"Gott, erhalte uns die Kommunisten": Dieser Satz, halb im Ernst, halb im Scherz gesprochen, stammt aus dem Mund eines polnischen Bischofs, mit dem ich in den 60er Jahren ein Gespräch über die kirchliche Situation in seinem Land führte. Es war die Zeit der Großen Novene in Vorbereitung auf das Millennium der "Taufe Polens" im Jahr 966. Eine Kopie des Gnadenbildes der Schwarzen Madonna zog von Pfarrei zu Pfarrei, wurde mit Triumphbögen als Königin Polens empfangen, der das Versprechen galt, sich in ihren Dienst zu stellen "für die Freiheit der Kirche und des Vaterlandes". Dem hatten Staat und Partei mit ihrer "Jahrtausendfeier polnischer Staatlichkeit" kaum etwas entgegenzusetzen. Nicht die kommunistische Partei, sondern die Kirche erwies sich als Repräsentantin der Nation. Während in den anderen kommunistisch regierten Ländern Mittel- und Osteuropas die Kirchen empfindliche Verluste zu verzeichnen hatten und sich einer zunehmenden Atheisierung der Gesellschaft gegenüber sahen, ging Polens Kirche aus dem Jahrzehnte währenden Kirchenkampf gestärkt hervor.
Die Krönung dieser Entwicklung war der 16. Oktober 1978 mit der Wahl des Krakauer Metropoliten Karol Wojtyla zum Papst. Ich habe damals vor Ort den Enthusiasmus erleben dürfen, der angesichts dieser Entscheidung die gesamte Nation erfaßt hatte. Es war atmosphärisch zu spüren, daß mit ihr für Polen und über Polens Grenzen hinaus eine neue Zeit angebrochen war. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch die erste Pilgerreise Johannes Pauls II. in seine Heimat im Juni 1979: Die Nation erlebte sich in der Einheit mit "ihrem" Papst. Und der verwies in seinen Ansprachen immer wieder auf die tiefe christliche Verwurzelung der polnischen Nation. Seine Predigt auf dem Warschauer Siegesplatz beschloß er mit der Anrufung des Heiligen Geistes zur Erneuerung der Erde - "dieser Erde".
Die Erneuerung ließ nicht lange auf sich warten. Ein Jahr später erschütterten Streiks das Land. Die Arbeiter kämpften um höhere Löhne, doch bald auch um Freiheitsrechte. Am Werktor der Danziger Leninwerft hingen die Bilder der Schwarzen Madonna und des Papstes. Solidarnosc wurde gegründet und kämpfte um Anerkennung als freie Gewerkschaft. Die ausgehandelte Vereinbarung zwischen ihr und der Regierung unterzeichnete Lech Walesa mit einem überdimensionalen Stift mit dem Bildnis des Papstes. Als nach 16 Monaten Wojciech Jaruzelski, der General mit der dunklen Brille, am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte, das die Aktivisten der Solidarnosc zu Tausenden hinter Gitter brachte, sah man in den Kirchen der Grablegung Jesu nachempfundene Solidarnosc-Gräber, verbunden mit der Sehnsucht nach einem neuen Ostern. In dieser Hoffnung bestärkte Johannes Paul II. die Nation auf seiner 1983 unternommenen Reise in das unter der Gewalt leidende Land. Am Ende mußte das System vor der Solidarnosc kapitulieren, sich mit ihren aus der Haft entlassenen Vertretern unter Vermittlung der Kirche an einen Tisch setzen und den Weg für eine neue Zukunft frei machen.
Schwierige kirchliche Selbstfindung in der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft
Angesichts dieser Vorgeschichte konnte sich Polens Kirche 1989, im Jahr des Umbruchs, mit einem gewissen Triumphalismus als Überwinderin des kommunistischen Systems verstehen. Aber wie sollte sie sich auf die neue Situation einstellen? Welche Rolle für sich in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft beanspruchen? Würde sie in der Lage sein, die in der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System herausgebildete Denkweise einer Konfrontation zwischen "wir" und "sie" zu überwinden? Oder würde sie nach wirklichen oder vermeintlich neuen Feinden Ausschau halten und sich damit gesellschaftliche und innerkirchliche Konflikte einhandeln? Würde sie es an Offenheit und Dialogbereitschaft gegenüber der säkularen Gesellschaft fehlen lassen, in einer Festungsmentalität verharren und sich damit letztlich ins gesellschaftliche Abseits manövrieren? Es zeigte sich, daß sich Polens Kirche mit einer eindeutigen Beantwortung solcher Grundsatzfragen in den Folgejahren schwer tat. Die Meinungen über die Präsenz der Kirche in der säkularen Gesellschaft gingen innerhalb der Hierarchie wie unter den Gläubigen weit auseinander.
