Mut zur Wahrheit und ErneuerungReflexionen nach einem Jahr der Aufarbeitung sexueller Mißbrauchsfälle im Bereich der Kirche

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, "Mißbrauchsbeauftragter" der Deutschen Bischofskonferenz, zieht eine erste Bilanz nach einem Jahr der Aufarbeitung.

Als Ende Januar 2010 ehemalige Schüler des Canisiuskollegs in Berlin auf Initiative des Rektors hin den Mut fanden, von sexuellem Mißbrauch zu berichten, den sie an der Schule erlitten hatten, setzte eine Bewegung von ungeahntem Ausmaß ein. Aus einer einzelnen Meldung, einem kleinen Rinnsal vergleichbar, wurde ein Strom von Meldungen, der mehr und mehr anschwoll. Menschen fühlten sich ermutigt, Erfahrungen sexueller Gewalt zu berichten, die ihnen als Kinder oder Jugendliche in Internaten, Heimen und Pfarreien der katholischen Kirche, aber auch in anderen Institutionen sowie in der Familie widerfahren war. Die Meldungen beschränkten sich nicht auf Deutschland. Sie weiteten sich auf Länder wie Österreich, die Niederlande und Belgien aus und erreichten auch Rom mit der Absicht, dem Papst Versäumnisse nachzuweisen, ihn gar persönlich haftbar zu machen.

Das Erschrecken und die Betroffenheit, die die Enthüllungen sexuellen Mißbrauchs ausgelöst haben, blieben nicht auf das Thema des Mißbrauchs beschränkt. Die Vertrauenswürdigkeit der Kirche als ganzer wurde massiv in Zweifel gezogen. Nicht zuletzt durch das gewaltige Echo in den Medien wurden viele Gläubige in ihrem Verständnis der Kirche und des Glaubens erschüttert. Auch Bischöfe gaben zu, daß das, was sie durch Schilderungen von Opfern zur Kenntnis nehmen mußten, für sie ein regelrechter Schock war. Bei nicht wenigen Menschen, auch innerhalb der Kirche, hat die Problematik des sexuellen Mißbrauchs eine bestehende Unzufriedenheit mit der Kirche verstärkt. Mancher Kritiker sah die Kirche nun endlich sturmreif geschossen und die Gelegenheit gekommen, sie aus der Mitte der Gesellschaft zu entfernen. Mitunter fühlte man sich an Voltaires antikirchlichen Schlachtruf: "Écrasez l'infâme!" (Zermalmt die Niederträchtige) erinnert.

Von Anfang an gab es aber auch Stimmen von Fachleuten, die darauf aufmerksam machten, daß die Fokussierung der Debatte auf die katholische Kirche nicht völlig frei war von dem, was man der Kirche selbst vorwarf: Scheinheiligkeit und Heuchelei. Mit dem Blick auf die Kirche entlaste sich die Gesellschaft von dem Blick auf sich selbst, so das Urteil kritischer Beobachter. Inzwischen hat sich der Blick geweitet. Sexuelle Gewalt kommt wieder stärker als ein gesamtgesellschaftliches Problem in den Blick. Auch die Meldungen, die bei der Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmißbrauchs eingehen, beziehen sich inzwischen mehrheitlich auf das Umfeld der Familie.

Fragen aber bleiben - und auch die Herausforderung zur kirchlichen Selbstbesinnung. Wie konnte es mitten in der Kirche zu solchen Untaten kommen, zumal von Priestern? Wie konnte eine solch bittere Wirklichkeit so lange einer Gemeinschaft verborgen bleiben, die sich doch von Jesus Christus her so sehr der Wahrheit verpflichtet weiß (vgl. Joh 8,32; 1 Joh 1,8; 2,21)? Diese Fragen schmerzen, mehr noch: Sie bedeuten für die Kirche eine Demütigung. Für Papst Benedikt XVI. liegt in dieser Situation der Anruf zu einer ernsten Erneuerung des christlichen Lebens. In seiner Weihnachtsansprache an die Mitarbeiter der Römischen Kurie hat er im Dezember 2010 gesagt:

"Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. Nur die Wahrheit rettet. Wir müssen fragen, was wir tun können, um geschehenes Unrecht so weit wie möglich gutzumachen. Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, daß solches geschehen konnte. Wir müssen zu einer neuen Entschiedenheit des Glaubens und des Guten finden. Wir müssen zur Buße fähig sein. Wir müssen uns mühen, in der Vorbereitung zum Priestertum alles zu versuchen, damit solches nicht wieder geschehen kann."1

Wir Bischöfe in Deutschland haben uns dazu entschieden, in einen breit angelegten Gesprächsprozeß mit verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften auf den unterschiedlichen Ebenen unserer Kirche einzutreten, um gemeinsam Antwort zu finden auf die Fragen, die der Papst formuliert und die auch uns bedrängen.

