Ungarns völkische Wende und die Sakralisierung der Nation In Ungarn haben die nach ihrer Selbstdefinition das "bürgerliche" bzw. "national gesinnte", in Wirklichkeit aber das völkische Lager vertretenden Parteien1 - die Fidesz Bürgerliche Union (Fidesz-MPSZ) und die Christlich Demokratische Volkspartei (KDNP) - im April 2010 mit einer Zwei Drittel-Mehrheit die Parlamentswahlen gewonnen. Die rechtsradikale Partei Jobbik hielt mit 17 Prozent Einzug ins Parlament und stellt nun die Opposition ebenfalls im völkischen Lager. Für die Völkischen verkörpert die mit etwa 19 Prozent ins Parlament gelangte ehemalige Regierungspartei der Sozialisten (MSZP) die "nationslose", kosmopolitische Seite und wird von ihnen erbittert kriminalisiert und bekämpft. Im Mittelpunkt des Hasses steht dabei die kleine progressive sozialdemokratische Gruppe um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány. Kriminalisiert wird auch die ehemalige Wendepartei der liberalen SZDSZ (Bund Freier Demokraten), die aus der demokratischen Opposition im Realsozialismus hervorgegangen war, inzwischen in der Bedeutungslosigkeit versank und zeitweilig sogar von der politischen Bühne verschwand.
Da die Sozialdemokraten und die Liberalen inzwischen zu einem unbedeutenden Faktor des politischen Lebens in Ungarn geworden sind, erweist sich der weiterhin verbittert geführte Kampf gegen sie als ein kulturgeschichtlich und sozialpsychologisch zu untersuchendes Phänomen. Die Leitfrage dabei ist, wieso eine unbedeutend gewordene politische Richtung so haßerfüllt und verbittert bekämpft werden muß. Man hat sogar das Gefühl, daß der Kampf gegen ein Phantom geführt wird und Elemente einer kollektiven Paranoia trägt. Dafür spricht auch die Tatsache, daß die neue Regierung das Amt eines "Beauftragten für Abrechnung" ins Leben rief, der rückwirkend alle "Korruptionsaffären" der ehemaligen sozialliberalen Regierung und "ihr nahestehenden Kreise" aufrollen soll. Während er jedoch im völkischen Lager ein Auge zudrückt, nimmt er bei den "Nationslosen" eine Vorverurteilung vor. Ein Beispiel dafür ist die inzwischen international bekannte Attacke gegen kritische Philosophen, für welche Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin um Solidarität warben2.
Die Bekämpfung der Sozialisten, Sozialdemokraten und Liberalen - das heißt der "Nationslosen" oder "Internationalen" - ist überhaupt kein neues Phänomen in Ungarn. Es konnte bereits in der Zeit um die Wende 1990 beobachtet werden. Ein Großteil der Kommunikation der "nationalgesinnten" und zum Teil auch die der öffentlich-rechtlichen Medien ist seit jenen Jahren auf die Mobilisierung gegen diese Feindbildkonstruktion aufgebaut3. Die Vorverurteilungen gehen dabei von der höchsten politischen Ebene der Völkischen aus und zielen auf höchste Kreise des "gegnerischen" (sozialliberalen) Lagers. So sagte Viktor Orbán 2005 als Oppositionsführer, die Linke würde als Nachfolger Béla Kuns (Code für Bolschewiki) ihre "eigene Art und Nation" angreifen4.
Man kann in der Gesamtkommunikation der Völkischen seit vielen Jahren durchaus auch von einer Dämonisierung der Sozialliberalen und vor allem von der des kleinen Kreises um Gyurcsány sprechen. Der heutige Parlamentspräsident, László Kövér, sprach vor den Wahlen, damals in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Parteiausschusses von Fidesz, im Zusammenhang mit der ehemaligen sozialliberalen Regierung immer wieder von "gigantischen, bolschewisierenden, satanischen Kräften", nämlich von "Ferenc Gyurcsány und seinen Mittätern", die "uns in unserer eigenen Heimat niedermähen". Und der heutige stellvertretende Ministerpräsident und Vorsitzende der KDNP, Zsolt Semjén, wurde nicht müde zu betonen, daß sich in der sozialliberalen Regierung "der mal als Bolschewik, mal als Liberaler erscheinende, echte Antichrist"5 zeige.
