Katholische Soziallehre in der GlobalisierungAlte Asymmetrien - neue Perspektiven

Bernhard Sutor, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Eichstätt-Ingolstadt, gibt einen Überblick über die derzeitige Entwicklung der katholischen Soziallehre und charakterisiert die Brennpunkte angesichts der globalen sozialen Herausforderungen.

Katholische Soziallehre in einem spezifischen Sinn entstand im 19. Jahrhundert keineswegs zuerst als kirchliche Lehre und als Wissenschaft. Am Anfang standen vielmehr christlich-soziale Bewegungen der neuen Volkskirche. Lehre und Wissenschaft formulierten dann für die Bewegungen Grundlagen und Orientierungen. So entstand das Dreieck eines Sozialkatholizismus, der bis weit ins 20. Jahrhundert in Kirche und Gesellschaft eine wirksame Kraft darstellte.

Das Dreieck gibt es in dieser Form nicht mehr. Die alten Bewegungen sind schwach geworden; die wissenschaftliche Soziallehre ist spezialisiert und pluralistisch; die kirchliche Sozialverkündigung ist eindrucksvoll, aber auch abundant und ohne hinlängliche Verbindung zu Wissenschaft und Basis. Die so entstandenen Asymmetrien zwingen zu der Frage, ob und wie Katholische Soziallehre in der gegenwärtigen Weltlage neue Relevanz gewinnen kann. Meine These dazu lautet, sie müsse ihre Asymmetrien überwinden und sich als Soziallehre einer Weltkirche der Grundfrage unserer Zeit stellen, wie es gelingen kann, die drängenden politischen und sozialen Probleme zu lösen, die sich den Völkern, Staaten und Kulturen im Prozeß der Globalisierung stellen.

Von der Sozialen Frage zu den politischen Weltproblemen

Auf einem Fachforum Sozialethik der Katholischen Akademie in Bayern wurde im April 2010 die Genese der Katholischen Soziallehre an den drei Themenfeldern Wirtschaftsordnung/Arbeit, Entwicklungspolitik, Ökologie dargestellt1. Damit wurde gleichsam eine Brücke mit je einem Pfeiler im 19., 20. und 21. Jahrhundert sichtbar. Wenn man bei dem Bild der Brücke bleibt, wären aber noch zwei weitere wichtige Pfeiler einzuziehen. Seit der Herausforderung durch die totalitären Bewegungen und Systeme des 20. Jahrhunderts hat die katholische Lehre eine eigene Begründung und Würdigung der personalen Menschenrechte und der rechtsstaatlichen Demokratie entwickelt. Daneben und inhaltlich auch damit verbunden trat die drängende Problematik von Krieg und Frieden, die in der Zeit des Kalten Krieges mit der Gefahr des Atomkrieges kirchliche Lehre, Moraltheologie und Sozial­lehre zu neuen grundsätzlichen Aussagen über das Verständnis von Frieden, Sicherheit und gerechtfertigter Verteidigung (statt "gerechter Krieg") führte. Beides sind heute gewichtige Themenfelder in Verkündigung und Lehre.

Diese Erweiterung der Thematik ist aber nicht nur eine Antwort auf neue Problemlagen. Vielmehr ist aus diesem Vorgang die Erkenntnis zu gewinnen, auch wenn sie noch nicht allenthalben reflexiv geworden ist, daß spezifisch soziale Abhilfen wie die Bekämpfung sozialer Notlagen und die strukturelle Überwindung von Armut ohne entsprechende politisch-rechtliche Rahmenbedingungen gar nicht nachhaltig möglich sind. Ohne eine gute politische Ordnung, ohne rechtsstaatliche Sicherheiten, ohne bürgerliche Freiheits- und politische Teilhaberechte sind strukturell bedingte soziale Probleme nicht dauerhaft behebbar. Zwar nehmen sich auch Diktaturen und totalitäre Regime ihrer an. Sie instrumentalisieren sie aber zur Herrschaftsstabilisierung und würgen trotz "sozialer Errungenschaften" auf Dauer die gesellschaftlichen Kräfte ab, aus denen allein längerfristig die Wohlfahrt aller sich speisen kann. In Europa ging die Entwicklung sozialstaatlicher Einrichtungen einher mit der Durchsetzung des freiheitlichen Verfassungsstaates, und in der Entwicklungspolitik wissen die Fachleute längst, daß good government eine notwendige Bedingung wirtschaftlich-sozialen Fortschritts ist.