Im folgenden seien einige thematische Impulse dazu skizziert. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich benenne lediglich einige Themenfelder, die sich für mich aus den vielen Gesprächen und Begegnungen, die ich in meiner Aufgabe als Beauftragter für Fragen des sexuellen Mißbrauchs im kirchlichen Bereich bis heute hatte, herauskristallisiert haben.

Die richtige Mitte zwischen Ideal und Wirklichkeit finden

In seinem Eröffnungsreferat zur Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im Herbst 2010 hat Erzbischof Robert Zollitsch die Vermutung geäußert, daß eine Ursache für die Krise, in die die Kirche durch die Mißbrauchsfälle geraten ist, in einem zu einseitig positiven Bild des Menschen besteht:

"Wir vergessen zu oft die Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Wir lassen uns allzu sehr von einem unrealistischen Optimismus leiten. Wir haben uns ja angewöhnt, sehr positiv über den Menschen, seine Größe und seine Würde zu sprechen. Wir wollen in den gesellschaftlichen und politischen Debatten die Würde des Menschen verteidigen. Und wir tun dies mit guten theologischen Gründen. ... Aber schon auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift wird auch vom Scheitern des Menschen, vom bösen Sinnen und Trachten seines Herzens gesprochen. Die Bibel weiß besser als das optimistische Denken mancher moderner Geistesströmungen, daß die Welt nicht nur gut ist und auch nicht durch menschliche Moralität in Ordnung gebracht werden kann. Der Mensch ist immer auch Gefangener der Sünde. Er kann scheitern. Haben wir nicht die Theologie des Scheiterns zu kurz kommen lassen? Ist sie nicht verkommen zu einer fast leidenschaftslosen Rede über die Sünde? Haben wir nicht das Bild unserer selbst und der Priester so stilisiert, daß der menschliche Abgrund übersehen wurde, vor dem unausweichlich auch der geweihte Mensch steht?"2

Ich halte diese Beobachtung für treffend. Eine zu optimistische Sicht des Menschen und seiner moralischen Möglichkeiten führt aber unweigerlich zu der Frage nach den Idealen, die uns für eine christliche Existenz vor Augen stehen. In den Debatten der jüngsten Zeit ist häufig Kritik an einer Überidealisierung und falschen Glorifizierung der Priesterrolle geübt worden - zu Recht, denn beides ist verhängnisvoll. Zum einen ist es verhängnisvoll für die Träger, wenn für sie eine Überforderung faktisch vorprogrammiert ist. Verhängnisvoll war die überstarke Idealisierung des Priesterbildes aber auch für die kindlichen bzw. jugendlichen Opfer. Diese konnten sich nämlich einen solch schwerwiegenden Verstoß gegen das priesterliche Ideal, wie es der sexuelle Mißbrauch darstellt, gar nicht vorstellen.

Der aufmerksame Blick auf die Opfer zeigt zudem, daß auch hier - wenigstens im allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtsein - eine allzu optimistische Sicht vorherrschte, was die Möglichkeiten und Kräfte der Betroffenen angeht, erlittene sexuelle Übergriffe zu verarbeiten. Zu den besonders aufwühlenden Erfahrungen der letzten Monate gehört für mich in jedem Fall die Erkenntnis, wie tief und dauerhaft Menschen durch eine Mißbrauchserfahrung beeinträchtigt worden sind. Mangelnde therapeutische Hilfsangebote in der Vergangenheit sind wohl nicht nur einer Unwilligkeit der Verantwortlichen zuzurechnen, sondern auch einer krassen Unterschätzung der bei den Betroffenen entstandenen Verletzung.

