"Mit brennender Sorge und steigendem Befremden beobachten Wir seit geraumer Zeit den Leidensweg der Kirche, die wachsende Bedrängnis der ihr in Gesinnung und Tat treubleibenden Bekenner und Bekennerinnen inmitten des Landes und des Volkes, dem St. Bonifatius einst die Licht- und Frohbotschaft von Christus und dem Reiche Gottes gebracht hat"1: Mit diesen eindrücklichen Formulierungen beginnt der Text einer der sicherlich bekanntesten Enzykliken der Kirchengeschichte2. Datiert auf den 14. März 1937, wurde sie vor 75 Jahren, am Palmsonntag, dem 21. März, von allen rund 11 500 Kanzeln katholischer Kirchen in Deutschland verlesen und hunderttausendfach im Druck verteilt.
Ein vatikanischer Coup
Es war ein großer Coup, der die Nationalsozialisten völlig überraschte. Wenige Tage zuvor hatten sie noch über die am 19. März veröffentlichte Enzyklika "Divini redemptoris"3 gejubelt, mit der Pius XI. den Kommunismus feierlich verurteilt hatte. Nun unterzog derselbe Papst gerade zwei Tage später die nationalsozialistische Politik und die ihr zugrunde liegende Ideologie einer ätzenden Kritik, freilich ohne die Partei oder ihre führenden Repräsentanten namentlich zu erwähnen. Daß die deutschen Katholiken die eigentlichen Adressaten der Enzyklika waren, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß es sich bei "Mit brennender Sorge" um die einzige Enzyklika handelt, die im Original auf Deutsch abgefaßt wurde, sondern auch aus der direkten Anrede der deutschen Bischöfe.
Die Entstehungs- und Redaktionsgeschichte der Enzyklika im engeren Sinn ist seit langem bekannt. Die Öffnung der Vatikanischen Archive für den Pontifikat Pius' XI. in den Jahren 2003 bzw. 2006 hat - allen Unkenrufen zum Trotz, die neuen Akten würden "keine Überraschungen"4 mehr bieten - für den lehramtlichen Hintergrund des päpstlichen Schreibens ganz neue Perspektiven eröffnet: Im Grunde handelt es sich nämlich bei bestimmten Passagen um nichts Geringeres als die chiffrierte Auseinandersetzung des päpstlichen Lehramts mit Hitlers "Mein Kampf". Dieser Zusammenhang war auch für eingeweihte Zeitgenossen allenfalls zu erahnen. Im Archiv der Römischen Glaubenskongregation aufgefundene Akten5 zur geplanten Indizierung von "Mein Kampf" liefern jedoch gleichsam die Dechiffriertabelle für diesen Teil der Enzyklika vom März 1937.
Die Entstehungsgeschichte
Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli gab im Juli 1936 dem in Rom weilenden Trierer Bischof Franz Rudolf Bornewasser einen ersten Hinweis, Pius XI. wolle, gestützt auf eine umfassende Dokumentation der "Verletzungen des Konkordats" durch das nationalsozialistische Regime, ein "Pastorale" erlassen. Daraufhin baten die deutschen Bischöfe auf ihrer Konferenz in Fulda am 18. August 1936 den Papst ausdrücklich um eine Stellungnahme zur Lage der Kirche in Deutschland. Vorausgegangen waren eine erste Welle der sogenannten Devisen- und Sittlichkeitsprozesse, die seit Mai 1936 die moralische Autorität der katholischen Kirche unterminieren sollten, das Gesetz über die Senkung der Staatsleistungen für kirchliche Zwecke, der Streit um die Bekenntnisschulen sowie die gescheiterten Nachverhandlungen zum Reichskonkordat über die Sicherung der kirchlichen Vereine.