Deshalb mußte die Katholische Soziallehre in der Auseinandersetzung mit sozialen Problemen Politik als ein ihr aufgegebenes Feld entdecken: Politik als Ringen um Durchsetzung und Sicherung einer auf Menschenrechte und politische Teilhabe gründenden staatlichen Ordnung und um mehr Recht und Frieden zwischen den Staaten und Völkern. Es ist eine der Asymmetrien der Katholischen Soziallehre, daß sie diese Einsicht noch nicht durchweg realisiert hat. Sie hat bei vielen ihrer Vertreter ihr Schwergewicht immer noch zu sehr im Sozialen im engeren Sinn. Die Leitfrage nach Gerechtigkeit muß aber nicht nur als eine soziale, sondern auch und in gewissem Sinn sogar vorrangig als eine politische Frage bearbeitet werden2.

Was hält die Katholische Soziallehre zusammen?

Angesichts der Breite und Vielfalt der Gegenstände, mit denen sich also kirchliche Sozialverkündigung und ihre wissenschaftliche Entfaltung befassen, muß man fragen, was das Fach zusammenhält. Was ist das gemeinsame Band der heterogenen Gegenstände? Was ist - wissenschaftstheoretisch gesprochen - das Formalobjekt einer christlich geleiteten Wissenschaft von der Gesellschaft im umfassenden Sinn?

Die Bezeichnung des Fachs ist längst nicht mehr einheitlich. Das kirchliche Lehramt und eher konservativ eingestellte Autoren halten an der Bezeichnung Katholische Soziallehre fest, womit sie deren lehrhaften Kern betonen. Aber schon Joseph Höffners im Jahr 1962 erstmals erschienenes Lehrbuch trug den Titel "Christliche Gesellschaftslehre". Dieser kann besser ausdrücken, daß es um mehr geht als um soziale Fragen im engeren Sinn. Neuere Lehrbücher sprechen von "Christlicher Sozialethik".

Die Frage nach dem einheitsstiftenden Band verbirgt sich auch in dem Streit, ob die Gerechtigkeit oder die Liebe die Leitfrage der Katholischen Soziallehre sei. Der Streit flammt immer wieder auf, so zuletzt im Anschluß an die Sozialenzyklika "Caritas in Veritate" von Benedikt XVI. Der Papst rückt zwar in diesem Text, geleitet von der ihn tragenden theologischen Anthropologie, den Appell an die christliche Liebe und gesinnungsethische Forderungen immer wieder in den Vordergrund, so daß die auch vorhandenen Aufforderungen zu rechtlich-institutionellen Reformen eher verdeckt werden3. Aber die Verhältnisbestimmung von Liebe und Gerechtigkeit ist im Text eindeutig: Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus, kann und darf sie aber nicht ersetzen; vielmehr ist sie untrennbar mit ihr verbunden. "Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder - wie Paul VI. sagte - ihr 'Mindestmaß'" (Caritas in Veritate 6). Ähnlich erfolgte die Verhältnisbestimmung schon bei Pius XI. in der Enzyklika "Quadragesimo Anno" (137).

Das Bemühen um Gerechtigkeit kommt in unserer menschlichen, fehlbaren und unvollendbaren Welt an kein Ende, und deshalb ist die über sie hinausgehende, auch sie letztlich motivierende Liebe nötig, auch in Form organisierter Caritas. Aber aus dem gleichen Grund gebietet die Liebe, daß wir uns unablässig für Gerechtigkeit einsetzen. Die Frage, was Gerechtigkeit jeweils in konkreten Notlagen und Problemen fordert, ist die leitende Frage Christlicher Gesellschaftslehre. Sie fragt nach der Notwendigkeit, falsche, sündhafte Strukturen zu ändern, bessere Institutionen und Ordnungen durchzusetzen; sie sucht nach den besseren Lösungen in den sozialen Konflikten und im politischen Streit. Aus dieser Erkenntnis, die schon Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler gewann, resultierte die Notwendigkeit einer spezifischen Katholischen Soziallehre neben der Moraltheologie und über sie hinaus. Ihr Formalobjekt als Wissenschaft ist die Leitfrage nach einer gerechten Ordnung aller sozialen Beziehungen und Gebilde von der Familie bis zum Staat und zur Staatengemeinschaft gemäß der vom christlichen Glauben erleuchteten Vernunft.