Eine vertiefte Diskussion über das Verhältnis zwischen den Idealen katholischer Morallehre und den tatsächlichen Kräften und Möglichkeiten, die dem einzelnen gegeben sind, tut not3. Das gilt nicht nur für das Ideal eines Lebens als Priester oder Ordenschrist, sondern auch für das Leben in der Gemeinschaft der Ehe.

Hier wäre noch einmal neu an das Prinzip der "Gradualität" zu erinnern, das Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika "Familiaris Consortio" (1981) beschrieben hat4. Es trägt der Tatsache Rechnung, daß der Mensch ein Wesen ist, dem nicht von Geburt an alle Fähig- und Fertigkeiten voll zur Verfügung stehen, sondern das stufenweise lernt und sich entwickelt. Das Prinzip des stufenweisen Wachstums gilt auch für die Fähigkeit zu einem sittlichen Leben. Dazu gehört insbesondere auch ein reifes und personal verantwortetes Leben in Beziehung:

Denn "der Mensch, der berufen ist, dem weisen und liebenden Plan Gottes in freier Verantwortung mit seinem Leben zu entsprechen, (ist) ein geschichtliches Wesen, das sich Tag für Tag durch seine zahlreichen freien Entscheidungen selbst formt; deswegen kennt, liebt und vollbringt er das sittlich Gute auch in einem stufenweisen Wachsen."5

Der Hinweis auf den Weg- oder Prozeßcharakter ist von grundlegender Bedeutung. Denn er macht deutlich, daß Moral nach katholischem Verständnis durchaus keine statische oder gar starre Größe ist. Müßten wir aber nicht bewußter in den Blick nehmen, daß es in der Moralität des einzelnen Menschen nicht nur lineares Wachstum und Fortschritt gibt, sondern auch das mögliche Zurückfallen hinter die eigenen, vielleicht sogar schon erreichten sittlichen Möglichkeiten (etwa dort, wo jemand untreu wird; wo jemand die eigenen Bedürfnisse über den Respekt vor der Person des anderen stellt usw.)? Es stellt sich die Frage, wie wir auf diese Realität pastoral angemessener antworten als bisher. Hier wäre manches neu zu bedenken und neu auszusagen. Diese Einschätzung hat auch Papst Benedikt in seinem jüngsten Interviewbuch mit dem Journalisten Peter Seewald geäußert6.

Reichtum und Last der kirchlichen Communio

Im Blick auf die Kirche ist uns die schmerzliche Kehrseite dessen bewußt geworden, worauf wir sonst gerade als Katholiken mit Stolz hinweisen: Die Kirche ist kein Verein, sie ist keine bloße Institution, keine Art von übernationalem Konzern. Nein, sie ist eine Gemeinschaft, die weltumspannend und zugleich geschichtsübergreifend ist. Sie ist dieselbe von den Tagen der Apostel an bis heute, und sie umfaßt auch die, die uns schon im Glauben vorangegangen sind. Ein besonders leuchtender und lebendiger Teil der Kirche sind die Heiligen.

Die Kirche ist - mit Paulus gesprochen - der Leib Christi, dessen Glieder die Getauften sind (1 Kor 12, 12-31). Oder, um es in einem Bild auszudrücken, das Jesus selbst benutzt: Die Glaubenden sind die Rebzweige am Weinstock, der Jesus Christus ist (Joh 15, 1-7). In ihm sind alle miteinander verbunden. Deshalb gilt: Wenn ein Glied sich freut, freuen sich alle, wenn ein Glied leidet, leiden die anderen mit. Nur deshalb kann Paulus auch sagen: "Einer trage des anderen Last" (Gal 6,2). Wie sehr die Kirche dadurch, daß Leiden und Last bestimmter Glieder der Kirche bekannt wurden, an der Last der Opfer und der Täter zu tragen hat, ist in den zurückliegenden Monaten spürbar geworden. Das geheimnisvolle Mit- und Füreinander im Leib Christi haben wir als schmerzliche Realität erfahren. Wir können uns nicht distanzieren von den Opfern, aber auch nicht von den Tätern, so wie es vielleicht außerhalb der Kirche möglich wäre.

