Aus der Kinderzeit hat man einige "Struwwelpeter"-Verse hinübergerettet, die früh ins Bewußtsein eingedrungen waren: die Zweizeiler "Konrad! sprach die Frau Mama / Ich geh aus und du bleibst da...", oder "Paulinchen war allein zu Haus, / Die Eltern waren beide aus ...". Dr. Heinrich Hoffmann (1809-1894), Arzt an der städtischen Irrenanstalt in Frankfurt, hatte in die Wohnzimmer der Familien seines Jahrhunderts geblickt und hier die Daumenlutscher, die bösen Buben und die ungehorsamen Mädchen, den eßunwilligen Kaspar, den notorischen Zappelburschen Philipp und den Träumer Hans entdeckt. Keine außergewöhnlichen Befunde, möchte man im ersten Moment denken - hätte Hoffmann nicht die Geschichten zugespitzt und ihnen jene schneidende Schärfe verpaßt, die sein 1847 erschienenes "Struwwelpeter-Buch" zum Bestseller werden ließen.
Man darf davon ausgehen, daß auch Gabriele Wohmann in ihrer Kindheit dieses schreckenerregende Buch mit wohligem Schauder gelesen hat. Nicht nur hat dieses sie zum Titel eines ihrer Bücher, "Paulinchen war allein zu Haus"1, angestiftet. Die Anregung reicht tiefer, denn wie Heinrich Hoffmann wirft Gabriele Wohmann ihren Blick in die Wohnzimmer der Familien, findet hier die Kreisands und Bütows vor, die Nörgler und Stadtneurotiker, die Hypochonder und Diätapostel, die beflissenen Bildungsbürger und Anhänger der täglichen Rituale - all unsere mittelständischen Bekannten, die den Alltag bevölkern und diesen für die Welt halten, die morgens ihren Tee trinken, tagsüber ihren Ängsten und Zwängen erliegen und abends den Fernsehkrimi schauen. Gabriele Wohmanns Blick, der oft als "böser Blick" entlarvt worden ist, trifft ungemein scharf, die Diagnose fällt bissig aus, jeder noch so unscheinbare Tic gerät ans Tageslicht. Ihre Geschichten sind eher arm an Handlungen, dafür oft übermäßig gesättigt mit Zustandsschilderungen. Häufig erwecken sie den Eindruck, daß sie einer Versuchsanordnung gehorchen, welche die Autorin vorgenommen hat - neugierig darauf, wie sich ihre Figuren benehmen. Redundanz begleitet diese Prosa oft, denn Erzählökonomie zählt nicht unbedingt zu den Absichten Gabriele Wohmanns. Dafür nimmt sie die Tiefenlotung im fast unergründlichen Ozean bürgerlicher Befindlichkeit vor. Günther Schloz sagt mit Recht:
"Gewiß, die Versuchung, sich über diese Prosa zu mokieren, liegt nahe. Aber in diesem Bedürfnis äußert sich vermutlich nur Betroffenheit über die Armseligkeit unserer etablierten Bürgerexistenz, die wir so pingelig, auf so insistierend realistische, so weiblich lebenspraktische, die männliche Scheindominanz durch Mitleid unterlaufende Art nicht wahrgenommen wissen wollen."2
Mut zur Banalität
Mit ihrer Art des Schreibens hat Gabriele Wohmann einen Trend begründet, das "Wohmannisieren"3. Der saloppe Begriff, Mitte der 70er Jahre aufgekommen, meinte damals die Konzentration auf das private Umfeld der Protagonisten. Er wurde von den einen als Vorwurf verwendet, von den anderen hingegen als Anerkennung verstanden. Man muß sich hier vergegenwärtigen, daß im deutschsprachigen Raum das "nur Private" als literarischer Stoff zu jener Zeit noch nicht die uneingeschränkte Akzeptanz vorfand. Gleichwohl hatte sich schon seit 1970 ein Umbruch abgezeichnet, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Proteste in den 70er Jahren, unter anderem der Autonomen Frauenbewegung. Eine ihrer Parolen lautete: "Das Private ist politisch." Die Schreibenden wählten nun vermehrt Stoffe aus der privaten Welt, nahmen explizit einen subjektiven Standpunkt ein und zielten auf die Gefühlslage ihrer Figuren. Damit drängte diese Stoßrichtung entschieden von der politisch oder ideologisch motivierten "littérature engagée" weg, die nach 1945 die Thematik bestimmt hatte und nachhaltig von Jean-Paul Sartre in seiner Schrift "Qu'est-ce que la littérature?" (1947) propagiert worden war. Vor allem die beiden Bücher der damaligen DDR-Autorin Christa Wolf († 2011) - "Nachdenken über Christa T." (1971) und "Der geteilte Himmel" (1973)4 - leiteten die Neuorientierung ein. Zudem betrat ab 1975 eine jüngere Generation von Frauen die literarische Szene; ihre Stoffe mit einer deutlichen Zuwendung zur Subjektivität prägten den Begriff "Neue Innerlichkeit". Gabriele Wohmann, die bereits Ende der 50er Jahre an die Öffentlichkeit trat und früh ihre Stoffwelt gefunden hat, darf in dieser Hinsicht als Vorreiterin betrachtet werden.