Man kann allerdings nicht übersehen, daß die lehramtliche Sozialverkündigung dazu neigt, die christliche Ermahnung und den moralischen Appell zur Verhaltensänderung stärker zu betonen als die Notwendigkeit struktureller Reformen. Der Hinweis auf letztere fehlt nie, wird aber, zumal durch die starke Betonung der theologischen, besonders auch der christologischen Grundlagen der Soziallehre seit Johannes Paul II., oft überdeckt und tritt deshalb in der öffentlichen und kirchlichen Rezeption der Lehre in den Hintergrund - eine Asymmetrie, die eher aus kirchlichen Sprach- und Hörgewohnheiten resultiert als aus dem, was sachlich gesagt wird. Dessen politischer Kern wird nicht deutlich genug formuliert und zu wenig rezipiert.

Von der Soziallehre zur Sozialethik

Gerechtigkeit ist ein weites Feld. So wie das Bemühen um sie an kein Ende kommt, so auch nicht der Streit um das, was sie eigentlich meint und fordert; zumal da soziale Gerechtigkeit, nicht nur als Kampfbegriff, sondern auch als ethisches Postulat, über die Bedeutung der traditionell als Tugend verstandenen Gerechtigkeit weit hinausgeht. Die Christliche Gesellschaftslehre hat zu ihrer näheren Bestimmung ihre bekannten und immer wieder ins Feld geführten Prinzipien entwickelt: Personalität und Gemeinwohlorientierung, Solidarität und Subsidiarität. Sie sind zweifellos im Streit um Gerechtigkeit hilfreich, sogar notwendig, wenn einseitige, gar falsche Lösungen verhindert werden sollen. Aber sie bilden selbst ein spannungsvolles Gefüge ebenso wie die aus ihnen zu begründenden unterschiedlichen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit (Bedürfnis-, Leistungs-, Verteilungs-, Teilhabe-, Generationen-Gerechtigkeit). Man kann aus den orientierenden Prinzipien nicht die richtigen Lösungen ableiten. Der Versuch dazu ist ein schlimmer Irrtum, der nicht selten das Niveau der politischen Diskussionen, auch zwischen kirchlichen Gruppen, schwer beeinträchtigt. In vielen ihrer wohlmeinenden Vertreter ist die Katholische Soziallehre prinzipienlastig, deklamatorisch - eine weitere Asymmetrie.

Prinzipien liefern nicht die Lösungen; vielmehr dienen sie zur Orientierung in der unabdingbaren Analyse von Sachverhalten und Problemen. Diese Analyse bedarf aber des Sachverstandes im jeweiligen Bereich, ebenso der politischen Erfahrung und Klugheit zur Abschätzung situationsbedingter Möglichkeiten und Grenzen. Durch solche, von Prinzipien geleitete, von Sachverstand und Erfahrung getragene Analyse wird Soziallehre zur Sozialethik; zu bereichsspezifischen Aussagen, die ebenso gut empirisch wie normativ begründet sein müssen, wenn ihre Vorschläge und Forderungen im öffentlichen Diskurs standhalten sollen. Hier liegt der systematische Grund für die Ausdifferenzierung der Katholischen Soziallehre zu bereichsspezifischen Ethiken wie Wirtschaftsethik, Medienethik, Ökologische Sozialethik, Entwicklungsethik, Friedensethik, Politische Ordnungsethik. Heutige Gesamtdarstellungen dokumentieren, wenn auch in unterschiedlicher Weise, daß Katholische Soziallehre oder Christliche Sozialethik alle Bereiche des Gesellschaft­lichen und Politischen bearbeitet. Deshalb ist ein Streit zwischen "Soziallehrern" und "Sozialethikern" reichlich überflüssig.