Am 12. und 13. Januar 1937 versammelten sich die deutschen Bischöfe zu einer außerordentlichen Plenarsitzung in Fulda, um die drastisch verschlechterte Situation der Kirche im NS-Staat auf der Grundlage eines Referats des Münchener Erzbischofs Michael von Faulhaber zu beraten. Unmittelbar anschließend reisten die drei deutschen Kardinäle Faulhaber, Adolf Bertram (Breslau) und Karl Joseph Schulte (Köln) sowie die Bischöfe Clemens August Graf von Galen (Münster) und Konrad Graf von Preysing (Berlin) auf Einladung des Papstes zu Konsultationen nach Rom. Daß die drei Kardinäle als ranghöchste Repräsentanten der deutschen Kirche nach Rom einbestellt wurden, lag auf der Hand; der Berliner Bischof Preysing dürfte aufgrund seiner engen Beziehungen zu Kardinalstaatssekretär Pacelli hinzugezogen worden sein. Warum aber auch der gerade vier Jahre im Amt befindliche Münsteraner Bischof Galen mit eingeladen wurde, war lange Zeit unklar.
Ein Fund im Vatikanischen Geheimarchiv gibt Antwort. Danach ging der entscheidende Anstoß zu einem grundsätzlichen Strategiewechsel der Kirche im Umgang mit dem Nationalsozialismus auf Galen zurück. Öffentliche Auseinandersetzung statt geheime Eingaben lautete für ihn die Devise. Galen hatte im Frühjahr 1936 an Pacelli geschrieben:
"Die Taktik des Verhandelns hinter verschlossenen Türen und der nicht veröffentlichten Eingaben und Proteste an Regierungsstellen war richtig, solange man hoffen durfte, bei den Regierungsstellen wirklichen Friedenswillen und Rücksicht auf Gerechtigkeit zu finden. Zu solcher Hoffnung ist wohl kein Grund mehr vorhanden."
Das Gebot der Stunde sei jetzt eine "andere Taktik, das Hervortreten an die Öffentlichkeit". Man müsse nun "gegen jeden neuen Eingriff in die Rechte und die Freiheit der Kirche öffentlich protestieren". Angesichts der "Uneinigkeit des deutschen Episkopats" könne ein solcher "Wechsel in der Kampftaktik nicht die Sache eines einzelnen Bischofs sein"6. Damit hatte Galen klar ausgesprochen, daß nach seiner Meinung ein öffentliches Fanal nicht aus der Mitte der deutschen Bischöfe, sondern nur von Rom, allein vom Papst kommen konnte. Deshalb ist Galen mit gutem Grund als der eigentliche Initiator der Enzyklika zu bezeichnen.
Am Abend des 15. Januar, einem Freitag, wurden Bertram und Faulhaber vom Kardinalstaatssekretär zu einer informellen Vorbesprechung empfangen. Der Münchener Kardinal bot an, sein in Fulda gehaltenes Referat zur Lage der Kirche in Deutschland als Gesprächsgrundlage zur Verfügung zu stellen. Die nächste Zusammenkunft am 16. Januar war eine Vollsitzung der nach Rom gereisten deutschen Kardinäle und Bischöfe, in der Pacelli einige Punkte bekanntgab, über die sich Pius XI. besonders informieren wolle. Dabei äußerten die Bischöfe die Überzeugung: "Für die Kirche geht es zurzeit auf Leben und Tod: Man will direkt ihre Vernichtung."7
Ein persönliches Handschreiben des Papstes an Hitler hielten die Vertreter des deutschen Episkopats für nicht ausreichend; sie sprachen sich stattdessen für eine päpstliche Enzyklika mit doktrinellem Charakter aus. Kardinalstaatssekretär Pacelli war skeptisch. Er versuchte jede lehramtliche Verurteilung des Nationalsozialismus zu verhindern, die als einseitige politische Parteinahme gewertet werden könnte, und damit die Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls gefährdet hätte. Zu einer Enzyklika gegen den Nationalsozialismus ließ er sich nur bewegen, weil die Entwicklung des Spanischen Bürgerkriegs gleichzeitig eine Verurteilung des Bolschewismus und seiner Expansion in Europa möglich machte. Nur durch eine "Symmetrie" der Verdammung durch zwei Enzykliken sah er die Überparteilichkeit Roms gewährleistet. Trotz seiner prinzipiellen Vorbehalte bat er Faulhaber um einige Stichpunkte für ein solches päpstliches Rundschreiben.