Das "Wohmannisieren" aber führt dazu, daß man ihre Figuren in der realen Welt, aus der die Autorin sie herausgezogen hat, schmunzelnd wiedererkennt. Sie oder er könnte in einer Geschichte der Wohmann vorkommen, denkt der Beobachter, der sich vielleicht gerade in der Bahn, im Museum, im Restaurant oder im Reisebus aufhält; und er erinnert sich an den ähnlichen Identifikationseffekt, den Loriots Personal erweckt. All die Hoppenstedts und Müller-Lüdenscheidts, die Lindemanns und Klöbners sind Verwandte des Wohmannschen Figurenreigens aus dem Mittelstand: wie diese aus dem Leben gegriffen und leicht ins Karikaturistische gewendet, von Neurosen angehaucht und in den Dramen des Alltags dahintreibend. Es ist der "Mut" zur Banalität, der sowohl Gabriele Wohmann wie auch Loriot geleitet hat, die völlige Abwesenheit von Pathos. Damit wird ein Phänomen angesprochen, das in der deutschsprachigen Literatur keine Selbstverständlichkeit darstellt. So darf Gabriele Wohmann neben Walter Kempowski vermutlich als singuläre Erscheinung gelten5. Sucht man außerhalb des deutschsprachigen Raumes nach vergleichbaren Phänomenen, so wird man in der angloamerikanischen Literatur fündig: bei der Kanadierin Alice Munro (geb. 1931) etwa, beim Amerikaner John Updike (1932-2009) oder bei der Engländerin Helen Simpson (geb. 1959).
Das Pastorenhaus als Keimzelle
Natürlich geraten die Lesenden, die in die Wohmann-Welt eintauchen, leicht in die Rolle des Voyeurs, denn hier wird so vieles angesprochen, was sonst dem Blick entzogen wird: die kriselnden Ehen, die Hinfälligkeiten des Alters, die Süchte und psychischen Knacks, aber auch ganz einfach die Obstipationen, die den Alltag erschweren, und jene Tabletten und Flachmänner, die den Alltag wiederum erleichtern. Man mag sich während der Lektüre wie jener Betrachter vorkommen, der sich hinter dem Vorhang versteckt, seinen Blick über die Szene schweifen läßt und die Gespräche der scheinbar fremden Personen anhört. Aber schon im zweiten Moment rücken diese Menschen näher und das Staunen darüber meldet sich beim heimlichen Beobachter. Ein ähnliches Gefühl haben auf bildlicher Ebene Herlinde Koelbls Fotoprojekte vermittelt: etwa die Dokumentation "Das Deutsche Wohnzimmer"6. Und dennoch stellt sich bei diesen Einblicken neben der bloßen Schaulust auch so etwas wie Trost ein, der zur Überlegung verleitet: Ich stehe mit meinen Schwierigkeiten nicht allein da, andere quälen sich mit ähnlichen Problemen ab.