Antisemitismus
Die letztgenannten Stichworte sind durchaus auch gemäß der Forschung als antisemitische Codes zu werten. Der Antisemitismus kann ja nicht im engeren Sinne als Feindschaft gegen eine bestimmte religiöse Gemeinschaft oder kulturelle Gruppe, nämlich die jüdische, aufgefaßt werden, sondern vielmehr als Weltanschauung6 oder als kultureller Code7. Er hat sehr viel mit der Definition der Nation und deren Kulturbegriff zu tun. Wird die Nation als eine völkisch-ethnisch homogene Gemeinschaft aufgefaßt, wird alles, was die vermeintliche Homogenität des Volkstums hinterfragt, als "verjudet" oder als "jüdische Unterwanderung" des Volkskörpers gedeutet.
Nach der Wende 1990 wurde in Ungarn - wie in den anderen postkommunistischen Staaten - die Konzeption der ethnisch-völkischen Kulturnation dominant. Auch die jeweilige Kulturpolitik wurde - je nach sozialliberalen oder völkischen Regierungen - einmal mehr, einmal weniger intensiv auf diesen Kulturbegriff aufgebaut und automatisierte die Ausgrenzungstendenzen in der Gesellschaft - und zwar deshalb, weil die völkisch gedachte Nation auf Feindbilder angewiesen ist, um sich selbst zu definieren.
Warum in Ungarn im Verhältnis zu anderen postkommunistischen Staaten die Radikalisierung so weit fortgeschritten ist, dürfte mit dem großen nationalen Trauma "Friedensvertrag von Trianon" im Jahr 1920 zu tun haben, infolgedessen Ungarn zwei Drittel seiner Gebiete an die Nachbarländer abtreten mußte, der - wie der Friedensvertrag von Versailles für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg - noch immer als ungerechtes Friedensdiktat erlebt wird. Da der Kulturbegriff und die Kulturpolitik nach der Wende in Ungarn nicht demokratisiert wurden, wird aus dem Motiv des "ungerechten Friedensdiktats" heraus der national-narzißtische Opfermythos immer wieder aufs Neue lebendig gehalten8, was die Feindbilderkonstruktionen begünstigt, weil für das "Unheil" des Landes immer wieder nach "Schuldigen" gesucht wird9. Diese "Schuldigen" sind in Ungarn vor allem die Sozialdemokraten und die Linksliberalen.
In Ungarn hört man "jüdisch", wenn "sozialistisch/links/kommunistisch/liberal" gesagt wird. Der Mythos des "Bolschewiken als Jude" ist absolut lebendig und wird auf die heutigen Sozialisten übertragen. Auch die Liberalen bzw. das Denken in liberalen Kategorien wird als eine "Unterwanderung" des Volkskörpers erlebt, so daß Linke und Liberale - auch von Mitgliedern der Regierung - als Feinde und Zerstörer der Nation beschimpft werden10. Die Botschaft dieser Kommunikation lautet: Das sind zu vernichtende Entartete. Die Haßrede wird nicht nur nicht eingedämmt, sondern sogar gefördert: Am 21. Januar 2010 wurde dem für seine antisemitischen Schriften bekannten Journalisten Zsolt Bayer der Madách-Preis verliehen11.
Geschlossene Gesellschaft
Der Ausgang der Parlamentswahlen war also strukturell vorauszusehen und dürfte das vorläufige Ende einer Entwicklung im Transformationsprozeß bedeuten, in dem man gehofft hat, von einer Demokratisierung sprechen zu können. Doch das Gegenteil ist passiert: Statt einer stetigen Demokratisierung hin zur offenen Gesellschaft war eigentlich seit der Wende 1990 eine kontinuierliche völkisch-ethnische Schließung zu beobachten, die mit den Wahlen 2010 nun auch parlamentarisch besiegelt wurde.