Hans Urs von Balthasar hat in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, daß die Vorstellung falsch sei, wir Menschen seien in sich geschlossene Einheiten, von denen jede einen bestimmten Raum einnehme und derart ausfülle, daß kein anderer ihn betreten könne. Er verglich menschliche Personen mit Wellenkreisen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Wirft man nun nebeneinander mehrere Steine ins Wasser, so überlagern und durchdringen sich die Wellenkreise7.

Mit diesem Bild wollte Balthasar deutlich machen, daß wir Menschen durch unsere Sinne und unseren Verstand gewissermaßen die "Wellen" der uns umgebenden Welt in uns aufnehmen können. Umgekehrt wirken wir unsererseits durch unser Sprechen und Handeln auf und in das Leben anderer ein. Was schon rein naturhaft gilt, das gilt um so mehr im Raum der Kirche - für das Positive, aber auch für das Negative.

Als Christen leben wir aus der Verbindung mit dem Glauben, der Hingabe und der Liebe unzähliger anderer. Von ihnen sind die Heiligen nur die sichtbarsten Beispiele. Die theologische Tradition hat dafür den Begriff vom "Thesaurus Ecclesiae", dem "Schatz der Kirche", geprägt. Doch die Kirche trägt in sich nicht nur den Schatz gelebter Liebe, sondern auch die Last des Unrechts, das von Angehörigen der Kirche verübt worden ist. Wir leiden an der Verweigerung von Glaube und Liebe. Die Auswirkung der Mißbrauchstaten beschränkt sich nicht auf die psychische und/oder physische Verletzung des Opfers. Sie kann sogar dazu führen, daß dessen Gottesbild entstellt wird, daß möglicherweise der Glaube ganz erlischt. Ich bin Betroffenen begegnet, die sich nicht in der Lage sahen, den Glauben guten Gewissens an ihre eigenen Kinder weiterzugeben. Sie ließen sie nicht taufen, um sie vor potentiellen Tätern im Raum der Kirche zu schützen! An diesem Beispiel wird erschreckend deutlich, welche destruktive Eigendynamik die sündhafte Tat entwickelt. Sie reicht weit über die einzelne konkrete Handlung hinaus.

Mir drängt sich für diesen Zusammenhang das Bild von Gift auf, das selbst in einer kleinen Dosis einen ganzen Organismus infiziert, ohne daß man direkt die Ursache entdecken kann. Wo der Raum des seelsorglichen Vertrauens so schändlich mißbraucht wird wie im Falle sexueller Gewalt, sind die Folgen unabsehbar, wenn sich ihre zerstörerische Wirkung unbemerkt entfaltet.

Ein biblisches Beispiel für das Gemeinte findet sich im Buch Numeri (21, 4-9): Während des lang währenden und strapaziösen Zugs durch die Wüste verliert das Volk wieder einmal den Mut. "Es lehnte sich", so heißt es da, "gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig. Da schickte der Herr Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen, und viele Israeliten starben." Als "Gegengift" hängt Mose im Auftrag Gottes die Kupfernachbildung einer Giftschlange an eine Stange auf und befiehlt jedem, der von einer Schlange gebissen wurde, zur Kupferschlange aufzusehen. Dann wird er gerettet.

Vielleicht darf man dieses archaische Bild psychologisch so deuten, daß durch Mose das, was vorher die Gemeinschaft vergiftet hatte, aus der Heimlichkeit und Tuschelei heraus ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurde. Auf diese Weise konnte damit anders umgegangen werden, wurde die Plage erkennbar und damit auch Heilung möglich.

"Reinigung des Gedächtnisses"

Ähnliches gilt auch für die Gemeinschaft der Kirche: Nichts ist schlimmer als eine dem Evangelium entgegengesetzte und lebensfeindliche Wirklichkeit, die im sozialen Organismus der Kirche herumwabert und die Beziehungen vergiftet! Die Übertragung auf die zutage gekommenen Fälle von sexuellem Mißbrauch aus den letzten sechs Jahrzehnten in unserer Kirche fällt nicht schwer. Es ist gut und richtig, daß möglichst alles ans Licht kommt, so schmerzlich es auch ist. Dabei ist es ja nicht so, wie wir oben gesehen haben, als ob vorher alles völlig verkapselt gewesen wäre und die Taten sowie ihre zerstörerischen Wirkungen nur das Leben der Täter und Opfer gezeichnet hätten. Mag auch das meiste von den Tätern, von den Opfern, von Familienangehörigen und von Verantwortlichen der Kirche verschwiegen worden sein, die Mißbrauchsvergehen blieben dennoch nicht völlig isoliert. Ihre zerstörerischen Wirkungen begannen - wenn auch von der Öffentlichkeit weitgehend unentdeckt - wie ein schleichendes Gift im Organismus der Kirche ihre Kreise zu ziehen ab dem Augenblick, in dem sie begangen wurden.

