Als mich mein Provinzial im Jahr 2004 bat, statt nach Kambodscha in die Flüchtlingsarbeit als Pfarrer einer Großstadtgemeinde nach Frankfurt am Main "in den Dschungel" zu gehen, gab es in dieser Stadt 50 katholische Pfarreien. Nicht jede hatte damals noch einen eigenen Pfarrer. Aber es gab eine Reihe von Pastoralreferenten, die mit der Verwaltung solcher priesterlosen Gemeinden bischöflich beauftragt waren. Dies ist im Rahmen des Kirchenrechts möglich (CIC/1983, can. 517, § 2) und wurde von Bischof Franz Kamphaus in einer Reihe von Fällen genutzt, um lebendige Gemeinden weiterbestehen zu lassen, auch wenn es keine Aussicht gab, dafür künftig eigene Priester zu finden. Denn es war schon lange absehbar, daß die Zahl der Priester in den Diözesen wie in den Orden in den Industrienationen sehr stark abnehmen wird1. Die Überalterung der noch aktiven Geistlichen in den Diözesen und der gleichzeitige Mangel an Nachwuchs von jüngeren Priestern, aber auch an Pastoralreferentinnen und -referenten kennzeichnen heute die Situation der Pastoral in Deutschland.
Als Antwort auf diesen Priestermangel - selbst wenn diese nicht hinreichend wäre - könnte man sich denken, daß weiterhin mehr Laien in die Mitverantwortung der Gemeindepastoral einbezogen würden und daß "viri probati"2, also in der Ehe und im Beruf erfahrene, verheiratete Männer geweiht und in kirchliche Dienste übernommen werden. Darüber wird schon seit weit über 40 Jahren nachgedacht; doch nichts hat sich bisher in dieser Frage geändert, und wer sich als Laie dazu äußert, wird eventuell von Kardinal Walter Brandmüller als dafür unzuständig erklärt3. So wie sich der Kardinal ärgert und Sorgen macht, so ärgern solche kirchlichen Äußerungen viele Mitglieder meiner Gemeinde, denn die meisten denken in diesen Fragen wie die getadelten CDU-Politiker.
Enttäuschung
Die Frage, ob man auch Frauen weihen könne, wird in den bischöflichen Verwaltungen dagegen eher tabuisiert oder für abwegig gehalten. Die bisherigen päpstlichen Meinungsäußerungen könnte man sogar so zusammenfassen: Frauen zu weihen, entspricht nicht dem Heilsplan Gottes.
In den letzten drei, vier Jahren verstärkt sich das Problem noch insofern, als eine Reihe von Bischöfen die bisher mit der Verwaltung von Pfarreien betrauten Pastoralreferenten von dieser Aufgabe entbunden hat. Zu diesen Bischöfen zählt auch der für Frankfurt zuständige Nachfolger von Franz Kamphaus - Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst - mit der Auffassung, man solle keine Notämter (nach can. 517, § 2) weiterführen, weil dadurch die notwendigen strukturellen Veränderungen nicht wirklich angepackt würden4.
Zugleich hat der Bischof viele Gemeindeassistentinnen dadurch enttäuscht, daß er ihnen absprach, Seelsorgerinnen zu sein. Für eine solche Meinung haben sie kein Verständnis, da sie teilweise schon seit einem Vierteljahrhundert oder länger Seelsorge - beispielsweise in Krankenhäusern - leisten. Es wird also zum Priestermangel der nächsten Jahre auch noch eine leitungsdistanzierte Berufsgruppe von Seelsorgern und Seelsorgerinnen gehören, so daß die Zahl derer, die bereit sind, einen solchen Beruf anzupacken, nicht größer wird. Dies zeigt sich schon jetzt in sinkenden Zahlen von Bewerberinnen und Bewerbern für den hauptamtlichen pastoralen Dienst von Laien in fast allen deutschen Diözesen. So hat es die Diözese Limburg seit fast vier Jahren nicht vermocht, die freie Stelle eines pastoralen Mitarbeiters in der Pfarrei St. Ignatius und St. Antonius zu besetzen, obwohl es dafür jeweils Bewerber gab. Die Stimmung in der Diözese unter Priestern, pastoralen Mitarbeitern und Laien wird oft als bedrückend empfunden.