Der Motor dieser Entwicklung war und ist die völkische Kultur des Landes. Kennt man die Strukturen des völkischen Denkens, weiß man, daß es deshalb eine immens starke Anziehungskraft hat, weil in ihm der Glaube an die ethnisch homogene, "reine" (sündenfreie) Nation als irdische Metaphysik die "Erlösung vom Bösen" und damit eigentlich den vermeintlichen Himmel auf Erden verspricht.
Die ethnische Schließung der Gesellschaft und die damit vollzogene Verwandlung in eine "geschlossene Gesellschaft" geschieht vor allem dadurch, daß in ihr das ungarische nationale Opfernarrativ in den Vordergrund gestellt wird. Der nationale Opfermythos ist ein wichtiger Baustein des in Ungarn vorherrschenden ethnisch-völkischen Denkens. In ihm erleben wir eine letztendlich antisemitisch implementierte Identifizierung mit der magyarischen Nation (wobei hier Nation im völkisch-ethnischen Sinne Abstammungsgemeinschaft meint). Er entspringt dem Gefühl der Angst um den Verlust altüberkommener Traditionen und Glaubensformen sowie der Angst vor dem Verlust traditioneller sozialer Bindungen durch Modernisierung und Reformen und kommt aus einer psychisch determinierten Wahrnehmung, nämlich einer vermeintlichen periphären Lage12. Man befürchtet den Verlust der "nationalen Einheit" und letztendlich den "Tod der Nation", sieht sich als Opfer der Modernisierung, der Europäischen Integration und des westlichen Liberalismus.
"Opfermythos" meint aber auch die Abwehr von Schuld und Erinnerung sowie die Projektion von Verbrechen auf "Andere", "Fremde" und letztendlich stellvertretend dafür auf "Juden". Im nationalen Opfermythos wird versucht, die in der eigenen Schuld zum Ausdruck kommende Täterschaft zu leugnen. Es ist nichts anderes als eine Schuldumkehr, in der die Verfolger ihre Angst, als Kollektivtäter beschuldigt zu werden, auf die Verfolgten projizieren. Die Forschung nennt die Umkehr der Täter-Opfer-Relation eine typische Erscheinungsform des Antisemitismus13.
Täter-Opfer-Umkehr - antikommunistischer und antiliberaler Antisemitismus
Klaus Holz bezeichnet die Täter-Opfer-Umkehr sogar als "demokratischen Antisemitismus"14, weil sie weniger dem "radikalen Rand" einer Gesellschaft zuzuordnen sei. Vielmehr sei es die "demokratische", politische Mitte, die die sogenannte "Vergangenheitsbewältigung" oft durch die Täter-Opfer-Umkehr zu vollziehen versucht. Der Opfermythos ist ein Element der Täter-Opfer-Umkehr: Seine Virulenz beruht auf der Leiderfahrung des eigenen, ethnisch gedachten Volkes und wird durch die Schuldabwehr motiviert. Damit einher geht auch die Argumentation, in der zwar die historische Tatsache des Holocaust nicht geleugnet, dafür aber die Zeitdimension betont und die ständig wiederkehrende "Dauerrepräsentation" der Schande und deren Instrumentalisierung vorgeworfen wird. Profiteure dieser "Instrumentalisierung" der Schande seien letztendlich die Juden, die damit sogar einen illegitimen Nutzen aus der Shoah ziehen würden. In weiteren Argumentationen wird den Tätern ein Teil ihrer Schuld abgesprochen, während die Opfer nicht mehr so ganz unschuldig dastehen.
Typisch für die Konstruktion des "jüdischen Täters" ist es, wenn Juden mit Kommunisten verglichen bzw. wenn kommunistische Handlungen als "jüdische" dargestellt werden. Dies ist der sogenannte antikommunistische Antisemitismus, dessen Grundlage der "Mythos vom jüdischen Kommunismus ist"15. Dabei wird das Schreckgespenst des "jüdischen Bolschewismus" immer mit historischen Fakten "angereichert". Meistens kommen in den Begründungen Stichworte wie "Russische Revolution", "Räterepublik" sowie "bolschewistische Akteure" (wie Leo Trotzki, Béla Kun oder aber "der ungarische Stalin", Mátyás Rákosi, vor). Damit wird die Weltrevolution zur "jüdischen Revolution", und sowjetische Kommunisten und Juden werden dabei stillschweigend zu Synonymen erklärt. Dieses Argumentationsmuster gehört zur traditionellen judenfeindlichen Demagogie, die letztlich in den Holocaust führte16.