Die Audienz am Sonntagvormittag fand am Krankenlager des Papstes statt. Bei einem anschließenden Mittagessen Pacellis mit den Bischöfen erörterten diese die Konsequenzen, die ein päpstliches Hirtenschreiben in Deutschland nach sich ziehen könnte. Am Montagabend, den 18. Januar, präzisierte der Kardinalstaatssekretär dann seine Absicht und bat Faulhaber, einen ersten schriftlichen Entwurf einer Enzyklika auszuarbeiten. Unter strengster Geheimhaltung verfaßte dieser in den drei folgenden Nächten einen handschriftlichen Text in deutscher Sprache, den er am 21. Januar Pacelli übergab. "Niemand weiß von diesem Schreiben. Darum habe ich es in den Nachtstunden geschrieben, damit auch kein Maschinenschreiber davon erfahre"8, bemerkte Faulhaber zu seinem Entwurf. Der einzige, der von Pacelli in Rom ins Vertrauen gezogen wurde, war der Jesuitengeneral Wladimir Ledóchowski. Die weitere Überarbeitung des Entwurfs wurde vom Staatssekretär persönlich geleitet und überwacht. In den folgenden Wochen bis zur Versendung wurde aus dem Entwurf Faulhabers ein umfassendes päpstliches Lehrschreiben. Gliederung und Gedankenführung des Faulhaberschen Entwurfs, der sich vor allem auf eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung konzentrierte, wurden von Pacelli weitgehend übernommen.
Der Text erfuhr allerdings eine deutliche Erweiterung um einen ersten, eher politischen Teil. Hier gab der Kardinalstaatssekretär ganz seinen bisherigen Aufmerksamkeitsschwerpunkten entsprechend einen kritischen Rückblick auf die Entwicklung von Kirche und Staat in Deutschland seit Abschluß des Reichskonkordats im Jahr 1933. Die Kirche habe seitdem "unendlich viel Herbes und Schlimmes"9 erfahren. Die geheimen Proteste gegen die "Vertragsumdeutung, Vertragsumgehung, Vertragsaushöhlung, schließlich die mehr oder minder öffentliche Vertragsverletzung"10 seien wirkungslos geblieben. Die andere Seite habe von Anfang an mit ihren "Machenschaften" kein anderes Ziel gekannt, als den "Vernichtungskampf" gegen die Kirche11. Angesichts "von tausend Formen organisierter religiöser Unfreiheit" und einem eklatanten "Mangel an wahrheitsgetreuer Unterrichtung" hätten die Katholiken Deutschlands ein Recht auf ein "Wort der Wahrheit und der seelischen Stärkung"12.
Der zweite, eher theologische Teil folgt den klassischen Traktaten der Apologetik bzw. Fundamentaltheologie - demonstratio religiosa (Gottesglaube), christiana (Christusglaube) und catholica (Kirchenglaube) -, nimmt dabei aber eine Kontextualisierung vor. Hier wird jeweils die "wahre katholische Lehre" "nationalistischen" oder "rassistischen" Ideologien entgegengestellt. Diese Tendenz tritt besonders im Abschnitt "Umdeutung religiöser Begriffe", in dem es um Offenbarung, Glaube, Unsterblichkeit, Erbsünde, Kreuz und Demut geht, deutlich zu Tage.
Nach einem Abschnitt über das Naturrecht, den Ledóchowski beisteuerte, folgt ein dritter Teil, der eine pastorale Ermutigung der Jugend, der Priester und Ordensleute sowie aller "Getreuen aus dem Laienstande" darstellt und diese auf eine weitere offensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vorbereiten sollte. Zwar sei "die Wiederherstellung eines wahren Friedens zwischen Kirche und Staat in Deutschland" der innigste Wunsch des Heiligen Vaters, wenn dieser Friede aber ohne Schuld der Kirche nicht sein solle, dann werde man "ihre Rechte und Freiheiten verteidigen im Namen des Allmächtigen, dessen Arm auch heute nicht verkürzt ist"13.
Die römische Antwort auf "Mein Kampf"
Die Enzyklika stellte jedoch nicht nur eine allgemeine politische Abrechnung mit dem fortdauernden Konkordatsbruch durch das NS-Regime und eine grundsätzliche weltanschaulich-dogmatische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie dar; sie war vielmehr die eigentliche Antwort der Römischen Kurie auf Hitlers "Mein Kampf". Es verwundert, daß dieses Werk nicht auf den "Index der verbotenen Bücher" gesetzt wurde, während Alfred Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" am 7. Februar 1934, über ein halbes Jahr nach Abschluß des Reichskonkordats, vom Heiligen Offizium verboten worden war.