Entsprechend waren die 90er Jahre für Polens Kirche äußerst spannungsreich. Wenngleich der Episkopat den Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft durchaus begrüßte, so hielt er doch am traditionellen Muster einer Symbiose von Kirche und Nation fest, übertrug dieses Modell auf die neuen Verhältnisse und versuchte auf diese Weise, die gesellschaftliche Entwicklung in seinem Sinn zu bestimmen. So erreichte die Kirchenführung die Einführung eines schulischen Religionsunterrichts am Parlament vorbei und handelte sich damit den Vorwurf ein, die demokratische Grundordnung zu mißachten. Sie drängte auf ein absolutes Abtreibungsverbot und mußte erfahren, daß sich dafür in der doch katholischen Nation keine Mehrheit fand. Sie verlangte eine für die Medien verbindliche gesetzliche Verankerung "christlicher Werte", was ihr als ein auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit zielender politischer Machtanspruch ausgelegt wurde.
Schließlich machte sie die Einstellung zur "christlichen Identität der Nation sowie zu einem Staatsaufbau auf dem Wertefundament des Evangeliums" zum Kritrium beim Urnengang zu den Parlamentswahlen1. Noch deutlicher äußerte sich Józef Michalik, der heutige Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz: "Katholiken haben die Pflicht, für einen Katholiken zu stimmen." 2 Dies bedeutete nicht mehr und nicht weniger als eine Politisierung des katholischen Glaubens. Sie führte zu einer jahrelangen öffentlichen Debatte, in der nicht nur antiklerikale Kräfte der Kirche ein Streben nach Theokratie vorwarfen, sondern auch innerhalb der Kirche Stimmen laut wurden, die den von der Kirche nach 1989 eingeschlagenen Weg mit Sorge verfolgten.
Ende der 90er Jahre schien es, als ob Polens Kirche durch bittere Erfahrung gelernt hatte, daß sich für sie ihre zuweilen massive politische Einmischung nicht gelohnt hatte. Nicht zuletzt durch eine Intervention Johannes Pauls II. verzichtete die Hierarchie nun auf Äußerungen, die sie in den Verdacht kirchlicher Politisierung bringen konnten3.
"Es naht das Gespenst einer spanischen Kirche"
Ende 2010 erregte der angesehene, einst mit der antikommunistischen Opposition eng verbundene Lubliner Dominikaner Ludwik Wisniewski besonderes Aufsehen. Am 11. September 2010 hatte er - an der Bischofskonferenz vorbei - an den Apostolischen Nuntius Celestino Miglione zu dessen Amtsbeginn einen Brief gerichtet, der ohne sein Zutun am 14. Dezember in der "Gazeta Wyborcza" publiziert wurde. Darin bringt er seine Sorge zum Ausdruck, Polens Kirche könnten in naher Zukunft spanische Verhältnisse drohen. Daß sie weit über das Ende des Kommunismus stabil geblieben sei, verdanke sie vor allem zwei überragenden Führungspersönlichkeiten: Kardinalprimas Stefan Wyszynski (1901-1981) und Johannes Paul II. (1920-2005). Beide hätten, jeder auf seine Weise, der polnischen Kirche ein "Gesicht" gegeben. Daran fehle es jetzt. Schlimmer noch: Es sei, zum Schaden der Kirche, gegenwärtig durch Gruppierungen bestimmt, die sich "für die wahren Polen und echten Katholiken" halten und sich in der Öffentlichkeit lauthals zu Wort melden. Ihr verzerrtes Kirchenbild wirke abschreckend, so daß "die junge Generation zunehmend vor einer solchen Kirche fliehe". Um der Kirche ihr "wahres Gesicht" zurückzugeben, schlägt Wisniewski eine "GROSSE DEBATTE zu den brennendsten Problemen" vor. Dazu sollten Expertengruppen den Standpunkt der Kirche zu den jeweiligen Fragen erarbeiten und die Ergebnisse der Bischofskonferenz zur Entscheidung zuleiten.