Daraus folgt aber auch, daß Katholische Soziallehre, wenn sie zur Lösung gegenwärtiger Probleme beitragen will, unabdingbar auf die Kooperation mit den profanen Wissenschaften angewiesen ist. Sie darf nicht zu moralisierender Begleitmusik zu den Fachdiskussionen oder zum politischen Streit verkümmern. Joseph Höffner wollte in Münster niemanden zur Habilitation in Christlicher Gesellschaftslehre zulassen, der nicht auch Wirtschaftswissenschaft studiert habe. Heute muß man das erweitern. Der christliche Sozialethiker sollte über seine eigene Disziplin hinaus in einer der profanen Wissenschaften beheimatet sein, die es mit Gesellschaft und Politik zu tun haben.

Nur wenn sie sich in einem dieser Bereiche auskennen, haben christliche Sozialethiker die Chance, ins Gespräch zu kommen mit den profanen Wissenschaften und mit ihren unterschiedlichen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Konzepten, die heute als Grundlage empirischer Wissenschaften diskutiert werden. Darin liegt, wie die Fachleute wissen, Konfliktpotential auch innerhalb der "Zunft" der Katholischen Sozialethiker. Manche befürchten, im Dialog mit solchen Theo­rien, erst recht in ihrer Adaption, liege die Gefahr, die eigenen tradierten Grundlagen zu verlieren. Der Dialog ist aber unvermeidbar, und er ist notwendig, gerade wenn Katholische Soziallehre ihre eigenen philosophisch-theologischen Grundlagen zeitgemäß reformulieren will. Daß die einfache Wiederholung alter naturrechtlicher Positionen nicht mehr genügt, sagt auch der jetzige Papst4.

Bescheidenere Rolle der lehramtlichen Verkündigung

Eine weitere Konsequenz daraus heißt, daß die Träger des Lehramts ihre Rolle in diesem Prozeß anders als bisher definieren und wahrnehmen müssen. Die lehramtliche Autorität kann in diesem Feld nur sparsam und konzentriert auf Grundfragen eingesetzt werden und ist, wo sie darüber hinausgeht, auf Kooperation mit den Fachleuten der Sozialwissenschaften sowie mit den sozial und politisch aktiven Laien angewiesen. Die Katholische Soziallehre ist seit langem kopflastig. Die zahlreichen offiziellen Verlautbarungen der Träger des Lehramtes stehen in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrer Be- und Verarbeitung in den Sozialwissenschaften, erst recht nicht zur Rezeption in der kirchlichen und profanen Öffentlichkeit. Zu dieser Asymmetrie einige Zahlen.

In den 30 Jahren seit 1980 zählen wir an kirchenoffiziellen Verlautbarungen zu gesellschaftlich-politischen Fragen: 25 Texte vom Heiligen Stuhl, davon vier Sozialenzykliken, nicht eingerechnet die Ansprachen der Päpste auf ihren Pastoralreisen und die jährliche päpstliche Friedensbotschaft; 20 Texte als "Stimmen der Weltkirche"; 15 Texte der Deutschen Bischofskonferenz, 13 ihrer Kommissio­nen, acht ihres Vorsitzenden; hinzu kommen zehn gemeinsame ökumenische Texte.

Natürlich muß sich die Kirche an den ständig neu sich bildenden Meinungen und Positionen in der Öffentlichkeit beteiligen. Aber Kirche sind auch die Organe und Gremien der Laien, ihrer Verbände und Räte, des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Deren oft mit viel Zeitaufwand und Sachverstand erarbeiteten Stellungnahmen - wahrscheinlich auch viel zu viele - können es in einer Öffentlichkeit, die Kirche immer noch gern mit Klerus identifiziert, allenfalls zu einer Nachricht in der Zeitung bringen. Unser ganzer "Verlautbarungskatholizismus" ist weit davon entfernt, die kirchliche Soziallehre durch sozialethische "Be- und Verarbeitung" politisch wirksam zu machen.

Das Lehramt hat größere Chancen, gehört zu werden, wenn es nicht immer wieder die gleichen Mahnungen ausspricht und "Werte" beschwört, vielmehr sich darauf konzentriert, die wirklich provokanten Probleme, die "himmelschreienden" Mißstände in unserer Welt in Wahrnehmung "prophetischer Kritik" zu benennen. Das kann nur sparsam geschehen, muß dann aber um so deutlicher sein und wäre wirksamer, als zu allem und jedem immer wieder dasselbe zu sagen.