Tatsächlich war auch Hitler in das Visier der obersten römischen Glaubenswächter geraten. Bischof Alois Hudal, der Rektor der Anima, hatte bei Pius XI. dafür geworben, daß sich das Heilige Offizium über Rosenberg hinaus grundsätzlich mit den "falschen Lehren von Nationalismus und vom Totalitärstaat" auseinandersetzen sollte. Dabei wollte er den Reichskanzler aber ausgenommen wissen, denn er spekulierte immer noch darauf, in Hitler einen Verbündeten gegen noch radikalere Strömungen im Nationalsozialismus finden zu können. Am 25. Oktober 1934 beschlossen die Kardinäle der Kongregation, Gutachten zur Blut- und Rassenlehre des Nationalsozialismus anzufordern. Der Jesuit Johann Baptist Rabeneck verfaßte - entgegen Hudals Intention - ein ausführliches Votum über Hitlers "Mein Kampf", aus dem er 37 gefährliche Sätze zur Rassenlehre herausdestillierte und in sogenannten Propositionen zusammenfaßte. Nach der Praxis des Heiligen Offiziums sollten diese Sätze die aus der Sicht des kirchlichen Lehramts verwerflichsten Hauptthesen eines Werkes auf den Punkt bringen. Die Absicht war, diese dann in einem "Syllabus errorum", einer Liste von irrigen Sätzen, feierlich zu verurteilen. Im Falle Hitlers sollte es also nicht bei einem einfachen Buchverbot bleiben. Rabeneck gab in den Fußnoten zu den lateinischen Propositionen jeweils die genaue Fundstelle in "Mein Kampf" auf Deutsch an.
Zwei Beispiele mögen die Arbeitsweise des Jesuiten belegen. Die erste Proposition der Lehre Hitlers und der Nationalsozialisten faßte der Gutachter in folgende Formulierung:
"Von Tag zu Tag wird mit wahrhaft fanatischem Eifer eine gewisse neue Betrachtungsweise ('Weltanschauung') der Natur und der menschlichen Dinge weiter verbreitet, welche als letzte Grundlage die Beschaffenheit des Blutes und die natürliche Anlage hat, durch die eine Rasse bestimmt wird."14
Als Beleg für diese Aussage führte der Jesuit einen Abschnitt aus dem Kapitel "Zusammenfassung zur Partei" aus "Mein Kampf" an:
"Deshalb sah ich meine eigene Aufgabe besonders darin, aus dem umfangreichen und umgestalteten Stoff einer allgemeinen Weltanschauung diejenigen Kernideen herauszuschälen und in mehr oder minder dogmatische Formen umzugießen, die in ihrer klaren Begrenztheit sich dazu eignen, jene Menschen, die sich darauf verpflichten, einheitlich zusammenzufassen. Mit anderen Worten: Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei übernimmt aus dem Grundgedanken einer allgemeinen völkischen Weltvorstellung die wesentlichen Grundzüge, bildet aus denselben, unter Berücksichtigung der praktischen Wirklichkeit, der Zeit und des vorhandenen Menschenmaterials sowie seiner Schwächen, ein politisches Glaubensbekenntnis, das nun seinerseits in der so ermöglichten straffen organisatorischen Erfassung großer Menschenmassen die Voraussetzung für die siegreiche Durchsetzung dieser Weltanschauung selber schafft."1
In der achten Proposition ging Rabeneck auf Hitlers falsche, zu verurteilende Rassenlehre ein: "Die arische Rasse hat, weil sie von Natur aus eine vortreffliche Anlage des Körpers und Blutes und deswegen des Geistes erlangte, den ersten Platz inne."16 Als Belegstelle aus "Mein Kampf" führte der Konsultor an, Hitler habe den "Arier als Kulturbegründer" postuliert, auf den "nahezu ausschließlich" alles "an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst und Wissenschaft und Technik" zurückgehe, weil der Arier "allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp darstellt, was wir unter dem Wort 'Mensch' verstehen"17.
