konnte nur unter Polizeischutz stattfinden. Und das neue jüdische Gemeindezentrum in Mainz war im November 2010 Ziel eines Brandanschlags. Ist der Antisemitismus wieder "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen und "salonfähig" geworden, wie es vor dem Hintergrund der hitzigen Integrationsdebatten heißt?

Christen tragen hier eine besondere Verantwortung. Sie beginnt mit dem Denken und Reden, dann folgt das Tun. Sensibilisierung tut nach wie vor Not, in Deutschland ebenso wie in Österreich und in ganz Europa. Denn das jüdisch-christliche Verhältnis ist nicht nur ein theologisches Minenfeld. Was bedeutet der "nie gekündigte Bund": zwei Heilswege? Es ist und bleibt eine hypersensible Materie, wie Irritationen zeigen, die ebenfalls mit dem gegenwärtigen Pontifikat verbunden sind: In Italien etwa sagten die Juden den gemeinsamen Gedenktag 2009 ab. Grund dafür waren die Auseinandersetzungen um eine Karfreitagsfürbitte, die der Papst persönlich für den Außerordentlichen Ritus neu formuliert hatte.

In Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz wird hierzulande der 27. Januar als (staatlich organisierter) "Holocaust-Gedenktag" begangen. Der Holocaust verjährt nicht - "und die Angst derer, die ihn überlebt haben, verschwindet nicht einfach deswegen, weil der Kampf gegen den Antisemitismus in Deutschland Staatsräson geworden ist", schrieb Heribert Prantl seinerzeit zur Einweihung der Synagoge in München. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bezeichnete Synagogen damals als "in Stein gehauenes Vertrauen in Deutschland". Dieses Vertrauen muß man einüben und pflegen. Ein kirchlicher "Tag des Judentums" kann dabei helfen. In Italien ("Giornata dell'ebraismo"), in Polen und in den Niederlanden ("De Dag von het Jodentum") gibt es den Gedenktag ebenfalls. Warum eigentlich nicht in Deutschland?

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