Schon dort, wo "prophetische Kritik" sich verbindet mit dem Aufweis möglicher Abhilfen, ist sie auf Kooperation mit Fachverstand angewiesen. Aber es gibt Felder, auf denen diese Verbindung wirksam zu machen, dringend nötig wäre. Wo zum Beispiel wird im christlichen Europa grundsätzliche Kritik daran formuliert, daß die europäische Agrarpolitik immer noch Agrarexporte in Armutsländer subventioniert und dort Märkte zerstört. Dazu Wegweisendes zu sagen, wäre wichtiger als die Einmischung von Bischöfen in den Streit um Hartz IV-Sätze oder um die Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken. Oder: Wo ist die entschiedene Anprangerung der korrupten und diktatorischen Regime in nicht wenigen Armutsländern der Erde, die ihren Bürgern soziale und politische Teilhabe vorenthalten und so auch jede positive soziale Entwicklung blockieren?

Kooperation mit Sachverständigen ist in den Kommissionen der Deutschen Bischofskonferenz selbstverständliche Praxis. Aber an deren Arbeit wundert einen seit langem, daß sie nicht in Verbindung mit den entsprechenden Kommissionen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken erfolgt, obwohl sich nicht selten beide Seiten von den gleichen Fachleuten beraten lassen. Hier wären Kräfte zu bündeln, Ressourcen zu sparen und zugleich gemeinsame Aussagen als solche der deutschen katholischen Kirche in der Öffentlichkeit mit mehr Gewicht zu vertreten. Der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit beider Einrichtungen täte das keineswegs Abbruch. Es entspräche vielmehr der Feststellung des Zweiten Vatikanischen Konzils, Gesellschaft und Politik seien das Feld der Laien und deren Sachverstand und Erfahrung sollten auch auf die Wahrnehmung der geistlichen Leitungsämter zurückwirken.

Ähnliches gilt international und auf Weltebene. Erzbischof Reinhard Marx erwähnte in seinem Vortrag auf der Münchener Tagung seine Gespräche mit den "Neoklassikern in Chicago", beim Weltwährungsfonds und bei der Weltbank und hielt als Eindruck daraus unter anderem fest, die Katholische Soziallehre sei vielleicht noch nicht in der Lage, diese Gespräche zu führen; sie suche auch den Kontakt auf dieser Ebene nicht. Es gibt aber auch auf dieser Ebene und in ihren Institutionen christlich orientierte Fachleute. Mit ihnen zusammen politisch-institutionelle Lösungen zu suchen für die Probleme, die Marx treffend benannt hat, wäre dringlich: Wie kann das Finanzkapital wieder stärker an die Realwirtschaft rückgebunden werden? Wie können Rendite, Risiko und Haftung im Geschäft der großen Banken enger miteinander verbunden werden? Wie können die Normen des Internationalen Arbeitsamtes (ILO) etwa im Rahmen der Welthandelskonferenz (WTO) wirksam gemacht werden? Wie kann ein neues Verständnis von "Wachstum" geistig und politisch durchgesetzt werden? Wie können neue Wege zur Finanzierung des Sozialstaates in den europäischen Wohlstandsgesellschaften gemäß dem Prinzip der Subsidiarität, weg vom herrschenden Paternalismus, gefunden werden? Der diesbezügliche Vorschlag des Papstes in "Caritas in Veritate" (60) wurde in der vielstimmigen Diskussion über die Enzyklika bisher nicht beachtet!

Katholische Soziallehre kann also nur dann hilfreiche Sozialethik werden, wenn sie sich gemeinsam mit dem Fachverstand profaner Wissenschaften und mit der Erfahrung politischer Akteure darum bemüht, strukturelle Probleme der heutigen Gesellschaft zu benennen, dafür nach rechtlich-institutionellen Reformen und nach Möglichkeiten ihrer politischen Durchsetzung zu suchen.

