"Ich fühle mich jeden Augenblick irgendwie für das viele Traurige verantwortlich, das auf der Welt geschieht" - dieser Satz von Hildegard Burjan steht auch als Motto über ihrem Leben. Ob sie als junge Studentin einen Sozialfond für bedürftige Kollegen gründete, sich als engagierte Kämpferin für die Rechte der Frauen einsetzte oder in die Politik ging, um ungerechte gesellschaftliche Strukturen zu verändern, letztlich eine Schwesterngemeinschaft gründete, um der Not der Zeit effizient begegnen zu können: Immer entsprang es diesem Verantwortungsgefühl für den Mitmenschen, das sie zu ihrem Tun motivierte. Kraft dafür schöpfte sie aus einem tiefen Glauben, zu dem sie aber erst nach einer Zeit des Suchens und einer schweren Prüfung gefunden hatte.
Geboren wurde sie am 30. Januar 1883 als zweite Tochter der jüdischen Kaufmannsfamilie Abraham Adolph und Berta Freund in Görlitz an der Neisse (damals Preußisch-Schlesien). Im Hause Freund wurde der jüdische Glauben nicht praktiziert. Man fühlte sich dem liberalen Humanismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Was den beiden Mädchen Alice und Hildegard aber vermittelt wurde, waren die Grundzüge wahrer Menschlichkeit und Gerechtigkeit sowie der Sinn der Verantwortung für andere1. Großer Wert aber wurde auf eine gediegene, für Mädchen damals noch nicht übliche Ausbildung gelegt. Nach der Grundschule in Görlitz besuchten die Schwestern das Charlottenlyzeum in Berlin. Eine weitere berufliche Veränderung des Vaters führte die Familie in die Schweiz, wo Hildegard 1903 maturierte.
Hildegards intellektuelle Neigungen waren stark ausgeprägt. Sie belegte daher an der Universität Zürich Germanistik und besuchte auch philosophische Vorlesungen des Kulturphilosophen Robert Saitschik sowie des Moralpädagogen Friedrich Wilhelm Foerster. Beide waren evangelische Christen ohne kirchliche Bindung. Aber gerade über sie fand Hildegard den ersten bewußten Zugang zum Glauben2. In jenen Tagen des Jahres 1905 wird ihr bewußt, daß das unbedingte Anstreben des vollkommenen Mensch-Seins immer unerfüllt bleiben wird, wenn nicht Gott das Ziel allen Tuns und Handelns ist.
In Zürich lernt Hildegard den Technik-Studenten Alexander Burjan kennen. Er ist gebürtiger Ungar, jüdischer Abstammung, und wuchs ebenfalls religionslos auf. Das Paar heiratete 1907 und übersiedelte nach Berlin. Hier findet Hildegard Burjan ihren Weg zum katholischen Glauben.
Anfang Oktober 1908 wurde die junge Frau mit schweren Nierenkoliken in das St. Hedwigs-Krankenhaus gebracht. Trotz mehrerer operativer Eingriffe verschlechterte sich ihr Zustand zusehends. In der Karwoche des Jahres 1909 teilten die Ärzte dem jungen Ehemann mit, daß es kaum noch Chancen gäbe. Am Ostersonntag, am 11. April 1909, geschah das Unfaßbare: Das Fieber fiel, die bisher offene Wunde im Unterleib schloß sich. Nach sieben Monaten Krankenhaus konnte sie einige Wochen später nach Hause entlassen werden. An den Folgen dieser Eingriffe wird sie aber ein Leben lang leiden3.
Was Hildegard Burjan auf intellektueller Ebene bisher nicht erfassen konnte, bewirkte nun dieses Ereignis: Sie konnte aus tiefstem Herzen glauben. Am 11. August 1909 empfing sie das Sakrament der Taufe. Die hochintellektuelle Frau bewahrte sich ihr ganzes Leben lang eine fast kindlich zu nennende Glaubenshaltung; jede theologische Auseinandersetzung lehnte sie ab: "Ich habe mich entschlossen zu glauben, so wie Gott es durch seine Kirche lehrt, darum will ich eben glauben und nicht wissen …".
Nach diesem einschneidenden Erlebnis strebte Hildegard Burjan keine wissenschaftliche Laufbahn mehr an. Was wollte Gott mit ihr? Diese Frage stellte sie sich während der Rekonvaleszenz. Eine berufliche Veränderung ihres Mannes - Alexander bekam eine leitende Position bei der Österreichischen Telefonfabriks-AG - stellte die Weichen für einen Neubeginn. Das Ehepaar Burjan übersiedelte im Herbst 1909 nach Wien. Mit einem Empfehlungsbrief ihres Taufpriesters, des Jesuiten Franz Rauterkus, nahm Hildegard Burjan Kontakt mit katholischen Kreisen auf, die sich mit den Aussagen der ersten Sozialenzyklika "Rerum Novarum" Papst Leos XIII. (1891) auseinandersetzten.
Bevor die junge Frau ihr soziales Engagement beginnen konnte, erwartete sie noch eine schwere Prüfung: Die Ärzte hatten ihr infolge der schweren inneren Verwachsungen abgeraten, ein Kind zu bekommen - nun war sie aber schwanger. Aus medizinischen Gründen riet man ihr zu einem Abbruch, doch sie lehnte strikt ab. Unter Lebensgefahr brachte sie am 27. August 1910 ihr einziges Kind, Tochter Lisa, zur Welt.