Der Brief stieß auf ein geteiltes Echo. Während er vom polnischen Primas, Erzbischof Józef Kowalczyk, und gleichgesinnten Bischöfen als für eine grundlegende Situationsanalyse wichtig begrüßt und die gute Absicht des Autors betont wurde, reagierten der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Józef Michalik, und Amtsträger aus dem Umkreis von "Radio Maryja" mit Ablehnung und wenig freundlichen Bemerkungen an die Adresse des Briefschreibers.
Der Konflikt um die künstliche Befruchtung "in vitro"
Auch wenn die politischen Machtverhältnisse in Polen einen ernsthaften Konflikt zwischen Staat und Kirche unwahrscheinlich machen, so hält es doch Wisniewski für erforderlich, durch eine Expertengruppe "den Ort der Kirche bei der Gesetzgebung zu klären" sowie "klar zu verdeutlichen, ob die Kirche das Recht hat, die Abgeordneten im Gewissen zu einem entsprechenden Gesetzesbeschluß zu verpflichten". Damit spielt er auf die gegenwärtig im Parlament geführte Debatte um "in vitro"-Fertilisation an.
Am 18. Oktober 2010 meldete sich die Kirchenleitung mit einem Brief an den Staatspräsidenten und den Premier sowie an weitere führende Mandatsträger zu Wort. Darin spricht sie sich für ein absolutes Verbot von "in vitro" aus, wie es von der oppositionellen Partei "Recht und Gerechtigkeit" verlangt wird. Dabei gehen die Bischöfe davon aus, daß die Methode "in vitro" notwendigerweise "den Tod vieler menschlicher Wesen" nach sich ziehe. Sie warnen zudem vor den sozialen Folgen einer verbreiteten Anwendung dieser Methode. Sie sei weder mit den Erkenntnissen der Wissenschaft, noch mit den moralischen Geboten vereinbar. Mehr noch: Die Bischöfe rücken sie in die Nähe der "Eugenik", weil sie mit einer "Selektion" einhergehe.
Zwei Tage zuvor hatte Erzbischof Henryk Hoser, der Vorsitzende der kirchlichen bioethischen Kommission, in einem Interview erklärt, Abgeordnete, die für die Methode "in vitro" stimmen, würden sich von der kirchlichen Gemeinschaft automatisch ausschließen. Diese Androhung einer Exkommunikation wurde als Versuch kritisiert, auf die Parlamentarier einen Gewissensdruck auszuüben. Doch weil in einem solchen Fall eine Exkommunikation durch das kanonische Recht nicht gedeckt sei, stieß ihre Androhung auch auf innerkirchlichen Widerspruch.
Die gegenwärtige Debatte erinnert an die Auseinandersetzung der 90er Jahre um eine gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Auch damals trat die Kirche für ein absolutes Verbot ein, ohne daß sie dafür in der Gesellschaft eine Mehrheit fand. Nicht anders ist es heute. Nach Umfragen sprechen sich zwei Drittel der Bevölkerung für die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung aus. Ihr Hauptmotiv ist der verständliche Kinderwunsch unfruchtbarer Paare - ein Aspekt, der in den kirchlichen Erklärungen unter Hinweis darauf, daß es kein Naturrecht auf ein Kind gebe, kaum eine Rolle spielt.
Wie bei der Abtreibungsdebatte wird sich Polens Kirche auch bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung am Ende mit einem Kompromiß zufrieden geben müssen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist ein striktes Verbot künstlicher Befruchtung nicht durchsetzbar. Eine Stimmenthaltung sich im Gewissen gebunden fühlender Abgeordneter würde denen das Feld überlassen, die eine radikale Freigabe künstlicher Befruchtung befürworten. Es kann daher in der gegenwärtigen Debatte, auch im Sinne der Kirche, nicht um "alles oder nichts" gehen, sondern darum, die nach Lage der Dinge bestmögliche Lösung zu finden, um die im übrigen gegenwärtig zwischen den Positionen von "Recht und Gerechtigkeit" und "Bürgerforum" gerungen wird.