In den folgenden beiden Jahren wurde im Heiligen Offizium intensiv an der Liste mit gefährlichen Sätzen aus "Mein Kampf" und anderen Werken von nationalsozialistischen Autoren gearbeitet. Schließlich beschlossen die Kardinäle unter Vorsitz des Papstes am 18. November 1936 eine Vertagung der Entscheidung in der Angelegenheit auf unbestimmte Zeit, ordneten aber immerhin eine Fortsetzung der internen Beschäftigung mit der Thematik an. Im Frühjahr 1937, also parallel zur Erarbeitung der Enzyklika "Mit brennender Sorge", wurde in der obersten römischen Glaubensbehörde schließlich eine Liste mit zehn zu verurteilenden Sätzen zum Thema Rassismus diskutiert, die aus "Mein Kampf" extrahiert worden waren. Diese Liste wurde freilich vom Heiligen Offizium nicht publiziert. Sie lauteten in deutscher Übersetzung18:
1. Aus dem "Blut", in dem die Anlagen der Rasse enthalten sind, strömen alle intellektuellen und moralischen Eigenschaften des Menschen wie aus einer überaus mächtigen Quelle.
2. Die Rassen der Menschen unterscheiden sich voneinander in ihrer angeborenen und unveränderlichen Wesensart so sehr, daß die niedrigste von der höchsten Rasse der Menschen weiter entfernt ist als von der höchsten Tierart.
3. Die Kraft der Rasse und die Reinheit des "Blutes" sind auf jede erdenkliche Art und Weise zu bewahren und zu fördern, und jedes Mittel, das hierzu nützlich und wirksam ist, ist als solches ehrbar und erlaubt.
4. Das vorrangige Ziel der Erziehung ist es, die Anlagen der Rasse fortzuentwickeln, indem man den Körper veredelt, damit er stark und wohlgestaltet ausgebildet werde und den Geist mit brennender Liebe zur eigenen Rasse als dem höchsten Gut entflammt.
5. Die christliche Religion muß dem Gesetz der Rasse unterworfen werden. Deshalb muß die Lehre von der Ursünde, von der Erlösung durch das Kreuz Christi und von der auszuübenden Demut und Buße abgelehnt oder verändert werden, insofern sie den Menschen dem heroischen Geist entfremdet.
6. Die christliche Religion soll aus dem öffentlichen Leben völlig ausgetilgt werden; daher sollen jegliche katholische Zeitschriften, Schulen und Verbindungen aus dem Wege geräumt werden.
7. Die Lehre, die Verfassung, die Leitung und der Kult der katholischen Kirche sind nicht von der Art, daß in ihr unterschiedliche Völker, Nationen und Rassen in der Lage wären, gemäß der jeweils eigenen natürlichen Anlage zu leben, sich zu entwickeln und zur völligen Perfektion zu gelangen.
8. Der Gottesbegriff und die Religion werden durch Nation und Rasse definiert. Der religiöse Glaube ist nichts anderes als das Vertrauen in das künftige Schicksal des eigenen Volks; die Unsterblichkeit des Menschen ist aber ausschließlich im Weiterbestehen des eigenen Volks und der eigenen Rasse gegeben.
9. Die ursprüngliche Quelle und höchste Regel der allgemeinen Rechtsordnung ist der Rasseninstinkt.
10. Der "Selektionskampf" und das "Recht des Stärkeren" verleihen im Erfolgsfall dem Sieger von selbst das Recht zu herrschen.
Eine öffentliche und namentliche Indizierung Hitlers war zwar unterblieben und auch ein Syllabus mit der Verdammung der falschen Sätze der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht erschienen, die Vorarbeiten des Heiligen Offiziums zu Hitlers "Mein Kampf" landeten aber nicht einfach im Archiv. Sie flossen vielmehr in die Erarbeitung der Enzyklika ein. Hier wurden allerdings - dem Charakter eines päpstlichen Lehrschreibens entsprechend - nicht wie bei einer Indizierung einzelne Sätze oder gar das ganze Werk verdammt, sondern man legte in Abgrenzung zu Positionen des weltanschaulichen Gegners die Lehre der Kirche positiv dar.