Es mag seltsam klingen, diesem Trost eine pastorale Bedeutung zuzubilligen. Aber der Gedanke liegt verführerisch nahe, ist doch Gabriele Wohmann als Tochter eines Theologen 1932 in Darmstadt geboren worden. Der Vater war Direktor des Hessischen und Rheinisch-Westfälischen Diakonie-Vereins. Gabriele Wohmann erlebte im Elternhaus von Paul und Luise Guyot - der Name ist waldensischen Ursprungs und stammt aus den italienischen Waldensertälern - eine harmonische Kindheit und wuchs mit drei Geschwistern auf. Über ihre Mutter, Luise Lettermann, ist sie mit dem Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg verwandt, über ihren Vater, dessen Mutter eine Textor war, mit Goethes Familie mütterlicherseits. Goethe ist denn auch neben Anton Tschechow der literarische Leitstern für die spätere Schriftstellerin geworden. Gabriele Wohmanns Jugend wurde allerdings früh durch die kirchenfeindliche Ideologie der Nazis beeinträchtigt. Es war für sie nicht einfach, sich in diesen Jahren als Tochter eines Theologen, welcher der Bekennenden Kirche nahe stand, zu äußern. Allerdings festigte sich in dieser Zeit auch die Fähigkeit, frei von Anpassung den eigenen Weg zu gehen.
Nach dem Abitur studierte die junge Frau während vier Semestern an der Universität Frankfurt am Main Germanistik, Romanistik, Musikwissenschaft und Philosophie. 1953 heiratete sie Reiner Wohmann, der damals als Lehrer am Studienkolleg für ausländische Studierende in Darmstadt wirkte. Sie selbst arbeitete vorerst als Lehrerin am Nordseepädagogium Langeoog und erteilte Sprachunterricht an der Volkshochschule Darmstadt und an einer privaten Handelsschule. Die ersten schriftstellerischen Arbeiten fielen ins Jahr 1956 - "ohne den Vorsatz, Schriftstellerin zu werden, ich bin da einfach reingeraten"7. Auch nahm sie bald einmal an den Treffen der damals tonangebenden Gruppe 47 teil.
Vom Schreiben besessen
Was sie nun aber seit mehr als fünfzig Jahren veröffentlicht hat, berührt alle Gattungen: Erzählungen, Romane, Hörspiele und Funkerzählungen, Radio-Features, Übersetzungen, Gedichte und dazu immer wieder Selbstaussagen. Die Droge Schreiben hat sie gepackt - und nicht nur sie, denn Gabriele Wohmann erlag auch der Tabletten- und Alkoholsucht, so daß sie sich 1971 einer Entziehungskur unterzog. Bis heute versteht sie sich als Protokollantin, die ohne Unterlaß die Umwelt ihrem Röntgenblick unterwirft, die Nachbarn wie auch sich selbst. Sie schreibt beharrlich, tags oder nachts, unbekümmert über Zwischenrufe ihrer Umwelt. "Übertreib nicht!", lautete die wiederholte mütterliche Ermahnung, die gleichwohl die Schreibobsession nicht einzudämmen vermochte. Bis heute liegen über 100 Bücher von der "Großmeisterin der kleinen Miseren und des Mißvergnügens"8 vor. Angesichts der Fülle wird dieser Beitrag im folgenden nur auf wenige Titel von lebensgeschichtlicher Bedeutung oder thematischer Relevanz eingehen.
