Ist das Staatskirchenrecht überholt?

Es sind mehrere, aufeinander bezogene Kräfte, die auf die Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens einwirken, der das Verhältnis von Kirchen und Staat in Deutschland regelt. Die religiöse Orientierung der Menschen ist - selbst wenn immer noch stark durch die beiden großen Kirchen geprägt - vielfältiger und ihre subjektive Verbindlichkeit oft schwächer geworden. Zum Islam, einer Religion mit großer Bindekraft, bekennt sich eine nennenswerte Minderheit von Menschen. Darauf muß und will die Politik reagieren.

Im weniger günstigen Fall drängen kulturelle und politische Kräfte nach vorne, die unter dem Stichwort der "Gleichstellung" der Religionen oder einer Stärkung von Toleranz und Religionsfreiheit die Verdrängung des religiös-institutionellen Bereichs - konkret: der Kirchen - aus dem öffentlich-rechtlichen Raum anstreben. Daß Deutschland bis heute spürbar durch den christlichen Glauben geprägt ist, läßt die fast aseptische Einstellung mancher öffentlicher Akteure ihm gegenüber kaum noch ahnen.

Auch in den Kirchen selbst herrscht eine gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich der Inanspruchnahme und Zukunft der Freiheiten, die das Staatskirchenrecht einräumt. Dies wird im Katholizismus verstärkt durch römische Signale der Skepsis gegenüber manchen Formen der öffentlich-rechtlichen Präsenz von Kirchen in Deutschland, die in anderen Ländern unbekannt sind. Schließlich muß man noch den Einfluß der europäischen Integration auf das nationale Recht in bezug auf Kirchen und Religionsgemeinschaften nennen.

Welch große Aufregungen das Verhältnis von Staat und Kirchen oder, allgemeiner, von Staat und Religionen auslösen kann, zeigen exemplarisch die Debatten über die öffentliche Präsenz religiöser Symbole, angefangen bei der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis hin zum Spruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Lautsi, bei der es um einen ähnlichen Sachverhalt in Italien ging. Andere Beispiele sind die seit letztem Jahr wieder geführte Diskussion über die in alten Rechtsansprüchen begründeten Staatsleistungen oder die im Kontext der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Ladenöffnungsgesetz entbrannte Auseinandersetzung über den "christlichen Sonntag" oder auch die teils öffentliche, teils kircheninterne Debatte über das kirchliche Arbeitsrecht. Gemeinsamer Fluchtpunkt vieler Änderungspostulate ist die weitreichende Frage, ob und inwieweit die bundesdeutsche Ordnung von Staat und Religion - vor allem ihre Fundierung im Grundgesetz - in der Lage ist, Säkularität und religiöse Pluralität zu verarbeiten.

Nicht wenige sagen, die Tragfähigkeit der Verfassungsordnung von Staat und Religion müsse sich daran messen lassen, ob sie in der Lage ist, gerade muslimische Gläubige in ihr "staatskirchenrechtliches System" zu integrieren. Dies ist ja eine Forderung, die Bundespräsident Christian Wulff mit seiner Formulierung vom "Islam als Teil Deutschlands" ebenso meinte wie Wolfgang Schäuble, der als Innenminister mit Hilfe der Islamkonferenz eine Wandlung der deutschen Ordnung vom überkommenen Staatskirchenrecht in ein neu konzipiertes Religionsverfassungsrecht anstoßen wollte.

Natürlich, ein Wandel des Rechts ist oft sachgerecht. Es ist aber auch wahr, daß man Wandlungen und Anpassungen nur durchführen muß, wenn sich vorhandene Bestimmungen als unfähig erweisen, neue Phänomene und Konflikte juristisch zu verarbeiten. So besteht etwa die Gefahr, daß aus Gründen möglichst rasch erfolgender Gleichstellungen rechtliche Anforderungen eingeebnet werden und dann gut gemeinte Gleichbehandlung zu Unordnung führt. Die Zuerkennung des Körperschaftsstatus ist an normative Bedingungen geknüpft, deren Aushöhlung fragwürdig wäre. Die Freiheitlichkeit der Ordnung beweist sich nicht darin, daß die Rechtsordnung alles gleichmäßig planiert, wohl aber alles unter das Urteil der Menschenrechte stellt. Vielmehr müssen die einzelnen Religionen nach ihrem je eigenen Selbstverständnis leben und sich entfalten können. Zugangsgleichheit ist ohne Zweifel unverzichtbar und muß die Allgemeinheit der Rechtsordnung verbürgen.

Erlaubt sind aber auch Differenzierungen, wenn dies sachlich angezeigt ist - was freilich bisweilen schwer zu entscheiden ist. So ist der islamische Religionsunterricht wohl in den Grundzügen wie sein christliches Pendant zu organisieren (inhaltliche Bildungsstandards, deutsche Unterrichtssprache, akademische Bildung der Lehrerschaft), gleichwohl werden konkrete Ausgestaltungen verschieden sein müssen. Im übrigen machen ja auch christliche Gläubige in manchen Teilen Deutschlands die Erfahrung, daß sie Angehörige einer Minderheit sind, wie der Blick in die östlichen Bundesländer zeigt. Mitnichten ist die grundgesetzlich verbürgte Freiheit der Religion eindeutig ein Recht der Mehrheit. Um so mehr ist festzuhalten, daß sich das deutsche Staatskirchenrecht in seinen Grundzügen auch dort als Ordnungsmodell bewährt. Es ist eine große Chance für die Kirchen, wenn sich die staatliche Ordnung nicht hinter einem laizistischen Trennungsmodell verbirgt, sondern offen ist für sie; wenn sie Religion auch in ihren öffentlichen und nicht bloß in ihren privaten Vollzügen nicht verhindert, sondern ermöglicht.

Freilich bedarf das Ganze auch des pfleglichen Umgangs seitens der Kirchen und Religionen. Praktische wie auch theologische Kritik am Staatskirchenrecht ist möglich, steht aber in der Verantwortung, die religiöse Sendung der Kirchen und deren Verkündigungsmöglichkeiten und Zeugnis nicht zu unterminieren. Zudem: Staatlich verbürgte Freiheit wird dann eher erhalten bleiben, wenn man sich an die Regeln hält, die man sich kraft ihrer gesetzt hat. Dies gilt besonders für die Befolgung des kirchlichen Arbeitsrechts. Die bekannte Sentenz von Ernst-Wolfgang Böckenförde läßt sich auch "umdrehen": Das Staatskirchenrecht lebt von Voraussetzungen, die es nicht selbst garantieren kann.

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