Sicher ist, daß Pacelli, der qua Amt Mitglied des Heiligen Offiziums war, die einschlägigen Unterlagen vorlagen, die im Geheimdruck für alle Kardinäle und Konsultoren der obersten Glaubensbehörde vervielfältigt wurden. Er konnte also direkt auf die Gutachten und Propositionen zu Hitlers "Mein Kampf" zurückgreifen. Inwieweit auch Faulhaber diese Quellen unmittelbar zur Verfügung standen, ist bislang nicht eindeutig zu klären. Sein Entwurf zur Enzyklika zeigt aber, daß er inhaltlich mit dieser Materie bestens vertraut war. Angesichts der engen und langjährigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kardinalstaatssekretär und dem Münchener Kardinal, die auf Pacellis Zeit als Nuntius in München zurückgehen, spricht viel dafür, daß Pacelli ihn zumindest mündlich sehr differenziert über den "Fall Hitler" informierte, wenn er ihm nicht sogar sub secreto Sancti Officii die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung stellte.
Jedenfalls ging Faulhaber in seinem Entwurf der Enzyklika direkt auf den in Satz 8 der Liste vom Frühjahr 1937 namhaft gemachten nationalsozialistischen Gottesbegriff ein:
"Habet acht, daß nicht die Rasse oder der Staat oder andere Werte der Volksgemeinschaft, die wohl in der Ordnung der irdischen Werte einen Ehrenplatz beanspruchen können, überschätzt und mit Götzenkult vergöttert werden. Daß nicht der dreimal heilige Gottesname als leere Etikette für irgendein gedankenloses Gebilde der menschlichen Phantasie gebraucht werde."1
Und später: "Unsterblichkeit ist das Fortleben der Seele nach dem Tod als persönliches Einzelwesen, nicht das kollektive Mitfortleben im Fortbestand seines Volkes für eine lange Zukunft im Diesseits."20 In Propositio 9 war vom Heiligen Offizium die These Hitlers, oberste Norm jeder Rechtsordnung sei der Rasseinstinkt, als verurteilungswürdig gebrandmarkt worden. Faulhaber postulierte ebenfalls eine unverkürzte Geltung des Naturrechts und wies den Grundsatz "Recht ist, was dem Volke nützt" in seinem Textentwurf mit Nachdruck zurück21.
Der Kardinalstaatssekretär übernahm weitgehend diese Formulierungsvorschläge des Münchener Kardinals in die Schlußversion der Enzyklika. Er beschränkte sich als Autor jedoch nicht auf den kirchenpolitischen Teil, sondern fügte aus seiner Kenntnis des Materials des Heiligen Offiziums auch einschlägige lehramtliche Passagen hinzu. So formulierte Pacelli an einer Stelle, die im Entwurf Faulhabers keine unmittelbare Entsprechung hat, also vom Kardinalstaatssekretär eigenständig verfaßt wurde:
"Die von dem Erlöser gestiftete Kirche ist eine - für alle Völker und Nationen. Unter ihrem Kuppelbau, der wie Gottes Firmament die ganze Erde überwölbt, ist Platz und Heimat für alle Völker und Sprachen, ist Raum für die Entfaltung aller von Gott dem Schöpfer und Erlöser in die einzelnen und in die Volksgemeinschaften hineingelegten besonderen Eigenschaften, Vorzüge, Aufgaben und Berufungen. Das Mutterherz der Kirche ist weit und groß genug, um in der gottgemäßen Entfaltung solcher Eigenarten mehr den Reichtum der Mannigfaltigkeit zu sehen als die Gefahr von Absonderungen. Sie freut sich des geistigen Hochstandes der einzelnen und der Völker. Sie sieht in ihren echten Leistungen mit Mutterfreude und Mutterstolz Erziehungsfrüchte und Fortschritte, die sie segnet und fördert, wo immer sie es im Gewissen kann. Aber sie weiß auch, daß dieser Freiheit Grenzen gezogen sind durch die Majestät des Gottesgebotes, das diese Kirche in allem Wesenhaften als untrennbare Einheit gewollt und gegründet hat."22
Dies ist eine klare Widerlegung der einschlägigen Proposition zum Thema Rassismus - und damit Hitlers Ideologie in "Mein Kampf" - durch eine positive Entfaltung der Lehre der katholischen Kirche.
