In vielen Lebensbereichen waren gesellschaftliche Entwicklungen in den USA ein Seismograph für Trends, die sich später auch in Europa und speziell in Deutschland eingestellt haben. Gleichzeitig - und diese Einsicht ist nicht so trivial, wie sie sich anhört - werden große Bereiche und Strukturen immer unvergleichbar und von der einen auf die andere Seite des Atlantiks unübertragbar bleiben.
Diese Unübertragbarkeit wird vor allen Dingen dann sichtbar, wenn Politiker hierzulande versuchen, amerikanische Elemente dort zu kopieren, wo sie mit einem Stück amerikanischer Kultur und Geschichte implementiert werden müßten. Man denke etwa an die sehr krampfhaft wirkenden und auch nicht so recht zündenden Bemühungen, in Deutschland eine Art "Ivy-League" in der Universitätslandschaft zu errichten. Solche Beispiele für Inkommensurabilität ließen sich sicherlich vermehren. Dennoch stellt sich auch in Deutschland gesellschaftlich langsam eine Situation ein, die Vergleiche mit Entwicklungen in den USA inzwischen lohnenswert macht, weil man an amerikanischen Realitäten im Detail studieren kann, was in nicht allzu ferner Zukunft auch hierzulande passieren könnte.
Ein pluralistisches Experiment
Auch für die Fragen religiös-kirchlicher Entwicklungen bieten sich die USA als Vergleichsgröße und Antizipationsmodell inzwischen an. Um es auf eine sehr kurze Formel zu bringen: Die Vereinigten Staaten lassen sich als das bis dato ergebnisoffene Experiment einer radikal pluralistischen Gesellschaft verstehen, das uns eine Einschätzung von hierzulande noch nicht voll "ausgebrochenen" Pluralisierungsschüben erlaubt. Denn die grundsätzliche Voraussetzung ist hüben wie drüben inzwischen gleich: Pluralisierungsspielräume ergeben sich durch jene gesamtgesellschaftliche Großwetterlage, die man Post- oder Spätmoderne nennt, in der der Rahmen einer eindeutigen, verbindenden Epochenerzählung als gemeinsame Bezugsgröße zu zerfallen beginnt. Und dann wird das möglich, was nicht möglich wäre, wenn man den Zeitläuften eine eigene Entwicklungslogik zudenken könnte: die Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen.
Nur so ist es zu begreifen, daß ein Gesellschaftssystem wie das amerikanische die Koexistenz von völlig heterogenen Religionskulturen ertragen kann. Aber wie können diese so unterschiedlichen Kulturen miteinander existieren? Die Antwort ist, daß sie gar nicht
miteinander existieren müssen, sondern in (um hier an eine instruktive Sozialphänomenologie von Peter Sloterdijk anzuspielen
1) unterschiedlichen Blasen existieren, die allenfalls nur indirekt miteinander verbunden sind. Durch diese Blasenbildung ist radikale Pluralität faktisch lebbar. In einer Blasen werfenden und aus abgeschlossenen Hohlräumen bestehenden Gesellschaft wird aber das unmöglich, was die politischen Ideale besonders Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatte: die Idee der Konsensdemokratie. An die Stelle des größtmöglichen Konsenses aller gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte tritt in den USA das Motiv des kleinsten gemeinsamen Nenners, das seine Verbindlichkeit letztlich einer nationalistischen Apotheose der Verfassungsgrundsätze und seiner metaphysischen Überhöhung in einer "Zivilreligion" verdankt, die einen bewußt abstrakt gehaltenen Glauben an Gott (man denke an den Aufdruck auf den Dollarnoten: "In God We Trust") mit einer Affirmation von bestimmten Werten verkoppelt.