Die neue Basis

Das Problem der politischen Durchsetzung wirft die Frage nach christlichen Kräften in der Gesellschaft auf, die für entsprechende Reformen streiten. Eine katholisch-soziale Bewegung, die dritte, ursprünglich die erste Kraft in dem alten Dreieck, gibt es in der alten Form nicht mehr. Die Sozialverbände sind personell ausgedünnt. Man kann ihnen nicht absprechen, sich um Rezeption und Umsetzung kirchlicher Soziallehre zu mühen. Sie tun das sporadisch unter ihren Interessenaspekten, unter oft mühsamen Versuchen der Koordinierung im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das in seinen Aussagen dem Pluralismus von Katholiken in politischen Fragen Rechnung tragen muß. Die frühere Verbindung mit der Politik, den politischen Katholizismus, gibt es nicht mehr. Es hat keinen Sinn, eine an­geblich bessere Vergangenheit zu beschwören, vielmehr müssen neue Chancen genutzt werden. Inzwischen ist eine neue Basis entstanden.

Längst gibt es neben den klassischen Verbänden in Deutschland auf allen kirchlichen Ebenen die Laienräte, und es gibt zahlreiche christliche Initiativen und Gruppen, die sich gezielt bestimmter Probleme annehmen, Kampagnen und Projekte tragen. Die vielfältigen Aktivitäten dieser Kräfte sind nicht selten angestoßen, motiviert und unterstützt von den weltweit agierenden kirchlichen Hilfswerken, die ihrerseits heute zentrale und professionell geführte Aktivitätszentren zur Realisierung globaler Solidarität darstellen.

Die kirchlichen Hilfswerke sind in der Kirche in Deutschland vielfältig vernetzt: mit der Bischofskonferenz, mit der Kommission "Justitia et Pax" und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, mit den Referaten "Weltkirche" in den Diözesen, mit den Diözesanräten, auch direkt mit manchen Pfarreien, wenn sie deren Partnerschaften nach draußen unterstützen. Die jährlichen Sammel-Sonntage der Werke erinnern jeweils neu an Weltkirche und Weltprobleme unter verschiedenen Aspekten. Das alles sind gute Voraussetzungen für öffentliches Wirken und für ein waches und wirksames weltkirchliches und weltpolitisches Bewußtsein der deutschen Katholiken. Wie steht es damit?

Angeregt von den Hilfswerken, zunächst besonders von "Misereor", sind seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehrfach empirische Erhebungen dazu gemacht worden. Zuletzt hat die Deutsche Bischofskonferenz 2006 das Projekt "Zur Zukunft der weltkirchlichen Arbeit in Deutschland" in Auftrag gegeben. Veranlaßt war es von der Erfahrung, daß die Aufmerksamkeit in den Pfarreien für weltkirchliche Belange ebenso wie die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter und die Einnahmen der Kollekten rückläufig sind5. Die Studie, die als repräsentativ angesehen werden darf, bestätigt diese Erfahrung mit ihren Daten, auch wenn sie positiv feststellen kann, daß weltkirchliches Engagement in über der Hälfte der Pfarreien als wichtiges Anliegen gilt. Es ist aber durchweg Sache weniger Engagierter, und daß es das Gemeindeleben durchdringe, können nur wenige sagen. Mehr Beteiligung wird an der Basis ebenso wie von den Diözesen und den Werken für dringend erforderlich gehalten.

Die Studie enthält wichtige Ergebnisse, die auch für die kirchliche Sozialverkündigung und für die wissenschaftliche Sozialethik von besonderer Bedeutung sind bzw. sein müßten. Zwischen den Gemeinden, den Referaten der Diözese und den Werken gibt es erhebliche Kommunikationsmängel. Der kirchliche Fonds für weltkirchliche Bildungsarbeit ist wenig bekannt und genutzt. Die vielen ausländischen Seelsorger in Deutschland spielen als Partner für weltkirchliche Arbeit kaum eine Rolle. Projektpartnerschaften in Pfarreien gibt es nicht wenige; aber sie hängen in der Regel am Engagement einzelner und bedürften dringend qualitativer Verbesserung. Besonderen Qualifizierungsbedarf sehen die Fachleute der Werke und der Diözesen in der weltkirchlich bezogenen Bildungsarbeit, in der Ausbildung der künftigen Seelsorger und in der Theologie. Ebenso werden Mängel in der Öffentlichkeitsarbeit konstatiert und damit zusammenhängend politische Defizite. Arbeit und Aktionen der Werke dringen wenig über die Gottesdienstgemeinden hinaus. Die Werke selbst verstehen und betätigen sich zwar auch als Agenten im politischen Prozeß, bieten Expertisen für Politik und Beratung für Politiker, aber in den Pfarreien erscheint diese Seite ihrer Tätigkeit eher als unwichtig; sie wird nicht wahrgenommen.