Im Lauf von sieben Jahren sind aus 50 Pfarreien in der Stadt Frankfurt 15 sogenannte Pastorale Räume geworden, deren Leitung in den Händen eines "priesterlichen Leiters" liegt. In wenigen Jahren werden daraus sieben bis zehn Großpfarreien im Stadtgebiet von Frankfurt entstehen.
Was hier über Frankfurt gesagt wird, gilt für viele Diözesen und ihre Neustrukturierungen in Variationen. Daher sind Seelsorgerinnen und Seelsorger, Priester, aber auch nicht weniger die Gemeinden durch den Mangel an aktiven Gegenmaßnahmen enttäuscht. In einer Reihe von Gremien der Diözese Limburg wurde dem Bischof gegenüber freimütig von dieser Enttäuschung und dem gestörten Vertrauensverhältnis gegenüber der Kirchenleitung gesprochen.
Überraschende Erfahrungen
Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen zeigt sich mir in der Wirklichkeit ein differenziertes Bild: Die Gemeinde St. Ignatius, 1927 von Jesuiten gegründet und seither pastoral verantwortlich betreut, machte auf mich einen sehr lebendigen Eindruck, als ich 2004 nach Frankfurt kam. Das war das Verdienst der beiden vor mir wirkenden Pfarrer, Reinhold Flaspöhler SJ, der fast 30 Jahre erst als Kaplan und dann als Pfarrer die Gemeinde nach den Leitlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Würzburger Synode prägte, und Petrus Köst SJ mit DDR-Erfahrungen, der für ein Jahr von 2003 bis 2004 die Pfarrei leitete, bis ich die Gemeinde übernahm. Beiden ist es gelungen, eine sehr lebendige, auf viel Engagement von Ehrenamtlichen beruhende Gemeinde heranzubilden bzw. fortzuführen.
Im Jahr 2004 trat der Pfarrgemeinderat der Nachbargemeinde St. Antonius (Stadtteil Westend-Süd, Bahnhofs- und Gutleut-Viertel), die gerade den letzten Pfarrer aus den Reihen der Afrika-Missionare verabschieden mußte, auf St. Ignatius (Stadtteil Westend-Nord) zu und fragte an, ob der Pfarrer von St. Ignatius nicht auch priesterlich in St. Antonius wirken könne. Sozial gesehen ähneln sich die beiden Gemeinden, jedenfalls im Gebiet Westend: Sie haben überwiegend dasselbe Milieu, bestehend jeweils aus etwa 4000 Katholiken aus etwa 75 bis 80 verschiedenen Nationen: Banker, Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Versicherungsfachleute usw.
Der Stadtteil Westend, so hätte man früher gesagt, wird vom Großbürgertum bewohnt. Nach der Sinus-Studie würde man heute von "Postmateriellen"5 und "modernen Performern"6 sprechen. Über die Hälfte der Katholiken ist zwischen 24 und 42 Jahre alt; ein Drittel der Gemeinde wechselt in drei Jahren den Wohnsitz. Es gibt also eine große Gemeindefluktuation und sehr viele junge Ehepaare oder Lebensgemeinschaften mit häufig mehr als einem oder sogar mehr als zwei Kindern: Nach vier, fünf Jahren wechseln viele Banker von Frankfurt nach Hamburg, London, in die USA oder anderswohin; mancher kommt nach einigen Jahren wieder. Wir profitieren von dieser sich stets erneuernden Gemeinde durch viele Taufen von Kindern, etwa 70 bis 100 pro Jahr, 60 Erstkommunionen und 30 Firmungen für Jugendliche. Diese Zahlen haben in den letzten Jahren eher zugenommen.