An den Folgen werden wir noch lange zu tragen haben. Mag es heute eine öffentlich spürbare Optik des Verdachts und des Mißtrauens gegenüber der Kirche geben: Ihr Beginn datiert nicht auf das Jahr 2010. Im Gegenteil: Mit Klaus Mertes SJ bin ich überzeugt, daß mit dem Offenlegen des Mißbrauchs nicht das Mißtrauen begann, sondern der Wiedergewinn von Vertrauen. Wenn es also um den Wiedergewinn von Vertrauen geht, heißt das Gebot der Stunde: Keine Angst vor der Wahrheit! Es ist Jesus selbst, der von der befreienden Kraft der Wahrheit spricht, auch wenn sie schmerzlich ist (vgl. Joh 8,32).

Oft habe ich im vergangenen Jahr an das von Papst Johannes Paul II. geprägte Wort von der "Reinigung des Gedächtnisses" denken müssen. Im Zugehen auf das Heilige Jahr 2000 hatte er darauf hingewiesen, daß die Kirche die Schwelle des neuen Jahrtausends nicht überschreiten könne, ohne sich durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten und Inkonsequenzen zu reinigen. Der Papst sagte wörtlich:

"Das Eingestehen des Versagens von gestern ist ein Akt der Aufrichtigkeit und des Mutes, der uns dadurch unseren Glauben zu stärken hilft, daß er uns aufmerksam und bereit macht, uns mit den Versuchungen und Schwierigkeiten von heute auseinanderzusetzen."8

Nach meiner Überzeugung hat die Aufdeckung der Mißbrauchsfälle eine schmerzliche Reinigung des kirchlichen Gedächtnisses in Gang gesetzt, die nicht nur das Priesterbild betrifft. Das gesamte Bild der "guten alten Zeit" der Volkskirche, dem nicht wenige Menschen in unseren Gemeinden, Gemeinschaften und Verbänden nachtrauern, hat Risse bekommen: Wir müssen offener zugeben, daß diese Zeit nicht so gut und heil war, wie es in der verklärenden Rückschau den Anschein hat. Die Vergehen sexuellen Mißbrauchs durch Kleriker gehören - Gott sei Dank, soweit wir das sehen - zu den seltenen Ausnahmen. Die Diskussionen des vergangenen Jahres zeigten aber leider auch, wie sehr die Volkskirche von Formen der Gewalt physischer und psychischer Art geprägt war. Menschen haben erzählt, was sie diesbezüglich im Bereich von Schule und Erziehung, aber auch der Beichte erlebt haben. Zur Entschuldigung mag man vorbringen, daß sich der Stil der Kirche damit nicht von dem unterschied, was in Familie und Gesellschaft insgesamt gang und gäbe war. Aber letztlich ist das für die Kirche Jesu Christi nur ein schwacher Trost.

In die "Schule der Opfer" gehen

In den Diskussionen der vergangenen Monate ist immer wieder scharf kritisiert worden, daß die erste Sorge der Kirche bisher den Tätern galt, dem eigenen guten Ruf, dem Frieden in den Gemeinden, Gemeinschaften oder Einrichtungen. Nun ist es erklärte Absicht, zuerst und vor allem die Perspektive der Opfer wahrzunehmen. Doch ist dies leichter gesagt als getan. Es wird noch viel geduldiges Zuhören brauchen, um sich nur annähernd die Ängste, die Verwirrung der Gefühle, die Ohnmacht der Opfer vorstellen zu können, die dadurch verstärkt wurden, daß ihnen nicht geglaubt, ja oft nicht einmal zugehört wurde und sie erleben mußten, daß die Institution keine wirksamen Maßnahmen gegenüber den Tätern ergriff.