Belastende Probleme der jüngsten Vergangenheit
Ludwik Wisniewski OP ist der Überzeugung, der Episkopat sei in der Frage der Gestalt der Kirche in der heutigen Welt "tief gespalten" und könne daher "keines der schwierigen, in unserer Kirche existenten Probleme lösen". Er sieht in der "Unfähigkeit, mit der veränderten Welt zu kommunizieren" und eine für sie verständliche Sprache zu sprechen geradezu die "Achillesferse" seiner Kirche. Was die aufgestauten Probleme betrifft, so verweist Wisniewski auf den Fall des Posener Erzbischofs Juliusz Paetz, auf die Überprüfung von Priestern und Bischöfen auf eine Tätigkeit im Dienst des Sicherheitsapparats sowie auf die Aktivitäten des Redemptoristen Tadeusz Rydzyk und seines mit Radio Maryja verbundenen Medienimperiums.
Ende 1999 kam der Posener Erzbischof Paetz ins Gerede. Ihm wurde vorgeworfen, sich an Seminaristen und jungen Klerikern sexuell zu vergehen. Die Anschuldigungen erwiesen sich als zutreffend. Gegen manchen innerkirchlichen Widerstand und nach einer Reihe vergeblicher Bemühungen konnte im März 2002 durch einen römischen Bescheid endlich sein Amtsverzicht erreicht werden. Der eigentliche Grund dieser Maßnahme blieb allerdings ungenannt und der Erzbischof so von weiteren Sanktionen verschont. Der zeigt sich denn auch mit Vorliebe bei besonderen, vom Fernsehen übertragenen Feierlichkeiten im Kreis seiner bischöflichen Mitbrüder und dies, so Wisniewski, "zum Ärgernis der Gläubigen".
Auch sonst war es bislang verbreitete kirchliche Praxis, sexuelle Mißbrauchsfälle von Priestern nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, um - wie man glaubte - dem guten Ruf der Kirche nicht zu schaden. Mit der Versetzung der betroffenen Priester war die Sache zumeist erledigt. Daß bei dieser fatalen klerikalen Solidarität kaum ein Gedanke an die Opfer verschwendet wurde, verschlimmert noch derlei Skandale. Bis heute fehlt eine von der Bischofskonferenz verabschiedete, alle Diözesen bindende Verfahrensweise bei Verdachtsfällen von Pädophilie kirchlicher Amtsträger. Ob sich eingedenk der kirchlichen Erschütterung durch die Mißbrauchsfälle in westlichen Ländern sowie aufgrund der neuen römischen Richtlinien künftig etwas ändert, bleibt abzuwarten.
Auch in der Frage der Verwicklung von Geistlichen in die Machenschaften des kommunistischen Überwachungsstaates zeigte der Episkopat wenig Interesse an einer Aufklärung. Ab 1997 hätte er aufgrund des Überprüfungsgesetzes die Möglichkeit zur Akteneinsicht gehabt. Er nutzte sie nicht. Als dann die Namen belasteter Priester durch die Medien bekannt wurden, geriet die Kirchenführung in die Defensive. Sie stellte den Wahrheitsgehalt der Akten in Frage und beschuldigte die Medien eines gezielten Kirchenkampfes. Wer wie Tadeusz Isakowicz-Zaleski, ein mit der Solidarnosc eng verbundener, einst von den Sicherheitsorganen brutal mißhandelter Priester, auf eigene Faust recherchierte, wurde kirchlich gemaßregelt. Es dauerte bis zum 20. August 2006, ehe der Episkopat unter dem Druck belastender Materialien Richtlinien für den Umgang mit als geheime Mitarbeiter der Sicherheitsorgane registrierten Priestern erließ und zur Aufklärung von Verdachtsfällen eine "Kirchliche Historische Kommission" berief.