Trotz desselben Milieus waren die beiden Gemeinden unterschiedlich lebendig. Denn der Orden der Afrika-Missionare, dessen Provinzialat ebenfalls in der Gemeinde St. Antonius lag, hatte im Lauf von 15 Jahren eine Reihe von Pfarrern zur Verfügung gestellt, die oft altersmüde und einer säkularisierten Großstadtsituation wie in Frankfurt durch ihre ursprünglich afrikanische Erfahrung entwöhnt waren. Diese aus Afrika zurückgeholten Missionare fanden sich nämlich plötzlich zwischen den hohen, modernen Banktürmen vor und konnten kaum sehen, wo und wie die Menschen ihrer Gemeinde lebten. Ihre bisherigen afrikanischen Erfahrungen stimmten nicht überein mit der Welt, in der sie nun Gemeinde bilden sollten. So kamen kaum noch junge Familien in den Gottesdienst, Kinderarbeit wurde immer schwieriger und geringer, die Stammgemeinde in St. Antonius begann langsam, aber deutlich zu altern.
Drei Jahre - anfangs gegen den Wunsch der Diözese Limburg - haben die beiden Pfarrgemeinde- und Verwaltungsräte darüber nachgedacht, ob man die Anfrage von St. Antonius ablehnen oder in welcher Form man sie aufnehmen könne. Am Ende schlossen wir einen Vertrag und baten den Bischof, aus den beiden bisherigen Pfarreien eine gemeinsame zu machen. Mir war das recht, weil ich als Leiter des Pastoralen Raumes Westend ohnehin pastoral in der Pflicht gewesen wäre - ob ich gewollt hätte oder nicht. Ich sah es auch als Herausforderung an und erhoffte mir damit, daß wir bei einem Zusammenschluß künftig weniger Sitzungstermine als bisher benötigen und für die kommenden Perspektiven einer Neustrukturierung der Kirche in Frankfurt gewappnet wären: Uns würde nichts mehr zustoßen - so meinten wir.
Wir hatten die Fusion gewollt und - wie wir dachten - unter gleichen Geschwistern gemeinsam beschlossen. Dabei hatten wir nicht wirklich wahrgenommen, daß die eine Gemeinde eher schon einem Versteppungsprozeß unterlag, während die andere mit vielen Ehrenamtlichen noch lebendig war und die Kinder- und Jugendarbeit deutlich zum Lebensprinzip der Gemeinde gehörte.
Eine wohlgemeinte Täuschung
Bald sollte sich in doppelter Weise zeigen, daß wir uns täuschten: Es gab zwar im Gebiet der früheren Pfarrei St. Antonius einen lebendigen Frauenkreis, einen kleinen Chor, einen Karnevalsverein und einen lebendigen Kindergarten und Hort; aber diese waren keine deutlichen Knotenpunkte gemeindlichen Lebens, sondern soziologisch gesehen Oasen in der Steppe, durch die es nur zu einer geringen Vernetzung kam. Dagegen gab und gibt es im Gebiet der früheren Pfarrei St. Ignatius viele Ehrenamtliche für Kindergottesdienste, Krabbelgruppen, Jugend- und Kinderfreizeiten, lebendige Bildungsarbeit in Familienkreisen, für Nachmittagsakademie und Abendforum, einen sehr großen Projektchor, einen aktiven Liturgiekreis und vieles mehr. Vor allem die Möglichkeit, nach jedem Gottesdienst am Sonntagvormittag bei Getränken und einmal monatlich bei gutem Essen zusammen zu sitzen und über vieles zu diskutieren, Freunde zu treffen, sehr unkompliziert für die vielen Fremden in die Gemeinde hineinzufinden, prägt die Gemeinde: Knotenpunkte werden genützt, um zu einem Gemeindenetzwerk zu werden. Viele kennen sich untereinander, sind aneinander interessiert, helfen einander.