Karl Krolow zitiert im Hinblick auf Gabriele Wohmanns Schreibverhalten eine Aussage der Autorin, die so lapidar klingt wie selten eine ihrer Äußerungen: "Schreiben ist eine Krankheit, Nichtschreiben auch. Das Tun ist ein Zwang, das Nichttun auch."9 Die Finger vom Schreiben zu lassen, ist für diese grazile Frau, die mit angespannter Aufmerksamkeit lebt und zum Geschlecht der Dünnhäutigen zählt, völlig undenkbar. Es ist der Mann, Reiner Wohmann, der das Umfeld möglichst störungsfrei erhält, damit seine Frau ihre Besessenheit ausleben kann. Der Theaterkritiker Georg Hensel bemerkt dazu:
"Er putzt in jeglichem Sinn alles weg, was Gabriele bei ihrer Arbeit stören könnte. Ihr das hemmungslose Schreiben ermöglichend, schreibt er gewissermaßen mit, und er weiß dies auch; es ist sein unausgesprochener, berechtigter Stolz."10
Auf der Suche nach Geborgenheit
Auch wenn gern der "böse Blick" genannt wird, wenn man von dieser Autorin spricht, so ist doch die Lieblosigkeit ihr erklärter Feind. In aller Deutlichkeit muß dies gesagt werden. Daß schon in der Kinderseele ein unstillbarer Hunger nach Geborgenheit und Zärtlichkeit ruht, hat sie im eingangs erwähnten Roman "Paulinchen war allein zu Haus" (1974) gezeigt. Dieses Buch, erschienen in einer Zeit, da viele pädagogische Konzepte fallengelassen und andere begeistert, aber oft unkritisch aufgegriffen wurden, bescherte der Autorin einen Großerfolg.
Sie übt in ihrem Erziehungsroman Kritik an jenen, die alles über Kinderpsychologie zu wissen glauben und dennoch das Wichtigste nicht einsetzen: Liebe und Wärme. Die achtjährige Paula wird von Christa und Kurt, einem Journalistenehepaar, adoptiert und soll nach allen Regeln fortschrittlicher Erziehungskunst zum Prachtkind voller Glück, Furchtlosigkeit und Lebensfreude gedeihen. Das wissenschaftlich fundierte Erziehungsexperiment der Adoptiveltern prallt jedoch an der leibhaftigen Existenz des Mädchens ab, das sich nicht einfach formen und verformen läßt. Es zeigt sich schlicht die Differenz zwischen Theorie und Praxis. Paulinchen verhält sich in der sterilen Welt der Adoptiveltern trotzig und verlangt nach Zuwendung - und manchmal auch nach etwas Kitsch. Doch "Nestwärme ist überholt, passé", erklärt Christa, die den antiautoritären Maximen verfallen ist. Sie befiehlt Freiheit, räumt mit herkömmlichen Tabus und Verboten auf, aber Paulinchen, das Opfer ihres pädagogischen Furors, möchte sich schließlich in diesem Erziehungsstudio nur noch verstecken.
Nachdenken über die Mutter
Ihre eigene Mutter hat Gabriele Wohmann auf anrührende Weise ins Zentrum gerückt. Das Buch "Ausflug mit der Mutter"11 setzt mit einer Szene ein, die viele Leserinnen und Leser aus eigener Erfahrung kennen: Die erwachsenen Kinder haben die Mutter besucht und fahren wieder weg, die alte Frau aber winkt dem Auto nach bis zuletzt, worauf sich in der Tochter "ein sehr bekanntes inneres Elend" verteilt. Gabriele Wohmann formuliert im ersten Kapitel des Buches ihre Absicht:
"Beim Wunsch, endlich einmal in einer schönen, verdeutlichenden Ruhe an die Mutter zu denken, hat mich vor einigen Wochen eine unerwartete Möglichkeit überrascht. Warum bin ich nicht längst darauf gekommen, über die Mutter zu schreiben? Auf keine andere Weise kann ich mich gründlicher um sie kümmern. Sorgfältiger und mit mehr Konzentration, mehr Anstrengung, äußerster Betroffenheit kann ich sie überhaupt nicht ernst nehmen. Der Artikulationsversuch über die Mutter als Witwe ist meine extremste Zuwendung ..."12.