Die Ironie der Geschichte wollte es, daß ihre erste Untersuchung dem auf den Warschauer Stuhl berufenen Erzbischof Stanislaw Wielgus galt. Er hatte die in der Presse gegen ihn erhobenen Vorwürfe hartnäckig geleugnet, was am 7. Januar 2007 zu einem in der Kirchengeschichte wohl präzedenzlosen Vorfall führte: In der dicht gefüllten Warschauer Kathedrale blieb der Bischofsstuhl leer. In Anwesenheit vieler Priester und Bischöfe sowie des Staatspräsidenten gab der Nuntius den Amtsverzicht von Erzbischof Wielgus bekannt. Zwei Stunden vor Beginn der Feierlichkeiten war die Mitteilung aus Rom eingetroffen, Papst Benedikt XVI. habe dessen Rücktrittsgesuch angenommen. Doch selbst im nachhinein waren Polens Bischöfe bestrebt, diesen Vorfall herunterzuspielen. In einem am 12. Januar 2007 veröffentlichten Brief erklärten sie das Verhalten ihres Amtskollegen aus einer "mangelnden Beachtung des allgemein geltenden Prinzips der Unschuldsvermutung, wodurch um den beschuldigten Erzbischof eine Atmosphäre des Drucks geschaffen wurde, die es ihm erschwerte, der öffentlichen Meinung eine entsprechende Verteidigung zu unterbreiten, zu der er das Recht hatte". Eine derartige Aussage spricht nicht gerade für den Willen, die volle Wahrheit ans Licht zu bringen, so daß, wie Wisniewski schreibt, der Fall Wielgus immer noch nicht gebührend aufgeklärt sei. Dies gelte ebenso für die "Liste geheimer Mitarbeiter, darunter etliche Bischöfe". Diese wurden zwar durch die "Kirchliche Historische Kommission" überprüft und als unbelastet eingestuft, doch die Untersuchungsergebnisse blieben geheim. Diesen Mangel an Transparenz beklagt denn auch der Dominikaner, weil er bei den Gläubigen den Eindruck erwecke, die Probleme würden "unter den Teppich gekehrt".
Ausführlich geht Wisniewski auf das seit Jahren ungelöste Problem des von Rydzyk geleiteten Medienimperiums ein. Mit der eng mit Radio Maryja verbundenen national-katholischen Kirchenzeitung "Nasz Dziennik", dem Fernsehsender "Trwam", einer eigenen Journalistenschule und den auf Gemeindeebene bestehenden "Familien von Radio Maryja" bildet es innerhalb der "polnischen" Kirche einen Machtfaktor.
Neben dem täglichen Rosenkranzgebet, der Übertragung von Gottesdiensten und anderen, rein religiösen Sendungen kommt es immer wieder zu antisemitischen Kommentaren, Attacken gegen die Europäische Union, die angeblich Polen demoralisiert und um seine Unabhängigkeit bringt, sowie zu an Haß grenzenden Angriffen auf Liberale, imaginäre Freimaurer und innerkirchliche, mit dem national-katholischen Kurs des Senders nicht übereinstimmende Gegner. Wisniewski nennt daher den Sender "einen Ort, an dem die Menschen Fanatismus und Gehässigkeit, ja sogar Haß auf Andersdenkende lernen". Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dieses Medienimperium unter kirchliche Kontrolle zu bringen und auf diese Weise die negativen, die Kirche spaltenden Einflüsse zu unterbinden. So äußerte Kardinal Stanislaw Dziwisz auf der Ständigen Sitzung des Rates der Bischofskonferenz vom 25. August 2007 die Sorge, durch Radio Maryja könne die "Verantwortung für die Seelsorge allmählich der Kontrolle der Bischöfe entgleiten". Und er verweist auf die "Gefahr, daß die Kirche in Polen einzig und allein mit der Position von Radio Maryja identifiziert wird".
Doch solche Interventionen blieben bislang erfolglos, weil Rydzyk nicht der Bischofskonferenz, sondern seinem Orden unterstellt ist. Der aber sieht keinen Grund, ihn abzuberufen und eine Kursänderung durchzusetzen. Zudem hat Rydzyk unter Polens Bischöfen genügend Anhänger, was eine einvernehmliche Lösung der mit seinem Medienimperium verbundenen Probleme unmöglich macht.
National-religiöses Identitätsbewußtsein
Das eigentliche mit Radio Maryja verbundene Problem besteht in dem dem Sender zugrundeliegenden national-religiösen Grundverständnis. Es spielt bei der neuerlich zu beobachtenden Politisierung eines Teils der Bischöfe und des Klerus, bei der Ortsbestimmung der Kirche in Staat und Gesellschaft sowie bei den fundamentalistischen Bewegungen die entscheidende Rolle.
Das kollektive Bewußtsein einer Nation ist eng mit ihrer geschichtlichen Erfahrung verbunden. Für Polen gilt, daß es sich in Zeiten nationaler Bedrohung herausgebildet hat. Grundgelegt wurde es während des Schwedeneinfalls im 16. Jahrhundert. Die Rettung aus jener "Sintflut" wurde nicht allein der eigenen Kraft, sondern zugleich der im Gnadenbild der Schwarzen Madonna präsenten himmlischen Herrin zugesprochen, die denn auch nach dem Abzug der Schweden am 1. April 1556 von König Jan Kazimierz zur Königin Polens erklärt wurde.