Wir mußten dabei erkennen: Wenn es fast keine ehrenamtlichen Mitarbeiter in einer Gemeinde gibt, fällt es einem pastoralen Team sehr schwer, neue Ehrenamtliche einzubinden. Schnell gewöhnen wir uns daran, als Hauptamtliche "Alleinunterhalter" zu werden. Finden wir dagegen schon eine Gruppe von Ehrenamtlichen vor oder gelingt es uns, solche Gruppen für bestimmte Zwecke zu binden, ist es keine große Schwierigkeit, weitere Ehrenamtliche zu finden und zu integrieren. So gibt es in dem Gebiet von St. Antonius kaum die Chance, ehrenamtliche Katechetinnen für die Erstkommunionkinder zu gewinnen; im Gebiet von St. Ignatius ist es keine große Schwierigkeit, 15 Mütter für eine solche Aufgabe zu ermutigen. Es spricht sich fast von allein herum, daß das eine sehr schöne Arbeit ist und viel Freude macht, weil es die eine Mutter der anderen, die eine Generation der anderen weitersagt und es lebendige Überlappungen zwischen "Erfahrenen" und "Neuen" gibt.
Bei der Fusion beider Gemeinden zu einer einzigen hatten wir die Hoffnung gehabt, daß das Leben des einen Gemeindeteils auch das Leben des anderen Teils anregt. Dadurch daß es zwei Monate nach der Fusion in St. Ignatius gebrannt hatte und wir für mehr als zwei Jahre alle zusammen nur die Antoniuskirche benutzen konnten, hatten wir anfangs den Eindruck: Es gelingt, die beiden Teile gut zusammenzuführen und das Leben auch in St. Antonius dadurch wieder anzuregen.
Diese Hoffnung war so stark, daß entgegen dem abgeschlossenen Fusionsvertrag zwischen den beiden Pfarreien nach einem Jahr bei einer Befragung sogar ein klares Votum von 87 Prozent der Gottesdienstbesucher dafür abgegeben wurde, künftig nur noch einen einzigen gemeinsamen Sonntagvormittag-Gottesdienst zu feiern. Der Pfarrgemeinderat beschloß daraufhin nach langen Gesprächen, im Halbjahres-Zyklus zu wechseln. Aber dann mußten wir feststellen: Beim Wechsel bleibt jeweils eine spürbare Menge des Gemeindeteils, der dann das Nachsehen hat, zurück und kommt mit der Gemeinde nicht mit, sondern verabschiedet sich stillschweigend. Es gab also wenig gegenseitige Animation und Befruchtung. Vielmehr bestand die Gefahr, daß beide Gemeindeteile eher verstört reagierten und sich sagten: Es liegt an den anderen.
Daraufhin dispensierte der Pfarrgemeinderat seinen Beschluß fürs erste. Wir feiern derzeit den Gottesdienst am Sonntagvormittag in St. Ignatius und am Abend in St. Antonius und wechseln zur Zeit nicht. Damit fallen wir aber zurück in ein Aschenbrödel-Empfinden - ob wir wollen oder nicht. Als Bild dafür sehe ich immer: Am Sonntagvormittag in St. Ignatius füllt sich bis zur Mitte der Eucharistiefeier unsere Kirche, wenn dann auch die große Zahl an Kindern dazukommt, die vorher, nach Altersgruppen getrennt, eigene Gottesdienste hatten. Am Sonntagabend dagegen sind über fast 20 Bankreihen hinweg nur etwa 15 bis 40 Personen verteilt, die letzte Person in der allerletzten Reihe, das Ganze bei diffusem Licht, weil die Diözese uns noch nicht erlaubt hat, die Beleuchtung zu erneuern. Gemeinde, so scheint es in St. Antonius, verdämmert und verdunstet im Gottesdienst.