Die These eines Zusammenhangs von "Mit brennender Sorge" und der geplanten Verurteilung von Hitlers "Mein Kampf" läßt sich auch in einer Art Gegenprobe auf der Grundlage eines interessanten internen Dokuments aus dem Heiligen Offizium vom Frühjahr 1937 erhärten. Denn auch den Kardinälen und Konsultoren war nicht entgangen, daß die Enzyklika Passagen enthielt, die sich bis in die Wortwahl hinein mit der gleichen Materie wie der von ihnen geplante Syllabus beschäftigten. Man gab daher am 1. April eine Synopse in Auftrag, welche die eigenen intern erarbeiteten Propositionen zu Rassismus und Hypernationalismus bzw. Totalitarismus mit den entsprechenden Aussagen der Enzyklika vergleichen sollte. Dabei wurden die positiven Lehraussagen des päpstlichen Schreibens, das entsprechende nationalsozialistische Ansichten zumindest indirekt zurückwies, so behandelt, daß man aus ihnen wieder Propositionen "destillierte", in denen man die irrigen NS-Positionen zusammengefaßt sah. So hatte die Enzyklika auf naturrechtlicher Grundlage formuliert: "Wer die Rasse, oder das Volk, oder den Staat … zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge"23. Hieraus gewann man im Heiligen Offizium die zu verwerfende Propositio "Alles, was dem Volk, oder der Rasse nützt, ist allein dadurch moralisch gut oder ehrenhaft."24 Dadurch sah man Propositio 3 der eigenen Liste durch "Mit brennender Sorge" zurückgewiesen.
In der Enzyklika wurde festgehalten: "Eltern haben ein erstes und ursprüngliches Recht, die Erziehung der ihnen von Gott geschenkten Kinder im Geiste des wahren Glaubens und in Übereinstimmung mit seinen Grundsätzen und Vorschriften zu bestimmen."25 In der Synopse vom April 1937 wurde dieser Satz als irrige Ansicht der Nationalsozialisten einfach umgedreht und negativ formuliert. Propositio 4 zum Rassismus galt für die Mitglieder des Heiligen Offiziums damit als durch die Enzyklika widerlegt; in ihr war als zu verurteilende und aus "Mein Kampf" gewonnene Ansicht formuliert, einziges Ziel der Erziehung sei es, die Art der Rasse fortzuentwickeln und den Körper zu formen nach der eigenen Rasse als höchstes Gut.
Abrechnung mit dem Nationalsozialismus
Das Erscheinen der Enzyklika "Mit brennender Sorge" wurde im Heiligen Offizium jedenfalls als klare Abrechnung mit dem Nationalsozialismus und seiner falschen Rassenlehre im Sinne der eigenen Vorarbeiten zum geplanten Syllabus aufgefaßt. Auch eine Äußerung des Kardinalsekretärs der Suprema, Donato Sbarretti, vom Mai 1937 legt diese Interpretation nahe. Anders als noch im Sommer 1936, als man aus Opportunitätsgründen die Propositionen gegen den Rassismus aus Rücksicht auf eine mögliche negative Reaktion der Regierungen nicht publizieren und sich auf eine positive Darstellung der katholischen Prinzipien zu diesem Thema beschränken wollte, war Sbarretti nun der Meinung, nach Erscheinen der Enzyklika "gebe es keine Gründe mehr, die es für ratsam erscheinen lassen könnten, die Thesen zum Rassismus auszuschließen"26. Mit anderen Worten: Nachdem "Mit brennender Sorge" das schon getan hatte, wovor man im Heiligen Offizium aus Rücksicht auf die Regierungen in Deutschland und Italien noch zurückgeschreckt war, nämlich den Rassismus direkt anzuprangern, brauchte auch das Heilige Offizium mit den Propositionen zu diesem Thema nun keine Zurückhaltung mehr zu üben.
Tatsächlich ist die Enzyklika erst jüngst als "Wendepunkt der vatikanischen Politik"27 dem nationalsozialistischen Regime gegenüber interpretiert worden, was sich mit der Aussage Sbarrettis, die Zeit der Zurückhaltung aus politischen Opportunitätsgründen sei nun vorbei, durchaus deckt. Schließlich hatte der eigentliche Inspirator des päpstlichen Schreibens, Bischof Galen aus Münster, einen grundlegenden "Wechsel der Kampftaktik" angemahnt. Aber angesichts der Zerstrittenheit des deutschen Episkopats konnte nur der Papst als oberste politische und lehramtliche Autorität der katholischen Kirche diese neue Strategie umsetzen. "Mit brennender Sorge" entsprach diesem Konzept. Die Nationalsozialisten waren getroffen, Joseph Goebbels sprach von einer "Vatikan-Frechheit"28. Die weitere Verbreitung des Textes der Enzyklika wurde verboten und als hochverräterischer Akt bezeichnet, entsprechende Druckereien geschlossen und Mitarbeiter verhaftet. Zahlreiche "kaum weniger terroristische, mittelbare Reaktionen" des Regimes folgten29.