Dieses Grundmuster eines in der Stunde der Bedrohung geborenen religiös geprägten Nationalbewußtseins erhielt im 19. Jahrhundert, während der langen Phase der Aufteilung des Landes unter drei Fremdmächte, eine weitere Ausformung und Verfestigung - und dies in einem engen Bezug zu den Nationaldichtern der Romantik. Sie gewannen mit ihren Texten die Deutungshoheit über das Schicksal der Nation. Im Rückgriff auf den christlichen Glauben, in Analogie zu Tod und Auferstehung Christi, verliehen sie dem Kampf gegen die Bedrücker und dem Leiden der Nation Sinn. In ihrem Martyrium sahen sie den Preis künftiger Freiheit. Mehr noch: Die Überhöhung der Leiden der Nation gipfelte in einem Messianismus, der das unterdrückte und um seine Freiheit kämpfende Polen zum "Christus der Nationen" erhob. Diese romantische Denkweise bildet gleichsam das Fundament des kollektiven Selbstverständnisses - immer abrufbar in Zeiten der Erschütterung.
Dies zeigte sich nach der Flugzeugkatastrophe vom 10. April 2010, bei der mit Präsident Lech Kaczynski und seiner Frau insgesamt 96 ranghohe Vertreter aus Politik und Gesellschaft ums Leben kamen. In dieser Stunde erfuhren sich die Polen, wenn auch nur für kurze Zeit, über alle politischen Trennungen hinweg als eine in der Trauer geeinte Nation. Mit ihrer durch die Kirche vollzogenen Ritualisierung verband sich das überlieferte romantisch-martyrologische Deutungsmuster eines für die Rettung der Nation dargebrachten Opfers.
So war es nur konsequent, das Präsidentenpaar, wenn auch gegen manche Widerstände, im Wawel, dem polnischen Pantheon, beizusetzen. Es waren in diesem Kontext Stimmen zu vernehmen, die im verunglückten Präsidenten einen nationalen Märtyrer und in seinem Lebensopfer die Verpflichtung zu einem religiös-nationalen Patriotismus sahen, der sich gegen die Nation angeblich bedrohende äußere wie innere Feinde richtete. Der bald nach dem Ende der Trauerphase ausgebrochene Konflikt um das Kreuz vor dem Präsidentenpalast wie auch der religiöse Fundamentalismus sich lauthals zu Wort meldender Gruppierungen ist auf diesem Hintergrund zu verstehen.
Der unwürdige Kampf um ein Kreuz
Kämpfe um das Kreuz haben in Polen Tradition. Ein Jahr nach dem ersten Besuch Johannes Pauls II. in seiner Heimat mit dem Gottesdienst auf dem Warschauer Siegesplatz unter einem machtvollen Kreuz riefen Polens Bischöfe dazu auf, das Kreuz überall dort wieder anzubringen, von wo es durch die kommunistischen Behörden vertrieben worden war - und sie handelten sich damit einen verschärften Kirchenkampf ein.
Als nach jüdischen Protesten sowie aufgrund einer mit ranghohen kirchlichen Vertretern getroffenen Vereinbarung die Karmelitinnen das von ihnen zum Kloster umgestaltete, einst zum Lager Auschwitz gehörende Alte Theater verlassen sollten, widersetzte sich dem eine von Laien organisierte Bewegung und errichtete zum Zeichen der Solidarität mit den Schwestern auf dem dem Kloster vorgelagerten Kiesplatz einen wahren Wald von Kreuzen. Als das schlichte Holzkreuz, das Pfadfinder zum Gedenken an die Opfer der Flugzeugkatastrophe vor dem Präsidentenpalast aufgestellt hatten, in die St. Annen-Kirche überführt werden sollte, stellte sich dem eine Gruppe selbsternannter "Verteidiger des Kreuzes" und "wahrer Patrioten" in den Weg. Sie mißbrauchten als Anhänger der national-konservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" das Kreuz im Wahlkampf um das Präsidentenamt, in dem ihr Kandidat Jaroslaw Kaczynski, Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten, Stanislaw Komorowski von der liberal-konservativen "Bürgerplattform" unterlag. Im Sinne einer abstrusen Verschwörungstheorie gaben sie Komorowski, einem praktizierenden Katholiken, die Mitschuld an der Katastrophe, beschimpften ihn als Verbrecher und forderten seinen Rücktritt.