Für das radikal pluralistische Experiment ist das US-Christentum in seiner verwirrenden Vielfalt ein sprechendes Beispiel; und auch im weitaus engeren Bezirk des katholischen oder katholisch grundiert wirkenden Christentums ist diese extreme Diversifizierung zu finden. Als bizarrste Beispiele zu nennen wären etwa, daß die sogenannten Sedisvakantisten ihren Gegenpapst in Kansas installiert haben, daß es eine Bruderschaft des Heiligen Josef gibt, die auch für den Heiligen Josef eine unbefleckte Empfängnis fordert, um die Heilige Familie endgültig als vollständiges Abbild der Trinität verstehen zu können, oder daß ein Pizzaketten-Gründer im Ödland von Florida eine Privatuniversität errichtet hat, die mit vorkonziliaren liturgischen Standards und einer zum Teil ebenso anmutenden Theologie um Studierende wirbt.
Aber auch in der anderen Richtung finden sich bemerkenswerte Phänomene; zu verweisen wäre etwa auf einige mit renommierten Orden affiliierte Universitäten, die jede Art von Eingriff durch das römische Magisterium strikt ablehnen (was rechtlich insofern möglich ist, als sie kein Konkordat bindet) und die sich auch in ihrem Auftreten bewußt als liberal definieren. Auffälligstes Beispiel war am 18. Mai 2009 der Auftritt von Barack Obama als Festredner an der (katholisch gegründeten und geleiteten) University of Notre Dame (Indiana) zum Abschluß des akademischen Jahres - ein Spielzug, der andere Fraktionen der katholischen Kirche schier zur Weißglut brachte.
Wiederum auf der anderen Seite diskutieren US-Bischöfe darüber, ob man katholischen Politikern, die sich in der Abtreibungsfrage für eine "Pro-Choice"-Gesetzgebung einsetzen, die Kommunion verweigern oder sie generell exkommunizieren sollte. Auch unterhalb der Verbindungsstelle von Politik oder Kirchenpolitik finden sich theologische und spirituelle Aufbrüche, die für deutsche Theologie und Kirchlichkeit ungewohnt sind - weil diese Aufbrüche eine in moraltheologischen und ekklesiologischen Themen hypersensible Einschärfung katholischer Identität, eine Revitalisierung betont innerlicher Frömmigkeitsformen und viele andere Dinge, die wir hierzulande mit dem Kulturkampf des 19. Jahrhunderts oder mit einer Wiederbelebung der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts verbinden würden, implizieren.
Der weitere Rahmen: "homo sapiens consumans"
Die bisherigen Überlegungen haben mit einigen Anmerkungen zum Pluralismus und mit einigen anekdotischen Beschreibungen des gegenwärtigen US-Katholizismus begonnen. Bevor der US-Katholizismus als Bezugspunkt wieder in den Vordergrund gerückt werden wird, soll hier eine kurze Zwischenreflexion angestrengt werden, die die besondere Herausforderung an Religion und Religionen im 21. Jahrhundert artikuliert - eine Herausforderung, die sich dann sehr klar umreißen läßt, wenn man wiederum die USA als Paradigma betrachtet. Diese Zwischenreflexion erlaubt nämlich eine bessere Prognose von Entwicklungen, die auch für die katholische Kirche in Deutschland wichtig werden könnten.
Der an der Georgetown-University lehrende Theologe Vincent J. Miller spricht in seiner Monographie "Consuming Religion" von einer postfordistischen Konsumkultur, in die Religion nunmehr eingetaucht sei2. Millers Ausgangspunkt ist eine Art auf den Begriff gebrachte, reflektierte Geschichte des Kapitalismus, die Miller nicht wie bei Karl Marx pejorativ als Entfremdungsgeschichte, sondern neutraler als Abstraktionsgeschichte erzählt: Die erste, durch die Industrialisierung möglich gewordene Abstraktion ist die Abstraktion des Produktes vom Produzierenden (also das, was Marx einst die "Entfremdung des Arbeiters vom Produkt der Arbeit" nannte). Durch diese erste Abstraktion wird so etwas wie Massenproduktion und Massenerschwinglichkeit, also Massenkonsum erst möglich.
Die mit dem Pionier der Automobilmassenproduktion Henry Ford wie mit einem Stichwort einsetzende zweite Abstraktion ist die des Arbeiters von Arbeitsbedingungen. Dadurch wiederum wird die langsame Wahrnehmung der Bedürfnisse des Arbeiters und ihrer ökonomischen Relevanz erst möglich; der Arbeiter wird selbst zum Kunden mit Bedürfnissen, die für die Produktivität des Kapitals wichtig werden.