Hoffnung gegen die Versteppung
Bei der Vorstellung, in wenigen Jahren in Frankfurt und in vielen anderen Städten Deutschlands nur noch sehr wenige Großpfarreien zu haben, wird oft davon gesprochen, daß diese Großpfarreien etwas ganz anderes sein werden als die Pfarreien früheren Zuschnitts und daß sie neue Chancen bieten: Das Reservoir für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird größer, und es wird neue "Kirchenorte" geben, an denen lebendiger Glaube sichtbar wird. Ob es den weniger werdenden Hauptamtlichen gelingt, dieses Reservoir zu nützen, wird sich zeigen. Einfach wird es nicht sein, weil nur örtliche und persönliche Nähe zu den Menschen möglich erscheinen läßt, "Menschenfischer" zu sein: Wir können nur dort auf dem See Genesaret Fische fangen, wo wir konkret die Netze auswerfen. Es nützt wenig, sich vorzustellen, daß der See voller Fischschwärme ist, wenn wir nur kleine Netze und einen kleinen Kahn haben. Dennoch stimmt, daß es selbst auf einem großen See eben nicht nur ein Fischerboot, sondern viele sehr unterschiedliche Boote und Fangmethoden gibt, etwa in der Krankenhausseelsorge, in einem Meditationszentrum, in Bildungshäusern wie dem "Haus am Dom" mit sehr guten Angeboten, mit einer Jugendkirche und vielem mehr. Seelsorge muß sich nicht mehr primär als regional begrenzte Pfarrei darstellen. Unterschiedliche Angebotsorte, -methoden und -personen können sehr wohl - wenn auch unter erschwerten Bedingungen - zu einem Netzwerk einer urbanen Seelsorge werden. Da hat eine Stadtkirche viele Vorteile gegenüber den großen Zusammenschlüssen auf dem Land.
Gerade hier setzt die Hoffnung der Gemeinde St. Ignatius und St. Antonius für die Zukunft an: Wir wollen als Jesuitengemeinde im künftigen Konzert der Verknüpfungen gerne zu einer Personalgemeinde in der Stadtmitte werden - mehr als wir dies ohnehin schon sind. Dies scheint sowohl pastoral wie kirchenpolitisch auch machbar zu sein. Denn die Pfarrei St. Ignatius war schon lange eher eine "Zulauf"-Gemeinde, bei der sich viele Menschen eingefunden haben, die eine jesuitisch geprägte Seelsorge, Liturgie, Predigt, Mitarbeit von Laien erwartet haben. Weit über das Pfarrgebiet hinaus kommen zu uns Menschen: Katholiken und Mitglieder anderer christlichen Konfessionen; solche, die den Vorstellungen des Kirchenrechts und der Zulassung zu den Sakramenten entsprechen, und solche, die sich andernorts ausgeschlossen wissen oder es so empfinden; ältere einzelne und junge Familien mit Kindern, deren Störungen im Gottesdienst wir zwar wahrnehmen, um des Wortes Jesu willen: "Laßt die Kinder zu mir kommen" (Mk 10,14) aber akzeptieren.
Dieses Konzept einer künftigen Personalgemeinde ist mit der Pfarrgemeinde, mit dem Pfarrgemeinderat, mit dem Pastoralausschuß des Pastoralen Raumes, mit dem Stadtdekan und mit dem Provinzial des Jesuitenordens sowie der Kommunität der Jesuiten in St. Ignatius schon diskutiert. Wir haben die Verstörung, die sich bei uns vor zwei Jahren breit gemacht hatte - als wir wahrnehmen mußten, daß die Fusion der beiden Pfarreien nicht das letzte Wort war, sondern die eigene fusionierte Gemeinde in eine Großpfarrei integriert werden soll, ohne daß wir uns an der Planung beteiligt sahen -, überwunden und tragen eher das Fähnchen der Hoffnung aufrecht. Es gibt Chancen, in einem Versteppungsprozeß der Kirche auch in kleinen Bereichen lebendig dagegen zu steuern. Es ist - wie der berühmte Film von Walt Disney geheißen hatte - die Erfahrung und Hoffnung: "Die Wüste lebt"7.