Klaus Mertes hat vorgeschlagen, in Anlehnung an den aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie stammenden Begriff der "Schule der Armen" von einer "Schule der Opfer" zu sprechen. Erst in ihr würde so etwas wie eine Übernahme der Perspektive möglich:

"Dabei geht es nicht darum, die Erfahrungen der Opfer für eigene geistliche Lernerlebnisse und anschließende Reformprojekte zu instrumentalisieren. Das wäre ja nichts anderes als ein besonders geschicktes Verharren in der Institutionsperspektive, statt sich wirklich auf die Opferperspektive einzulassen. Es geht auch nicht darum, alles für richtig zu halten, was Opfer sagen, und einfach alles das zu tun, was sie wollen. Konkret ist man ihnen vielleicht manchmal einen Widerspruch schuldig. Vielmehr geht es darum, sich wirklich auf die Glaubensaussage einzulassen, daß mir in den Armen Christus begegnet", in diesem Fall sind es Arme, "für deren Armut die Institution eine Mitverantwortung im Sinne einer Mitschuld trägt."9

Nicht verschwiegen werden soll eine Tatsache, die die Übernahme der Opferperspektive derzeit (noch) erschwert: Es sind die Enttäuschung und die Wut, mitunter auch regelrechte Haßgefühle, die viele Opfer nach wie vor gegenüber der Kirche und ihren Verantwortlichen empfinden. Wenn dies hier benannt wird, dann geschieht das ohne Vorwurf, rein feststellend. Es birgt nämlich auf der Seite der Institution die Gefahr, sich in eine reine Verteidigungshaltung zu begeben und damit in alte Muster zurückzufallen. Mertes erinnert dazu an das Jesuswort: "Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin" (Mt 5,39). Was bedeutet das konkret in diesem Zusammenhang?

"Die andere Wange hinhalten heißt: Sich nicht abwenden, sondern innerlich zugewandt bleiben, auch dann, wenn mir Haß entgegenschlägt. Haß ist ja nichts anderes als altgewordener Zorn, unter dem Opfer selbst auch leiden. Haß ist nicht nur zerstörerisch, sondern auch selbst-zerstörerisch ... Das Sichtbarwerden des Hasses ist eine Gelegenheit, den Täter-Opfer-Kreislauf durch Vertrauen zu unterbrechen. Es gibt eine Möglichkeit, Haßgefühlen so zu begegnen, daß sie nicht anstecken, sondern ihre Macht dadurch verlieren, daß man sie aushält ohne innerlich einzuknicken."10

Zu den materiellen Hilfeleistungen, die die deutschen Bischöfe für die Betroffenen beschlossen haben, heißt es einleitend: "Ausgangspunkt und Maßstab sind die konkreten Bedürfnisse der Betroffenen, deren Traumatisierung so weit wie möglich behoben und in Bezug auf ihre Folgen gemildert werden soll." Die Formulierung ist vorsichtig gewählt. Der Begriff "Heilung" fällt hier nicht, obwohl Heilung natürlich das letztlich erhoffte Ziel ist. Doch hat die Zurückhaltung ihren guten Grund: In der Thematik des sexuellen Mißbrauchs spricht die Kirche ja nicht als Unbeteiligte. Sie kann daher nicht wie in so vielen anderen Problemlagen unbefangen ihre Hilfe anbieten. Sie steht für die Seite der Täter. Insofern gilt hier mehr noch als sonst das Wort vom "Hilfe-Angebot". Dieses Angebot hat kein Anrecht darauf, von seiten der Betroffenen angenommen zu werden.

Um so berührender sind die Meldungen, in denen Menschen berichten, daß sie sich durch die Ereignisse und Diskussionen des zurückliegenden Jahres, ob mit oder ohne kirchliche Hilfe, mit der eigenen schmerzlichen Lebensgeschichte versöhnen konnten. Auch solche Stimmen gibt es. Und: Glücklicherweise gibt es auch Zeugnisse darüber, daß das Trauma des Mißbrauchs das Vertrauen in Gott nicht zerstört hat, ja der Glaube sogar tragender Grund durch alle Dunkelheiten hindurch geblieben ist und auch die Gemeinschaft mit der Kirche nicht aufgekündigt wurde.