Zu all dem schwieg die Kirchenleitung. Sie überließ die Verantwortung für die Lösung des Konflikts staatlichen Stellen, und die scheuten sich, das Kreuz mit Gewalt aus der Hand ihrer "Verteidiger" zu befreien. Durch seine Untätigkeit trug der Episkopat dazu bei, daß sich eine Protestbewegung gegen die "Verteidiger des Kreuzes" formierte und die Ende der 90er Jahre für beendet gehaltene Debatte um das Verhältnis von Staat und Kirche neu aufflammte. So sprach sich die politische Linke dafür aus, die Präsentation religiöser Symbole im säkularen Raum zu untersagen und die im Konkordat verankerte beiderseitige Autonomie von Staat und Kirche durch eine strikte Trennung zu ersetzen, womit sie das Gespenst eines "Zapaterismus" beschwor. Erst nach Monaten gelang es, das Kreuz zunächst in die Kapelle des Präsidentenpalastes, dann in die St. Annen-Kirche zu übertragen und den Konflikt durch das Versprechen eines für die Opfer der Flugzeugkatastrophe zu errichtenden Denkmals beizulegen.
Jesus Christus - König Polens?
Zu den fundamentalistischen Bewegungen, von denen Wisniewski befürchtet, sie könnten das "Gesicht" der polnischen Kirche bestimmen, gehören die Vereinigung "Róza" sowie die "Bewegung zur Verteidigung der Republik". Beide betreiben die Inthronisation Jesu Christi als König Polens durch einen gemeinsamen Akt von Kirche und Staat, was weitreichende politische Konsequenzen nach sich ziehen würde. Bereits im Jahr 2006 hatte eine Gruppe von 43 national-katholischen Abgeordneten eine entsprechende Initiative ergriffen, die allerdings im Sejm keine Mehrheit fand und zudem auf den öffentlichen Widerspruch einzelner Bischöfe stieß - wofür diese sich den Vorwurf einhandelten, den katholischen Glauben und die nationale Tradition zu verraten. Durch Demonstrationen in einzelnen Städten und durch die Sammlung von Unterschriften versuchen beide Gruppierungen, ihrem Anliegen Gewicht zu verleihen. Obwohl sie keine Chance haben, daß es zu der von ihnen geforderten Inthronisation kommt, tragen sie doch durch ihre Aktivitäten zu einer verschärften Polarisierung in Gesellschaft und Kirche bei.
Grundlage der verlangten Inthronisation bilden die Privatoffenbarungen der Mystikerin Rozalia Celakówna (1901-1944), deren Seligsprechungsprozeß unlängst auf diözesaner Ebene zum Abschluß kam, ohne daß dieser Akt eine kirchliche Anerkennung ihrer Privatoffenbarungen einschließen würde. Jesus habe ihr - so heißt es in ihren Aufzeichnungen - die Mission seiner Inthronisation als König aller Völker, beginnend mit Polen, anvertraut. Sie sei für die gesamte Nation gemeinsam von Staat und Kirche zu vollziehen. Nur so könne Polen gerettet werden; andernfalls drohe erneut ein göttliches Strafgericht, nachdem Staat und Kirche es schon einmal versäumt hätten, durch eine Inthronisation Jesu Christi einen Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen für Polen abzuwehren. Unter dem Eindruck einer solchen Androhung entwirft und verbreitet "Róza" ein Angst erregendes Szenario, bei dem neben Faschismus und Kommunismus für die Jetztzeit "Liberalismus" und "Globalisierung" als apokalyptische Reiter auftreten. Die Flugzeugkatastrophe vom 10. April sei ein warnendes Signal, Polen durch die Inthronisation vor neuem Unheil zu bewahren.
Der Brief des Lubliner Dominikaners mit den darin angesprochenen Problemen, die den polnischen Katholizismus stark polarisieren, hat durch seine Veröffentlichung eine lebhafte Debatte ausgelöst. Diskutiert wird sowohl in kirchlichen als auch in säkularen Medien über die Fragen, wie sich die Kirche in der Gesellschaft präsentieren, welche Ziele sie mit der Vermittlung ihrer Lehre verfolgen und in welcher auch für Nichtchristen verständlichen Sprache sie sich äußern soll. Diese Debatte dürfte so schnell nicht verstummen. Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, welche Auswirkungen die in Rekordzeit abgewickelte, am 1. Mai 2011 von Papst Benedikt XVI. vorzunehmende Seligsprechung seines Vorgängers Johannes Pauls II. haben wird4.