Kein Wendepunkt, sondern ein Strohfeuer
Aber die Enzyklika war kein Wendepunkt, sondern blieb eher ein einmaliges Strohfeuer. Weitere lehramtliche Verurteilungen des Heiligen Offiziums blieben aus. Auch die von Pius XI. 1938 geplante und weit gediehene Anti-Rassismus-Enzyklika erschien nicht - die Gründe dafür sind bis heute nicht eindeutig erkennbar. Hier hätten so entscheidende Sätze gestanden wie: "Die sogenannte Judenfrage ist in ihrem Wesen weder eine Frage der Rasse, noch der Nation, noch des Volkstums noch der Staatlichkeit, sondern sie ist eine Frage der Religion, und seit Christus eine Frage des Christentum." Und weiter: "Nur mit Entrüstung und mit Schmerz sieht die Kirche heute eine Behandlung der Juden aufgrund von Anordnungen, die dem Naturrecht widersprechen und also niemals den Ehrennamen von Gesetzen verdienen."30
Nach dem Pontifikatswechsel des Jahres 1939 übte sich Pius XII. in öffentlicher Zurückhaltung und forderte im Gegenzug die deutschen Bischöfe zum Reden auf. Dabei vertiefte sich die Spaltung im Episkopat zwischen der Gruppe um Kardinal Bertram, die weiter auf geheime Eingabepolitik setzte, und der Gruppe um Bischof Preysing, die für öffentliche Proteste eintraten, so daß an ein geschlossenes öffentliches Auftreten des deutschen Episkopats nicht zu denken war.
Galens berühmte Predigten zu den Euthanasiemorden der Nationalsozialisten bereiteten dem Papst zwar großen Trost und Genugtuung; nachdrücklich würdigte Pius XII. Galens "offenes und mannhaftes Auftreten"31. Er selbst aber glaubte sich - wie er an Bischof Preysing schrieb - wegen der Eigenart seines päpstlichen Amtes, das ihn zum padre comune aller Gläubigen machte, "in seinen öffentlichen Kundgebungen pflichtmäßige Zurückhaltung auferlegen" zu müssen32. Noch deutlicher formulierte der Pacelli-Papst sein Dilemma in einem Schreiben an den Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried vom 20. Februar 1941:
"In der gegenwärtigen Stunde kreuzen sich einerseits das gewaltige Geschehen im außerkirchlichen Raum, dem gegenüber der Papst die Zurückhaltung beobachten will, die ihm unbestechliche Unparteilichkeit auferlegt, andererseits die kirchlichen Aufgaben und Nöte, die sein Eingreifen verlangen; … Wo der Papst laut rufen möchte, ist ihm leider manchmal abwartendes Schweigen, wo er handeln und helfen möchte, geduldiges Harren geboten."33
Die Enzyklika "Mit brennender Sorge" war ein lauter Ruf des Papstes, der in Deutschland und anderswo durchaus Gehör fand. Ein grundsätzlicher Wendepunkt in der Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, ein "Wechsel in der Kampftaktik" war sie jedoch nicht. Zudem blieb die inhaltliche Kritik auf das kirchenpolitische und religiöse Feld begrenzt und steht damit in der Kontinuität einer katholischen Selbstbezogenheit, die angesichts einer auf das Jenseits fixierten Politikabstinenz die "universale Mission" der Kirche, das heißt ihr Engagement für alle Menschen in Not, hintanstellte. Die Enzyklika war ein Akt katholischer Selbstbehauptung, aber kein Zeichen einer dauerhaften Fundamentalopposition gegen das Regime, geschweige denn ein Ausdruck christlicher Solidarität mit den noch stärker verfolgten Opfern des Nationalsozialismus. Und in der Folgezeit dominierte ohnehin wieder "pflichtmäßige Zurückhaltung" die vatikanische Politik.