Die dritte Abstraktion schließlich ist die Abstraktion des Angebots von der Nachfrage und damit auch vom Bedürfnis. Sie wird da sichtbar, wo der Markt erst jene Bedürfnisse schaffen muß, die zu stillen er sich anschickt3. Daß wir von diesen Abstraktionen geradezu durchherrscht werden, läßt sich kaum leugnen. So war und ist die zweite Abstraktion dort am Werk, wo kulturell die Rolle des Privatraums, der Kernfamilie oder des privaten Glücks etabliert werden konnte. Sie setzt eine Emanzipation von der Arbeitsstätte (die Trennung von Arbeits- und Wohnbereich), aber auch eine Begrenzung der Arbeitszeit und eine Humanisierung der Arbeitsbedingungen voraus. Gleichzeitig lebt sie aber von den Früchten der ersten Abstraktion insofern, als das ehedem aristokratisch-bürgerliche Privileg der Privatheit nicht ohne Massenproduktionen von Gütern auf einer breiten Ebene zugänglich gemacht werden konnte. In der dritten Stufe der Abstraktion werden die Gewinnsteigerung und der Verbrauch von Gütern selbst zum eigentlichen Ziel, so daß es gar nicht mehr darauf ankommt, die Bedürfnisse, die man hat, definitiv zu stillen. Das konstante Erzeugen von Bedürfnissen und ihr fortwährendes Stillen (das natürlich nur durch stetige neue Anreize in Gang gehalten wird) sind auf der Stufe der dritten Abstraktion zum Selbstzweck geworden.
Was bedeutet dies für die Sache der Religion und der Religionen? Die Antwort hat einen positiven und einen negativen Teil: Die Abstraktion der Bedürfnisse, also jene dritte Abstraktionsstufe, impliziert auch eine Abstraktion von bloß materiellen Bedürfnissen; es geht in einer postfordistischen Konsumkultur ja nicht mehr nur darum, daß wir unser primäres Augenmerk auf Nahrung, Kleidung und Wohnung zu richten haben. Auch Immaterielles - spirituelles Wachstum, ein wie auch immer gearteter Bezug zum Transzendenten - kann auf dieser dritten Abstraktionsstufe zum Gegenstand echter Nachfrage werden. Die spirituelle Sehnsucht wird in diesem postfordistischen Horizont weder marxistisch diskreditiert noch bleibt sie fordistisch unberücksichtigt. Im Gegenteil: Weil sie einen bedürfnisgenerierenden Aspekt hat, kann sie ebenfalls in einer ökonomistischen Logik evaluiert werden. Die gute Nachricht dabei ist, daß Religionen in einer postfordistischen Konsumkultur grundsätzlich vorkommen können und vorkommen müssen.
Die schlechte Nachricht aber ist, daß die der Religion inhärenten Wahrheitsansprüche entweder verschwinden oder aber nur noch in einer sozusagen konsumistisch verzerrten Übersetzung in Erscheinung treten können. Ein wie auch immer gearteter kognitiver Anspruch von Religion wird hier von den Bedürfnissen des Marktes reguliert. Einer prinzipiellen Mehrzahl von Religionen entspricht dann eine ökonomische Logik, die Monopole zu vermeiden trachtet. Religiöse Identitätssicherungsstrategien wiederum werden als legitimes "Branding" (vergleichbar dem Trendsetzen und Etablieren einer Handelsmarke) zu verstehen sein.