Genau hier setzt die pastorale Vision für heute ein: Die Wüstenerfahrung des Volkes Israel (also nicht die Erfahrung der Befreiung aus Ägypten und nicht die Vision des Gelobten Landes, sondern die Not der Stämme Israels in der Wüste) ermöglicht Erfahrungen, die aus den vereinzelten Stämmen ein gemeinsames Volk werden läßt - und zwar nicht ein Volk, das auf die Kunst der eigenen Macht, sondern auf die Begleitung und den Segen Gottes setzt.
Eine solche Erfahrung wird aber nur möglich werden, wenn das theokratische Gottesbild der Wüste sich wie bei der Gesetzgebung verwandeln läßt in das Bild, daß alle Menschen Geschwister, alle Menschen Kinder Gottes sind. Das wird nur gelingen, wenn die hierarchischen Strukturen der Kirche mit ihren Entscheidungsstrukturen neu überdacht werden und auch Mose und Aaron den Zeichen der Zeit und den Kindern Gottes lauschen. Denn diese sind die Träger der Hoffnung in die kommende Zeit hinein. Und dann - aber nicht vorher - werden auch die Stämme des Volkes Israel wieder auf ihre Führer lauschen und mit ihnen weiterhin nach dem Gelobten Land Ausschau halten.
Persönliche Eindrücke
In einer Stadt wie Frankfurt, wenn ich da und dort andere Kirchen besuche oder die eigene Filialkirche St. Antonius als Muster dafür verstehe, nehme ich allerdings die Versteppung nicht als Chance wahr, wo größere Pfarreigebilde mehr Ehrenamtliche bringen würden oder diese Wüstenerfahrung dazu dienen könnte, widerständig den Glauben und die Kultur des religiösen Sich-Verstehens und Miteinander-Feierns zu erneuern. Wo sich mir städtische Kirche erschließt, hat vieles Event-Charakter.
Es mutet manchmal an wie der Tanz um das Goldene Kalb: Mose oder die Bischöfe kämpfen noch um die Erhaltung des regulierten, durch Gesetz oder Kult fixierten kirchlichen Gepräges, während sich das Volk, dem Gemeindeleben längst entwöhnt, zum gelegentlichen Tanz ums Goldene Kalb einfinden mag. So haben wir an Weihnachten in der eigenen Gemeinde keine Schwierigkeit, viermal im Lauf des Nachmittags und Abends beide Kirchen zu füllen: Kinder, Jung und Alt, mit der Gemeinde verwachsene Dazugehörige und Kirchenferne oder gar Kirchenskeptiker finden sich ein. Das sind Anlässe, darüber nachzudenken, wie man eigentlich in eine säkularisierte Welt hinein die Botschaft der Menschwerdung Gottes verkünden kann. Aber diese Gelegenheiten sind so flüchtig, daß - noch bevor die Botschaft mühsam durchbuchstabiert ist - diese Event-Gemeinde schon wieder auseinanderfällt und kaum Bindungen entstehen können, aus denen man mehr an Glauben, mehr an Geschwisterlichkeit und mehr an Hoffnung gewinnt.
Am Ende eines zweijährigen Fortbildungskurses für die "Leiter von pastoralen Räumen" (mit viermal dreitägigen Blockveranstaltungen) fragte uns die Tagungsleitung, wie es uns, den Leitern der Pastoralen Räume, gehe. Die Antworten fast aller bestätigten, daß die Resignation in den letzten zwei, drei Jahren deutlich gewachsen war: nicht nur wegen der Überforderung durch die Erwartungen, was man als Priester heutzutage alles leisten solle, sondern auch, weil die Chancen, an den Problemen positiv arbeiten zu können, als sehr gering erachtet wurden. Die Leiter der Pastoralen Räume ließen deutlich in ihren Antworten erkennen, daß sie sich nicht mehr viel davon erwarteten, gemeinsam in einer Diözese nach neuen Wegen zu suchen. Die äußere und innere Versteppung der Kirche hatte schon zu vieles zur Wüste werden lassen; und diese Leiter, die eigentlich ursprünglich die Mitverantwortung für ein Gesamtkonzept der Pastoral in einer Diözese mittragen wollten, zogen sich befremdet in ihre eigene Wagenburg zurück. Dort wird gestaltet; dort will man sich engagieren, aber kaum noch über den eigenen Aufgabenbereich hinaus.