Gabriele Wohmanns Mutter ist über fünfzig Jahre verheiratet gewesen - nun lebt sie nach dem Tod des Ehemanns (1974) allein. Dieser Umstand löst in der Tochter eine Flut von Schuldgefühlen aus, so daß das Schreiben über die Mutter zum Balanceakt zwischen Distanz und heftiger Empathie gerät. Schreibend versucht sie, dem Übermaß an Gefühlen mit einer objektivierenden Haltung zu begegnen. Ihre Zuwendung zur eigenen Mutter im Medium des Worts entspringt aber wiederum der Überzeugung, daß der private Fall für die Mutter nichts weniger als "ihr Weltgeschehen"13 darstellt. Daher erscheint er der Tochter aufzeichnungswürdig.
Zugleich aber entpuppt sich dieses Buch nicht nur als eines über die Mutter, sondern auch über die Tochter, die an die Beziehung wie auch an das Schreiben über sie Fragen stellt. Ja, auch der verstorbene Vater wird in den Kreis zurückgeholt, aus dem er "so viel Welt"14 mitgenommen hat. Sein Weggang hat hingegen etwas ins Licht gerückt, was die Autorin vorher nicht wahrgenommen hat: "Das Eigenleben der Mutter hat vielfach noch etwas Tastendes und bestürzt die Tochter nun."15 Sie beginnt, die Mutter mit neuen Augen zu sehen. So wird "Ausflug mit der Mutter" zur Entdeckungsreise in ein scheinbar vertrautes Gebiet. Darüber hinaus hat Albert von Schirnding eine wesentliche Qualität dieses Buches erhellt:
"Ich verstehe Gabriele Wohmanns Erzählung als einen stillen, eindringlichen Protest gegen den modischen Mißbrauch des Begriffs Trauerarbeit: als seien Leid und Tod aus der Welt geschafft, wenn einer nur die nötigen psychischen Mechanismen aufbringt, mit Verlusten möglichst schnell, möglichst 'vernünftig' fertigzuwerden. Hinter solcher Fähigkeit zu trauern steckt oft genug die Unfähigkeit zu lieben ..."16.
Allein zu zweit
Immer wieder hat sich Gabriele Wohmann auch jenem Beziehungsmuster zugewandt, das jeder zu kennen glaubt: dem Zusammenleben von Mann und Frau, kurz: dem "Paarlauf"17. Der Erzählband mit diesem knappen Titel zeigt die kleinen und größeren Katastrophen auf, die gerade noch verhindert werden können, sofern die Partner einsehen, daß das Zusammenleben ein Zusammenarbeiten bedeutet. Und auch dann entkommen die Wohmannschen Paare schwerlich der Alltagsroutine, die sich wie ein zäher Klebstoff an sie heftet. Gabriele Wohmann zeigt sich in diesem Buch einmal mehr von ihrer sarkastischen Seite. Sie setzt das Mittel einer gewissen Geschwätzigkeit ein, weil auch ihre Figuren sich in diese Attitüde flüchten, um die Leere zu leugnen. Doch sie kann nicht anders, als das Innere dieser Menschen aufzudecken, das sich sonst unter einer dicken Schicht von Oberflächlichkeit abschirmt:
"Alles ist im Lot, sagte er sich, die Angelegenheiten sind geregelt, der Laden läuft, die Dinge nehmen ihren Gang. Aber in was für einer Gangart! In Wahrheit kam gar nichts vom Fleck. Die tägliche Routine wurde durch so eine Reise wie die, auf der er morgen auch nur wieder als der übliche Peter Eisler seine üblichen Geschäftsbesuche machen und seine übliche eheliche Untreue mit Irene Kurz ableisten würde, überhaupt nicht mehr unterbrochen. Aufhören! befahl Peter dieser ziemlich gefährlichen Nörgelei in seinem Bewußtsein ... "18.