Die Spendenbereitschaft kirchentreuer Katholiken scheint ungebrochen. Das ist bewundernswert, aber ihre Zahl ist rückläufig, und ihre gesellschaftlich-politische Motivation und Orientierung scheinen wenig ausgeprägt. Man darf nicht tadeln, daß das vorherrschende Spendenmotiv die christliche Nächstenliebe ist; wissen wir doch aus Glauben und Erfahrung, daß diese nicht nur das zentrale, sondern auch das dauerhaft wirksamste Motiv der Zuwendung zum Nächsten ist. Aber es muß sich stärker als beobachtbar auch im politischen Willen zu weltweiter Solidarität und Gerechtigkeit in den Beziehungen und Ordnungen der Völker auswirken. Daraus ergeben sich Forderungen an die kirchliche Sozialverkündigung ebenso wie an die Katholische Soziallehre/Sozialethik als Wissenschaft.

Die Sammelsonntage der Hilfswerke sind in Liturgie und Pastoral der Mehrzahl der Pfarreien Routine geworden. Das ist unvermeidlich; aber bloße Routine verbraucht Kräfte, erneuert sie jedoch nicht. Zur bloßen Routine gehören auch die jeweils kurzen Aufrufe der Bischöfe vor den Sammlungen. Vielleicht wäre es wirksamer, sie zu ersetzen etwa durch ein jährliches gemeinsames Hirtenwort mit wechselnden Themen- und Länderschwerpunkten, das konkretere Nöte, Aufgaben und auch Erfolge der Hilfswerke eindringlich vor Augen führte und so die Kirchenbesucher wie die Öffentlichkeit aufrüttelnd und aufklärend ansprechen könnte.

Auch kirchliche Bildungsarbeit und Theologie, besonders Soziallehre und Pasto­raltheologie, müssen sich intensiver als bisher dieser Aufgabe zuwenden. Die Umwandlung der kirchlichen Sozialverkündigung in eine politisch relevante Sozialethik ist, wie oben dargelegt, eine Aufgabe für Sozialwissenschaften und politische Bildung. Die Hilfswerke sitzen heute auf einem Schatz von Erfahrungen aus jahrzehntelanger Arbeit. Es ist erstaunlich, wie wenig dieser in Theologie/Soziallehre und Bildungsarbeit einfließt, auch wenn es rühmliche Ausnahmen bei Orden, in einzelnen Bildungshäusern und Verbänden gibt. Diese dringen nicht in die Breite des Kirchenvolkes.

Es wäre ein Mißverständnis zu meinen, hier werde dafür plädiert, Katholische Soziallehre solle sich künftig nur noch mit den Problemen der internationalen Politik und der Weltgesellschaft befassen. Unsere innergesellschaftlichen Ordnungs- und Gestaltungsfragen bleiben selbstverständlich Gegenstand ihres Bemühens. Aber diese stehen heute unweigerlich in globalem Kontext. Fragen wie die nach der heute möglichen Gestalt Sozialer Marktwirtschaft, nach Funktionsfähigkeit und Reform unseres Sozialstaats, nach der Bewältigung von Problemen wie Migration und Integration, nach Energiesicherheit und ökologischer Nachhaltigkeit, nach Menschenrechten und Frieden können nicht mehr im nationalen Rahmen behandelt und beantwortet werden. Sie sind bedingt durch weltweite Interdependenz vieler Faktoren. Deshalb müssen wir unsere Lösungsversuche und Antworten auch weltweit verantworten.

Neue Relevanz der Katholischen Soziallehre in Kirche und Öffentlichkeit

Nur wenn die Katholische Soziallehre die hier aufgezeigten alten Asymmetrien überwindet und ihre neuen Chancen nutzt, kann sie ein Stück ihrer früheren Relevanz im Bewußtsein der Christen und auch in der politischen Öffentlichkeit wiedergewinnen.