Ich selbst bin durch die Erfahrungen im Jesuitenorden gewohnt, mitgestalten zu wollen; mich nicht zurückzunehmen, sondern einbringen zu wollen; nicht zu schweigen, sondern mit zu diskutieren. Ich bemühe mich dabei um Offenheit und Ehrlichkeit. Das ist nicht immer einfach, weil ich niemand verletzen will - und weil ich weiß, daß meine Perspektive eben nur eine unter vielen ist. So sehe ich bei den jüngeren Priestern ein ganz anderes Verständnis von Kirche, von Priestertum, von selbstverständlicher Akzeptanz der Tradition. Es fällt mir nicht leicht, meine eigenen Erfahrungen und Hoffnungen, die wir früher mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden haben, jetzt zu relativieren oder gar in Frage zu stellen. Ich vermute, wir - nicht nur die einzelnen Priester, sondern auch die verschiedenen Gemeinden - müssen wahrscheinlich lernen, daß es vieles nebeneinander gibt, was eigentlich nicht zusammenpaßt - und dennoch unter dem Dach der Kirchen bzw. "der Kirche" seinen Ort hat. Es ist die schmerzliche, aber auch einfordernde Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.
"Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid" (Mt 11,28), sagt Jesus seinen Freunden. Er will sie trösten und stärken, wo sie sich selbst schwach und enttäuscht erfahren. Solchen Trost und solche Stärkung erfahre ich in der Gemeinde, für die ich Priester bin, durch viele Menschen, die mir in Freundschaft zugetan sind und an sehr vielen Stellen des Gemeindelebens mitgestalten und mich als Priester nicht als Einzelkämpfer zurücklassen. Ich erfahre aber auch Stärkung, daß mir immer neu deutlich wird: Eine gute Gemeinde benötigt auch einen lebendigen, hoffnungsvollen Seelsorger. Und es mag ein Geschenk über lange, glückliche Jahre als Jesuit sein, daß ich die Hoffnung bislang nie habe fahren lassen. Mein Orden stand jeweils immer hinter mir, die Mitbrüder an meiner Seite. Das ist ein großer Vorteil gegenüber vielen Priestern, die sich allein gelassen fühlen.
Vermutlich wird die Versteppung der Kirche in unserer säkularisierten Welt auch nur auszuhalten sein, wenn das Volk Israel zusammensteht: die Stämme miteinander und das Volk mit Mose und Aaron. Denn das Wachsen der Wüste können wir nicht verhindern; was wir verhindern können, ist die Vereinzelung. Es geht um neue Formen von Gemeinschaftlichkeit, um Erfahrungen von Gemeinde, von Koinonia, von Freundschaft - selbst über die Grenzen des Volkes Israel hinaus. Daher sind Ökumene und Offenheit nicht ein Zugeständnis an die Relativität aller Werte im säkularisierten Umfeld, sondern die Fortschreibung dessen, worum sich bereits Paulus bemühte, wenn er sich an die Heiden gewandt hat und nicht nur an die Juden. Eine Stadt wie Frankfurt eröffnet mir viele Gelegenheiten zur Ökumene: im Gespräch, im Gebet, in mancher gemeinsamen Liturgie, in der theologischen Diskussion und im Annehmen vieler konfessionsverschiedener Gemeindemitglieder und Familien. Das ist ein Feld neuer Hoffnung, die es so früher viel seltener gegeben hat als jetzt. Auch das ist eine Chance der Ermutigung.