Über Jahrzehnte hinweg war kontextuelle Theologie etwas, das wir in Europa mit der südlichen Hemisphäre in Verbindung brachten - abgesehen von feministischer und Schwarzer Theologie, die ihre Wurzeln in Nordamerika und Europa haben. Es sind zumeist auch Theologen der Dritten Welt, die sich in besonderer Weise auf ihren Kontext berufen, um deutlich zu machen, warum sie eine andere Weise des Theologisierens fordern. Das Ende der Kolonialzeit läutete den Abschied vom Modell der Missionskirche ein, und es entstand die Notwendigkeit eines theologischen Neuanfangs jenseits von europäischer Bevormundung. Inhaltlich berufen sie sich auf Postcolonial studies, die eine Ideologisierung der Aufklärung hinter der Theologie der Europäer entlarven.
Die Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen (EATWOT) spricht von einem dreikontinentalen Dialog, da die Themen Befreiung und Inkulturation die Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika gleichermaßen angehen. Inkulturationstheologie beschäftigt sich mit dem Verhältnis der christlichen Botschaft zu kulturellen Traditionen. In Asien reflektiert sie die Möglichkeit der Anknüpfung an die traditionsreichen hinduistischen, buddhistischen und konfuzianischen Denkmodelle und Ausdrucksformen. Besondere Brisanz haben dort christologische Themen angesichts der dominierenden Präsenz alternativer Erlösungswege.
Im afrikanischen Kontext geht das Bemühen dahin, traditionelle Gesellschaftsstrukturen, die sich im Clan und in den Ahnen widerspiegeln, positiv zu erschließen. Das Bild von der Kirche als Familie Gottes und die Betonung der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten holen diese Wirklichkeit ein. Kritisiert wird an der Inkulturationstheologie eine Tendenz zum Kulturromantizismus, der von den aktuellen Problemen der Menschen ablenke.
Die anthropologische Betrachtung steht bei der Befreiungstheologie im Mittelpunkt: Der Auszug aus Ägypten wiederholt sich, wo der Glaube Menschen befähigt, gegen ungerechte Strukturen und entfremdende Verhältnisse aufzustehen. Christus ist der Befreier, da sich in seinem Geschick Gottes Option für die Armen offenbart hat. Inspiriert durch die Entwicklungen in Lateinamerika, sind Befreiungstheologien auch in Afrika und Asien entstanden. Allerdings verlangt die jeweilige Analyse der Situation unterschiedliche Handlungsstrategien. Beispielsweise haben asiatische Theologen mit Blick auf die Situation der Dalits in Indien herausgestellt, daß es bei der Befreiung der Unberührbaren nicht um ökonomische Strukturen allein geht, sondern um die sozioreligiöse Grundlegung des Kastensystems im brahmanischen Hinduismus. Zugleich wird betont, daß Dalits nicht allein durch ihre Armutssituation definiert werden dürfen, denn sie besitzen auch eine eigene kulturelle Tradition. Das zeigt, daß der Austausch in der Weltkirche über die soziokulturellen Regionen hinweg der Aufgabe kontextueller Theologie nur förderlich sein kann.
Das weltkirchliche Bewußtsein in Deutschland ist erfreulich stark. Auf vielfältige Weise wurden die neuen Aufbrüche in Afrika, Asien und Lateinamerika auch hierzulande unterstützt. Dennoch wird man den Eindruck nicht ganz los, daß es oft immer noch das Exotische ist, welches das Interesse an kontextueller Theologie wach hält. Deswegen verwundert es nicht, daß mancher theologische Entwurf aus dem Süden den Anschein erweckt, mehr die Bedürfnisse des europäischen Marktes zu bedienen, statt den Wandel der Realität vor Ort theologisch nachzuvollziehen. Kontextuelle Theologie muß aber immer wieder neu die kulturelle Veränderung und soziale Neuentwicklungen in Blick nehmen, damit sie sich nicht selbst ihre Grundlage entzieht. Die enorme Attraktivität charismatischer Gruppen und der Neo-Pfingstbewegung weltweit stellt unter dieser Rücksicht eine Anfrage an kontextuelle Theologie dar.
Zweifellos hat die gesteigerte Aufmerksamkeit für eigenständige Theologien in anderen Ortskirchen dazu beigetragen, daß die Kontextualität der Theologie in Europa verstärkt reflektiert wird. Seither ist man bemüht, den theologischen Gegenstandsbereich neben der geschichtlichen Entwicklung auch auf die soziokulturelle Verortung auszudehnen.
Damit wird nun endlich auch in Europa Wirklichkeit, was das Zweite Vatikanische Konzil im Missionsdekret fordert, nämlich daß in "jedem soziokulturellen Großraum die theologische Besinnung angespornt werden (soll)" (AG 22). Der Verweis auf den soziokulturellen Raum bezieht sich auf die aktuelle Lebenswelt im Sinn kontextueller Theologie und ist nicht allein geographisch zu verstehen. Viele lokale Theologien sind seither weltweit entstanden. Es fällt schwer, den Überblick zu behalten: Teología india (Mexiko), Minjung-Theologie (Korea), Bauerntheologie (Philippinen), Igbo Theologie (Nigeria) usw. Das Verbindende ist die Einbeziehung der Erfahrung in die theologische Reflexion als drittes Moment - neben Schrift und Tradition. Dieses Zueinander der drei Momente wird in den verschiedenen Zugängen unterschiedlich gefaßt.
Eine umfassende methodologische Reflexion steht noch aus. So viel jedoch ist klar: Es geht bei Kontextualität nicht um einen einfachen Übersetzungsvorgang im Sinn von Anpassung an lokale Gegebenheiten, sondern um die Einbeziehung der Situation in den theologischen Prozeß von Anfang an. Wo Evangelium und Tradition in einen Dialog mit einer Lebenswelt eintreten, kann sich die Dynamik des christlichen Glaubens neu aus der Kultur heraus erschließen, während er zugleich seine transformierende Kraft gegenüber der partikularen Umwelt entfalten wird. Kontextualisierung der Theologie tut auch in Europa not - aber nicht in der Weise, daß Modelle aus anderen Ortskirchen einfach kopiert werden. Wenn sie ihren Ausgang bei jenen Erfahrungen der Menschen nimmt, durch die Gottes Geist die Ankunft des Evangeliums bereits vorbereitet - ohne die kritischen Stellen der kulturellen Realität, die nach Befreiung verlangen, zu umgehen -, wird sie auch in unseren Breiten Früchte tragen.