In Ungarn spielt die Täter-Opfer-Umkehr nicht nur in der sogenannten Vergangenheitsbewältigung bzw. in der Erinnerungspolitik eine enorme Rolle, sondern im gesamten politischen Leben. Man könnte sogar behaupten, daß selbst der Sieg der völkischen Parteien bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010, den ich mit Fritz Stern als "konservative Revolution"17 oder "völkische Wende" bezeichne, zum großen Teil auf dem Prinzip der beschriebenen Täter-Opfer-Umkehr basiert, in dem sich "die (völkisch gedachte) Nation", vertreten durch die völkischen Parteien Fidesz und KDNP, sowie die rechtsradikale Partei Jobbik, vom vermeintlichen Joch der ("jüdischen") Postkommunisten und der ("jüdischen") Liberalen" zu befreien meint.
Der "antikommunistische Antisemitismus" kam zum Beispiel in einem Film der jetzigen Regierungspartei Fidesz in der Wahlkampagne zu den Parlamentswahlen 2010 in folgenden Sätzen (gesprochen von einem Regisseur) zum Ausdruck:
"Die magyarische Staatlichkeit ist eintausend und einhundert Jahre alt. Die ungarische Linke ist einhundert Jahre alt. Am 11. April wählen wir! Stephan der Heilige oder Béla Kun, das ist hier die Frage! Ich meine: Am 11. April wird Stephan der Heilige das Land von Béla Kun und seinen Nachfolgern zurückerobern."18
Zum "antikommunistischen Antisemitismus" gesellt sich in Ungarn eine weitere Variante, die man nach dem gleichen Muster "antiliberalen Antisemitismus" nennen könnte. Ungarns Antisemiten sind sich darin einig, daß die größte Gefahr für Europa nicht nur der (östliche) Bolschewismus, sondern auch der (westliche) Liberalismus bedeuten, die von "Juden" erfunden worden seien. Sie meinen, daß das, was die Kommunisten (im Realsozialismus) nicht hatten kaputtmachen können, in den letzten 20 Jahren die Liberalen vollbracht hätten. Beide - sowohl die kommunistische als auch die liberale Denkweise bzw. das Denken in den Kategorien der liberalen Demokratie - werden als "jüdische Unterwanderung" der Volksgemeinschaft aufgefaßt.
Auch in der ungarischen Variante der Täter-Opfer-Umkehr ist vor allem der genannte Opfermythos bedeutend, in dem die (völkisch gedachte) Nation permanent und ohne jede Selbstreflexion als das Opfer historischer Ereignisse dargestellt wird. Die antisemitische Konstruktion des "jüdischen Täters" wird vor allem auf die vermeintlichen Kommunisten (in Wirklichkeit gibt es ja kaum welche) und auf die Liberalen übertragen.
Der "antikommunistische" und der "antiliberale" Antisemitismus schlugen sich in Ungarn in den letzten Jahren einerseits in der Aggression und in Angriffen auf "kommunistische" bzw. "liberale" Denkmäler oder Büsten nieder. So wurde das sowjetische Denkmal in Budapest öfters beschädigt19. Auch die Büste von Sir Winston Churchill in Budapest wurde immer wieder mit roter Farbe besprüht und mit einem Davidstern beschmiert20. Der Haß gegen die Kommunisten und die Liberalen äußerte sich in den letzten Jahren immer wieder auch in konkreten Anschlägen gegen sozialistische und liberale Politiker21.