In der Kirche muß sich gegen derzeitige Trends die Einsicht neu durchsetzen, daß ihre Soziallehre keine Spezialsparte ihres Wirkens für einige Profis ist, sondern eine der modernen Welt angemessene Form ihrer Diakonie. Diese ist bekanntlich der dritte ihrer Grundvollzüge, von gleicher Bedeutung wie Verkündigung und Liturgie. Der heute von nicht wenigen mit dem Vorwurf der Selbstsäkularisierung der Kirche garnierte und propagierte Rückzug auf das "Kerngeschäft" würde zu einer viel schlimmeren Asymmetrie führen als die hier aufgezeigten. Der Rückzug in die Sakristei, möglicherweise verbunden mit breiter Rückkehr zur Tridentinischen Messe, würde die Kirche zu einer selbstgenügsamen Sekte machen.

Wir brauchen auch keinen neuen Ultramontanismus, keinen Personenkult um den Papst. Weltkirchliches Bewußtsein denkt und fühlt mit dem Papst als dem "Vicarius Christi", dem ersten und universal wirkenden Zeugen seiner Kirche. Die Päpste unserer Zeit - von Johannes XXIII. über Paul VI. und Johannes Paul II. bis zu Benedikt XVI. - waren und sind alle, wenn auch in unterschiedlichen Weisen und Formen, Zeugen für die universale Botschaft des Glaubens, daß Jesus Christus das Heil der Welt bedeutet, der ganzen Welt, und daß daraus Sendung und Verpflichtung der Christen zu Solidarität mit der Menschheit folgen. Dem entspricht nicht die "kleine Herde", die sich ihre religiösen Bedürfnisse erfüllt und für die heillos gewordene Welt nur moralische Verurteilungen übrig hat.

Eine Erneuerung der diakonischen Dimension kirchlichen Wirkens in Orientierung an der auf die eine Menschheit bezogenen Christlichen Soziallehre könnte auch herausführen aus der ständigen Selbstbeschäftigung kirchlicher Kräfte mit ihrer "Krise", würde neue Ziele, neue Aufgaben, neue Möglichkeiten christlichen Lebens und Zeugnisses in der heutigen Welt zeigen und ergreifen lassen. Alle Fachleute der Eine-Welt-Arbeit sagen uns, daß etwa in den freiwilligen Diensten junger Menschen große Chancen stecken. Wir müssen sie stärker aktivieren, fordern und fördern. Es dürfte ferner heute keine Pfarrgemeinde, keinen kirchlichen Verband mehr geben ohne eine lebendige, direkte Verbindung mit einem Partner irgendwo in der weiten Welt, möglichst in hilfreicher Verbindung mit einem der Hilfswerke. Beheimatung in der eigenen, der örtlichen, der regionalen, der nationalen Kirche und weltkirchliches Bewußtsein müssen zusammenfinden.

Sozialethik und Pastoraltheologie als Wissenschaften müssen dazu die Brücke schlagen zwischen der kirchenamtlichen Soziallehre und der kirchlichen und politischen Praxis der Christen, durch den Aufweis der strukturellen Probleme in der heutigen Weltgesellschaft und durch Suche nach Möglichkeiten ihrer Überwindung. Je mehr sie dies in Kooperation mit den profanen Wissenschaften versuchen, um so mehr gewinnt Katholische Soziallehre als Sozialethik auch wieder Relevanz für die profane Öffentlichkeit. Öffentliche Relevanz besteht darin, daß man Themen bestimmen und der öffentlichen Diskussion eine Richtung geben kann.

Papst Johannes Paul II. hat einmal gesagt, die Antwort der Christen auf die zunehmende Interdependenz der Völker und Staaten in der heutigen Welt sei die Mehrung von Solidarität (vgl. Sollicitudo rei socialis 38-40). Das Zweite Vatikanum hat unseren Glauben an eine künftige neue Welt und das Bemühen um die Verbesserung dieser vorläufigen Welt prägnant miteinander verbunden, indem es sagte, die Erwartung einer neuen Erde dürfe "die Sorge für die Gestaltung dieser Erde, auf der sich der wachsende Leib einer neuen Menschenfamilie wie ein Entwurf der zukünftigen Welt darbietet, nicht abschwächen, sondern sie im Gegenteil anspornen" (GS 39). Deshalb ist weltweite Solidarität heute unabdingbar mit christlichem Glauben verbunden.

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