Zungenflinke Anmerkungen, leicht überdrehte Allüren und analysierenden Furor gestattet sich Gabriele Wohmann auch in ihrem Roman "Das Handicap"19, der sich ebenfalls der "sportlichen" Disziplin des Paarlaufs unterwirft, aber auch noch eine Thematik jenseits der Geschlechterkonstellation anpeilt. Im Mittelpunkt steht Sue, deren Sehvermögen nach einem Sturz eingeschränkt ist. Gabriele Wohmann konzentriert sich indessen nicht auf das physische Handicap ihrer weiblichen Hauptfigur, sondern auf Sues veränderte Wahrnehmung der sogenannten Wirklichkeit. Mit zahlreichen bemühten Aktivitäten und einem Hang zum Palaver versucht Sue, ihren Partner über ihr Defizit hinwegzutäuschen. Sie verfertigt eigene Wirklichkeiten, verrennt sich aber mehr und mehr - im gleichen Maß, in dem sich die Realität für sie verzerrt. Was ist schließlich real, was eingebildet? Und wer weiß: Ist es nicht vielleicht besser, in adretten maßgeschneiderten Welten zu leben, als sich einer unbarmherzigen Wahrheit auszusetzen? Tapfer möbliert Sue ihre Welt mit positiven Szenen und Figuren, wobei man sich nicht den Verdacht verkneifen kann, daß Gabriele Wohmann eine Persiflage auf "die Kraft des positiven Denkens" schreibt. Aber längerfristig erhält Sues heile Bastelwelt Brüche. Im angeblich leeren Haus glaubt sie Geräusche zu hören. Wohnt hier noch eine andere Person, vielleicht die heimliche Geliebte ihres Partners, die Sues Handicap ausnützt? Gabriele Wohmanns Buch, das innere und äußere Welten entwirft, reiht Momente wachsenden Mißtrauens aneinander und stürzt damit langjährige Sicherheiten um, auch jene des "Paarlaufs".
Der Tod und die Schwester
Neben dem Vater, den Gabriele Wohmann sehr verehrt, ihrer Mutter, der sie ein atmosphärisch dichtes Buch gewidmet hat, zählen seit je die Geschwister zum familiären Kosmos. So hat sie in einem persönlichen Bericht, "Abschied von der Schwester"20, die Krankheit ihrer älteren Schwester Doris festgehalten, die 1999 an einem inoperablen Gehirntumor starb - ein halbes Jahr nach dem Tod der Mutter, so daß dieses Jahr für Gabriele Wohmann zu einem Schmerzensjahr wurde.
Nach der Diagnose, 1994, hatte für die Angehörigen eine Zeit der Angst eingesetzt, aber auch der zarten Hoffnung und des Versuchs, der Kranken gegenüber den wahren Zustand zu verschleiern. Diese Schwester aber, seit je unbestechlich, kritisch und skeptisch, entlarvt die Manöver der Verdrängung. Gleichzeitig ist ihre Verletzbarkeit gewachsen, und so befindet sich jeder in ihrem Umfeld auf einem schmalen Grat, der rasch straucheln läßt. Dennoch stellen sich seltene Momente der Leichtigkeit ein, wenn etwa die beiden Schwestern ins Reich der Kindheitserinnerungen zurückkehren: zur Puppenschule oder ins "Haus Sonnenschein", einem Ort der Phantasie, den sich die Mädchen einst für ihre demolierten Puppen erdachten. Diese sollten nicht tot sein; deshalb schickten die beiden Schwestern sie in eine erträumte Welt.
Die Erinnerung an diese Spiele erweist sich selbst noch in der schmerzlichen Gegenwart als starkes Band. Sie hilft auch in jenen Augenblicken, da sich die quälende Gegenwart ins Bewußtsein schiebt, die Wahrheit unbeschönigt aufdeckt und die jüngere gesunde Schwester den Fluchtwunsch in sich spürt. "Abschied von der Schwester" stellt sich als ein komplexes Textstück dar: Das Buch ist eine Mischung von Diarium, Protokoll, unmittelbaren Notaten und Passagen, die eine literarische Transformation erfahren haben. Eine der zentralen Fragen lautet: Wie soll sich der Umgang mit der kranken Schwester gestalten? Die Autorin entscheidet sich für das paradoxe Begriffspaar "Distanz und Teilnahme" und folgt hierin professionellen therapeutischen Überlegungen. Ihre eigene emotionsreiche Anteilnahme erträgt sie nur im Wechsel mit der Konzentration auf das Schreiben, das Ablenkung verspricht, weil sie hier eine objektivierende Einstellung wählen muß. Dieses Buch, in einer Grenzsituation entstanden, übt seine Überzeugungskraft vor allem auf der menschlichen Ebene aus.