Sakralisierung der Nation
Auf der anderen Seite werden zu bestimmten Anlässen überall im Land Bühnen aufgestellt, die wie "nationale Altäre" funktionieren und - zum Beispiel bei Vereidigungen auf die sogenannte "Heilige Ungarische Krone"22 - eine deutliche Affinität zu religiösen, heidnischen und nationalen Ritualen aufweisen. In den letzten Jahren wurden in wachsender Zahl Monumente oder Skulpturen an öffentlichen Plätzen errichtet, die ebenfalls die Nation glorifizieren. Ein solches Monument ist die 2006 eingeweihte "Hymne"23. Sein Ziel ist es, die Nation mit vor allem christlichen Motiven (aber auch mit Runen) in "himmlische" Höhen emporzuheben. Die Botschaft dieser Glorifizierung der Nation entspricht dem völkischen kollektiven Narrativ des Opfermythos, in dem die Magyaren als eine moralisch saubere Nation erscheinen, die zwar Terror erleiden mußte, die jedoch im Grunde nicht daran teilgenommen hat und auch vom Holocaust unbefleckt geblieben sei.
Auf die Widersprüche - ob wir es hier nun mit einer "Ersatzreligion" oder lediglich mit der "religiösen Dimension" des Nationalen zu tun haben - näher einzugehen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Vielleicht ist es auch gar nicht notwendig, einen expliziten Unterschied herauszuarbeiten. Denn eines ist sicher: In den letzten Jahren nehmen die strukturellen Analogien zwischen religiösen und nationalen Inszenierungen und damit die Tendenz zur Sakralisierung der Nation eindeutig zu. Einmal wird die völkisch verstandene Nation gepriesen, einmal wird die Religion in kirchlichen Predigten nationalisiert, dann wieder wird - wie im Fall des 2010 eingeweihten "Tempels der Karpatenheimat"24 - das Volkstum der Magyaren beschworen.
Die für das völkische Denken typische Suche nach dem "Urvolk" und nach der "Urreligion" führt zu immer neueren Konstruktionen der Geschichte25 und zur Zunahme eines symbolischen Politisierens, das sich sowohl in der Tätigkeit von zivilen Initiativen als auch in der Kultur- und Bildungspolitik der Regierung niederschlägt.
Die 2005 eingeweihte "Turul"-Statue im 12. Bezirk von Budapest geht auch auf ein Fabelwesen in Gestalt eines Falken oder eines Adlers aus dem ungarischen heidnischen Mythenkreis zurück26, wobei der sogenannte Turul-Kult erst um das Millenniumsjahr 1896 mit der Suche nach den Mythen der tausendjährigen Geschichte Ungarns entstand. Vor dem Holocaust spielte der so genannte Turul-Verband eine aktive Rolle in der antisemitischen Hetze, so daß der Symbolcharakter der "Turuls" durch den ungarischen Faschismus belastet ist. Dies wird auch aus der Vogelperspektive klargestellt, wenn die Mauerzüge wie stilisierte Pfeile als Sinnbild der "Pfeilkreuzler", der ungarischen Faschisten27, klar zum Ausdruck kommen. Für diese Deutung spricht auch die Farbgebung der Treppe. Die einzelnen Stufen sind abwechselnd mit roten bzw. weißen Steinen ausgelegt, was der Farbgebung der rotweiß gestreiften Arpadfahnen entspricht (Abb. 1).
Dennoch wurde die Aufstellung der Statue ohne die Genehmigung der sozialliberalen Kommunalverwaltung von Budapest vom damaligen Fidesz-Bezirksbürgermeister zum Gedenken der Opfer des Zweiten Weltkriegs initiiert. In den Folgejahren hat die Kommunalverwaltung von Budapest mehrfach versucht, den Abriß der illegal errichteten Statue in Angriff zu nehmen; doch ist die 2007 gegründete "Ungarische Garde" immer wieder aufmarschiert, um sie, wie es hieß, mit dem Leben der Gardisten zu verteidigen. Seitdem der Turul-Vogel im August 2008 von Vertretern der christlichen Kirchen gesegnet wurde, wird er in Reden rechter und rechtsradikaler Politiker "heiliger Turul" genannt.