"Nur" Hausfrau und Mutter zu sein war nicht das alleinige Lebensziel von Hildegard Burjan. Ihr "neu geschenktes Leben" wollte sie ganz Gott und den Menschen widmen. Der vor allem in den Arbeiterkreisen herrschenden Not galt ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie entwickelte ein Sozialkonzept, das von einem neuen Ansatzpunkt ausging. Während man in katholischen Kreisen Wohltätigkeit im gewohnten Stil praktizierte, war ihr Ziel, eine Veränderung der sozialen Strukturen herbeizuführen. Außerdem sollte dem in eine Notlage geratenen Menschen auch jede Möglichkeit geboten werden, sein Leben wieder selbst gestalten zu können. Ein modernes Schlagwort umschreibt dies heute mit "Hilfe zur Selbsthilfe".
Hildegard Burjans Sorge galt vorrangig den Frauen, vor allem Arbeiterinnen. Rechtlos und ausgebeutet waren meistens die Heimarbeiterinnen. Sie arbeiteten unter den schlechtesten Bedingungen und unter größtem Lohndruck. Hildegard Burjan sah als ersten Schritt den Zusammenschluß der Frauen als Notwendigkeit an, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Am 13. Dezember 1912 wurde der "Verein der christlichen Heimarbeiterinnen" in Wien gegründet4. Hildegard Burjan organisierte für die Mitglieder Großaufträge, schaltete damit die Zwischenhändler aus und erreichte dadurch bessere Löhne. Den Mitgliedern wurden Wöchnerinnenschutz, Unterstützung im Krankheits- und Sterbefall, Rechtsschutz sowie religiöse Fortbildungsmöglichkeiten geboten.
In der Öffentlichkeit wurde man auf die energische Frau mit ihren innovativen Ideen bald aufmerksam. Nach einem am 16. April 1914 vor dem "2. Österreichischen Katholischen Frauentag" gehaltenen Referat, wo sie rhetorisch brillant die dringend notwendigen gesetzlichen Regelungen des Berufsstandes der Heimarbeiterinnen einforderte, wurde Hildegard Burjan zur "Heimarbeiterinnenmutter von Wien" proklamiert.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, galt die Sorge von Hildegard Burjan wieder den Frauen, vor allem jenen mit Kindern, die durch den Einzug der Männer zum Kriegsdienst oft in eine große Notlage gerieten. Sie richtete Nähstuben und zentrale Arbeitsbeschaffungsstellen ein. Sie organisierte unter anderem auch den Großeinkauf von Lebensmitteln. Zusätzlich rief sie eine Hilfsaktion für die notleidende Bevölkerung im Erzgebirge ins Leben.
Als Hildegard Burjan 1917 als Referentin am "1. Christlich-deutschen Frauentag" die Forderung "Gleicher Lohn für gleiche Leistung" erhob, brandete tosender Beifall auf. Die Politik, konkret die Christlichsoziale Partei, wurde auf sie aufmerksam. Beim Aufbau der jungen Republik Österreich brauchte man Frauen wie Hildegard Burjan. Nach einigem Zögern nahm sie das Angebot an, in die Politik einzusteigen, denn ihre Ansicht war: "Politisches Engagement gehört zum praktischen Christentum ...". Nach einem kurzen Zwischenspiel im Wiener Gemeinderat stellte sie sich als Kandidatin für die Wahlen zur "Konstituierenden deutsch-österreichischen Nationalversammlung" zur Verfügung. Als erste und einzige christlichsoziale Abgeordnete zog sie gemeinsam mit sieben Vertreterinnen der Sozialdemokratischen Partei in das Parlament der Ersten Republik Deutsch-Österreich ein. Auch hier setzte sich Hildegard Burjan wieder für die Rechte der Frauen, deren Gleichbehandlung, aber vor allem für deren Recht auf Bildung ein.
Als für 1920 frühzeitige Neuwahlen ausgeschrieben wurden, kandidierte Hildegard Burjan nicht mehr. Sie wollte sich jetzt der Verwirklichung ihres Lebenszieles widmen, der Gründung einer religiösen Schwesterngemeinschaft. Nicht gebunden an eine Klausur, aber den Evangelischen Räten verpflichtet, sollten sich deren Mitglieder in die Not der Zeit begeben können. Am 3. Oktober 1919 schlug die Geburtsstunde der "Caritas Socialis", mit der eine neue Form des Gemeinschaftslebens in der Kirche geboten wurde. Erste Vorsteherin wurde als verheiratete Frau und Mutter Hildegard Burjan.
Mit ihren Schwestern setzte sie in den kommenden Jahren bahnbrechende Sozialinitiativen, die heute noch unter meist anderem Namen zum Angebot von Gemeinde und Organisationen gehören, in die Praxis um. Vor allem den Randgruppen der Gesellschaft, Obdach- und Arbeitslosen, gefährdeten Kindern und Jugendlichen, wohnsitzlosen Frauen, Prostituierten sollte jene Hilfe geboten werden, die es ihnen ermöglicht, wieder in geordnete Verhältnisse zurückzukehren.
Hildegard Burjan war eine Frau, die in das zu ihrer Zeit herrschende Frauenbild nicht einzuordnen ist, da sie im Agieren und Reagieren ihrer Zeit weit voraus war. Die Kraft zur Bewältigung der vielfältigen Aufgaben im Spannungsfeld von Familie und sozialpolitischem Engagement schöpfte Hildegard Burjan aus ihrer tiefen Gottverbundenheit. Am 11. Juni 1933 stirbt sie, erst 50 Jahre alt, an den Folgen ihrer seinerzeitigen Erkrankung.
Am 29. Januar 2012 erfolgt in Wien die Seligsprechung der bedeutendsten Sozialpionierin des 20. Jahrhunderts in Österreich. Sie setzte ihr Leben dafür ein, die Liebe Gottes durch die soziale Tat zu verkünden.