Im Blick auf die Täter zwischen Sünde und Sünder unterscheiden

Werfen wir am Schluß noch einen Blick auf die Täter: Im Umgang mit ihnen ist über die Festlegungen der Leitlinien hinaus derzeit eine gewisse Hilflosigkeit zu konstatieren: Männer, die vor Jahrzehnten zu Tätern wurden, werden nun von ihrer Schuldgeschichte eingeholt. Andere haben ihre Tat bereits gestanden, wurden vielleicht sogar verurteilt und sehen sich nun aufs neue in der Öffentlichkeit mit ihren Taten konfrontiert.

Hat man sich früher skandalöserweise praktisch nicht für die Leiden der Opfer interessiert, so drohen nun die Täter nur noch als Risikofaktoren wahrgenommen zu werden. Ohne das Leid der Opfer zu verkennen, haben auch die Täter ein Recht, als Menschen behandelt zu werden. Trotz ihrer Schuld bleiben sie Glieder der Kirche, bleiben sie Mitbrüder in der Gemeinschaft eines Ordens oder eines diözesanen Presbyteriums. "Nulltoleranz" gegenüber sexuellem Mißbrauch ist unabdingbar. Nulltoleranz gegenüber einem Menschen, auch wenn er Täter geworden ist, ist nicht im Sinne Jesu. Jesus wußte zu unterscheiden zwischen der Sünde, die er verabscheute, und den Sündern, denen er mit Achtung und Barmherzigkeit begegnete. Das Ringen um eine angemessene Haltung, die den Tätern gegenüber klar und verbindlich zugleich ist und damit auch präventiv wirksam wird, ist noch nicht abgeschlossen.

Auf dem Weg zu einer theologisch-spirituellen Aufarbeitung

Durch die Diskussionen der letzten Monate waren theologische Begriffe in aller Munde, die - obwohl sie zum Kernbestand des biblischen Glaubens gehören - in der aktuellen Verkündigung gemeinhin eine untergeordnete Rolle spielen. Ich denke an Worte wie Schuld, Buße, Sühne, Versöhnung, Strafe, Heilung. Diese Worte stellten sich im Kontext der Mißbrauchsdebatte wie von selbst ein. Es waren nicht einmal in erster Linie Theologen, die diese Stichworte einbrachten, sondern eher Psychologen, Juristen und Journalisten.

Freilich gab es auch Ansätze, die die Geschehnisse nicht nur psychologisch, soziologisch oder mentalitätsgeschichtlich zu deuten versuchten, sondern auch theologisch und spirituell. Das ist besonders von seiten der Verantwortlichen des Jesuitenordens immer wieder angemahnt worden mit dem Hinweis darauf, daß die Kirche nicht eine bloß innerweltliche soziologische Größe sei, sondern die Gemeinschaft derer, die ihr Leben und die Welt vor allem im Licht der Botschaft Jesu zu deuten und zu gestalten suchen.

Die entsprechenden Hinweise dazu sind jedoch insgesamt eher verhalten aufgenommen worden. Das kann eigentlich auch nicht verwundern. Die theologisch­spirituelle Deutungsarbeit wird man wohl erst aus einem gewissen Abstand zu den aufwühlenden aktuellen Auseinandersetzungen heraus leisten können. Ein solcher Abstand ist wahrscheinlich auch deshalb notwendig, um leichtfertige und unangemessene theologische Überhöhungen der grausamen Realität des sexuellen Mißbrauchs zu vermeiden. Schon die Suche nach einer angemessenen Sprache, die die Betroffenen nicht verletzt, hat sich im letzten Jahr als äußerst herausfordernd erwiesen.

An erster Stelle steht derzeit die konsequente und kontinuierliche Umsetzung der eingegangenen Selbstverpflichtungen zu Aufklärung und Prävention. Sie werden der entscheidende Prüfstein sein, an dem man ablesen wird, ob und was wir als Kirche in Deutschland aus dem Skandal des Mißbrauchs gelernt haben. Dennoch bleibt der gläubige Umgang mit dieser dunklen Seite der Kirche in jedem Fall eine noch zu leistende Aufgabe. Sie bietet möglicherweise sogar die Chance, die Aktualität und den bleibenden Sinngehalt scheinbar antiquierter Glaubensbegriffe wieder zu entdecken und zugleich aufmerksamer zu werden auf die heilenden Kräfte, die die christliche Botschaft in sich birgt.

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