Eine der ersten Tätigkeiten der 2010 vereidigten Fidesz-Regierung bestand darin, mit dem "Gesetzesvorschlag für die Aufstellung von Skulpturen im öffentlichen Raum", der sogenannten "Lex Turul", den Status quo der Bronzefigur zu legalisieren. Diese Entscheidung paßt vollkommen in den Gesamtkontext der völkischen Kulturpolitik der Koalitionsparteien, ist jedoch deshalb äußerst problematisch, weil an ihr nicht nur die Schicksalsgemeinschaft mit dem faschistischen Ungarn - wenn auch nicht explizit - deklariert wird, sondern auch, weil sie für die erwähnte Täter-Opfer-Umkehr steht und somit explizit antisemitisch ist.
Die Schuldumkehr geht nämlich - wie im Haus des Terrors28 - mit einem Opfertransfer einher, in dem der Status der Holocaustopfer auf das Magyarentum übertragen, das heißt, die Leidensgeschichte der Holocaustopfer in die Leidensgeschichte der Magyaren transferiert wird. Dies geschieht allerdings - wie im Haus des Terrors - nicht auf verbale Weise, sondern ikonographisch.
Das berühmte und auch von den Holocaust Memorial Centers bekannte Motiv der "Gedenkwand der Opfer" mit den Aufzählungen der Namen wurde vom Schöpfer des Turuls übernommen und an der Seite des Sockels in Metallbänder eingestanzt (Abb. 2). Daß die Statue auch eine für jedermann verständliche antisemitische Konnotation hat, zeigt die Reaktion auf eine Performance der britischen Künstlerin Liane Lang, die den Turul im Juli 2009 mit einer abgeschnittenen Plastikhand im Schnabel photographierte29. Am nächsten Tag wurde prompt das Holocaustmahnmal am Donauufer in Budapest geschändet, indem unbekannte Täter in die einzelnen Schuhe Schweinshaxen steckten30.
Daß die Botschaft auch von den Passanten in dem beschriebenen Sinne verstanden wird, obwohl sowohl von der Kommunalverwaltung als auch von der jetzigen Regierung jegliche antisemitische Konnotation zurückgewiesen wird, wurde in einem aufschlußreichen Kunstprojekt gezeigt31. In der Dokumentation sagen die meisten Befragten, der Turul sei ein uraltes Symbol des Magyarentums, unabhängig davon, wofür er vor und im Zweiten Weltkrieg benutzt wurde. Er sei dafür da, die Nation zu verteidigen und zeige, daß die Nation dazu auch alleine fähig sei:
"Wenn die Rechtsextremen das Symbol benutzen", sagt eine Frau im Film, "dann ist es Aufgabe der Historiker, das Problem aufzuarbeiten. Aber solche, die sich vielleicht nicht einmal dem Magyarentum zugehörig fühlen, haben nicht das Recht, der hier lebenden Zivilisation den Turul zu nehmen. ... Wenn die hier lebenden Mitglieder der SZDSZ (liberale Partei) meinen, wir hätten nicht das Recht auf das Symbol des Turul, dann fühlen sie sich wohl nicht als der Volksgemeinschaft zugehörig und brauchen nicht hier zu leben. Sie können woanders leben, wo andere Symbole verehrt werden. Denn jedes (Wirts)Volk hat seine eigene Vergangenheit und Tradition, vor der diejenigen, die dort leben, sich verneigen müssen."
Wenn man weiß, daß die ungarische liberale Partei im alltäglichen Sprachgebrauch schlicht "die Judenpartei" genannt wird, dann werden die Gedanken der Befragten eindeutig. Im Klartext heißt das, die "verjudeten" Liberalen sollen aus dem Land verschwinden und am besten nach Israel ziehen. Genau dieser Kontext erscheint, wie eingangs beschrieben, in der Gesamtkommunikation der Regierung.
Als Ergebnis dieses lang anhaltenden und von großen Teilen der Bevölkerung befürworteten völkischen Strebens nach einer "cultural whiteness" ("whiteness" verstanden als eine rassistische kulturelle Kategorie) werden heute der demokratische Widerstreit als Chaos und die Diversität als Unordnung erlebt. Die ungarische Bevölkerung konnte und kann noch immer nichts mit dem individuellen Angebot der Demokratie anfangen und wählte lieber das Sichere und Altbekannte, die vermeintliche "Nestwärme" - den Weg zum kollektiven Zwang.