Eine Glückssucherin
Nun wird die scharfzüngige und ebenso empfindsame, hochsensible Gabriele Wohmann achtzig Jahre alt. Wie wenige hat sie sich innerhalb des launischen Literaturbetriebs über Jahrzehnte hinweg behauptet und alle Verlagswechsel überstanden. Allerdings kennt eine jüngere Generation ihren Namen kaum mehr, obwohl Gabriele Wohmann noch bis heute regelmäßig publiziert und 2010 auch nochmals einen Erzählband - "Wann kommt die Liebe" - veröffentlicht hat, der mit dem typischen Wohmann-Personal aufwartet und mit seinen inhaltlichen Mustern vertraut erscheint.
Eines ihrer letzten Bücher vereinigt jene Aufzeichnungen, die Georg Magirius im Anschluß an Gespräche mit Gabriele Wohmann vorgenommen hat. Sie werden im Untertitel als "Träume vom Himmel" bezeichnet. Die Flapsigkeit des Haupttitels jedoch - "Sterben ist Mist, der Tod aber schön"21 - widerspiegelt einen Aspekt in Gabriele Wohmanns Sprache, den ihre Leserschaft kennt und darauf seit jeher entweder mit Abneigung oder leicht belustigter Zustimmung reagiert. Das saloppe Sprechgebaren darf nicht über die geistige Herkunft der Autorin hinwegtäuschen: Ihre Texte speisen sich aus den Idealen des evangelischen Pfarrhauses, aus dem Erbe der deutschen Romantik und dem bürgerlichen Bildungskanon. In ihrem Bemühen, die Idyllen zu entlarven, schimmert doch nur jenes Heimweh nach dem verlorenen Paradies durch, wie es in den Gedichten Joseph von Eichendorffs aufscheint. Die Denunziantin und Dekonstruktivistin ist im Grunde eine Glückssucherin, die sich mit dem Mittelmaß niemals zufrieden gibt, aber auch weiß, daß die Vollkommenheit im Diesseits nicht erreicht werden kann.
Zwar treibt sie kompromißlos die Schwächen im zwischenmenschlichen Bereich ans Licht, doch "in dieser Art zu schreiben, zu beschreiben, liegt für Gabriele Wohmann eher ein moralischer Impetus, genau zu sein, Unangenehmes nicht zu verniedlichen, es beim Namen zu nennen"22, wie ihre Biographin Ilka Scheidgen schreibt. Aber sie hält auch die Momente fraglosen Einverständnisses fest. Hat sie anfänglich das Schäbige und Miese in den Vordergrund gerückt, will sie nun das "möglich Schöne" nicht mehr unterschlagen, denn "das Schreckliche und Schöne haben eine Art Immanenz, sie gehören zusammen"23. Otto F. Walter deckt den verborgenen Impetus ihres Schreibens auf:
"...in jedem Fall wird unausgesprochen das eine Wort über allem stehen, was sie schwarz auf weiß vorlegt: Anteilnahme"24.
Man möchte sich Gabriele Wohmann an ihrem 80. Geburtstag heiter und gelassen vorstellen. Vielleicht zieht ein Schubert-Klang durch den Raum, vielleicht erklingt eine Bach-Kantate. Eingesponnen in das Reich der Töne ihrer geliebten Komponisten mag sie die Gedanken fortwandern lassen - weit über Darmstadt hinaus:
"Das Meer ist für mich ... eine Öffnung himmelwärts, sonst wäre es nur halb so wichtig … Es ist einfach total anders als die sonst übliche Landschaft. Eine Landschaft, die immer weitergeht mittendrin im Binnenland. Ich habe früher schon immer gedacht: Darmstadt liegt mir zu sehr im Inneren, ist viel zu weit entfernt vom Meer. Das Meer aber ist ein Schlusspunkt. Und auch ein Anfang, der Anfang von etwas, von etwas ganz Anderem."25