Das hat eine Reihe von Folgen: Erstens, interreligiöse Gespräche nehmen die Form einer Kartellaufsichtsdiskussion an, die Monopole ebenso zu vermeiden sucht wie einen auf Markenausrottung zielenden Wettbewerb. Dabei haben diese Gespräche den "Schutz" des Gesamtmarktes ebenso zum Ziel wie die Sicherung einer Wettbewerbssituation, die durch eine Überbetonung des "Verbindenden" und "Einenden" gestört werden könnte. Zweitens, das Überleben einer konkreten Marke bzw. Religion wird durch Bedürfnisstrukturen, die nur bedingt prognostiziert werden können, wesentlich bestimmt. Für die Marke sind für den Markteffekt übertriebene Innovationsschübe dann störend, wenn sie den Wiedererkennungswert (gerade im Vergleich mit anderen Produkten) eintrüben. Die flexible Markenpositionierung mit hohem Wiedererkennungswert ist demgegenüber die bessere Strategie. Drittens, religionsphilosophische und theologische Argumentationen, die sich jenseits einer ökonomistischen Logik zu artikulieren versuchen, werden auf dem Forum einer öffentlichen Vernunft, die unentrinnbar konsumistisch getränkt ist, nicht mehr adäquat verstanden; Vernunft- und Wahrheitsansprüche selbst erscheinen nunmehr als Teil eines ökonomisch ausgetüftelt wirkenden "Brandings".
Die erste These wird durch den Eindruck erhärtet, den ein Blick auf die ökumenische Situation in den USA hinterläßt. Diesen Eindruck kann man nicht anders deuten, als daß es bei diesen Gesprächen nicht primär um das Ziel einer größeren ökumenischen Einheit geht, sondern um die Sicherung einer quasi marktpolitischen Freiheit. Nur so ist es zu erklären, daß US-Lutheraner von einem neuen ökumenischen Winter sprechen, während etwa der neue Erzbischof von Philadelphia dafür bekannt ist, eine punktuelle Zusammenarbeit mit den evangelikalen Christengemeinschaften zu suchen, obwohl hier dogmatisch noch weitaus größere Kröten zu schlucken wären als mit den Lutheranern. Solche Gespräche sind aber im wesentlichen nur eine marktpolitische Koalition mit dem Zweck, sich gemeinsam vor einer staatlichen Vorstellung einer negativen Religionsfreiheit zu schützen: also, vereinfacht gesagt, den religiösen Markt als Markt erhalten zu können. Der derzeit von der Obama-Administration im Namen der "Affordable-Care-Act"-Gesetzgebung ausgeübte Druck, der auch von christlichen Arbeitgebern fordert, Krankenversicherungsschutz unter Einbeziehung eines Zugriffs auf Kontrazeptiva und sogar Abtreibung zu gewährleisten, wird von den Kirchen als Angriff auf die Religionsfreiheit gewertet, so daß die moraltheologische Sachfrage gar nicht erst gestellt oder weiter legitimiert werden muß. Die gemeinsame Front christlicher Denominationen gegen "Angriffe" auf die Religionsfreiheit bekundet eine marktlogische Strategie, die den Schutz des "religiösen" Marktes als oberstes Ziel hat.
Der zweite der oben genannten Punkte wird relevant, wenn wir uns fragen, wie und warum Menschen ihre konfessionelle Zugehörigkeit verändern. Umfragen lassen den Schluß zu, daß bis zu 40 Prozent der US-Christen mindestens einmal in ihrem Leben ihre Konfession wechseln. Solche Wechsel erfolgen angeblich nur sehr selten aus doktrinalen Überlegungen heraus; sie haben weitaus häufiger mit einem Gefühl mangelnder spiritueller Beheimatung in der eigenen Kirche zu tun. US-Katholiken, die ihrer Konfession den Rücken kehren, tun dies also sehr oft nicht aus einem Problem mit katholischer Lehre oder Moralvorstellung. Viele von ihnen schlagen bei Freikirchen auf, die ihnen - obwohl moralisch rigoroser und an manchen Punkten doktrinal durchaus weniger kompromißwillig als die katholische Kirche - eine stärkere Beheimatung ermöglichen.
Bemessen wird die religiöse Überzeugung damit an ihrem Effekt in Hinsicht auf die Stillung immaterieller Grundbedürfnisse: Wenn zum Beispiel das in einer pfingstlichen Gemeinde neu artikulierte Bekenntnis zu Jesus dazu führt, daß ein Familienvater seine Alkoholabhängigkeit überwindet, daß ein schlechter Ehemann zum Wert ehelicher Treue zurückfindet oder daß ein gescheiterter Geschäftsmann wirtschaftlich neu Fuß faßt, dann und erst dann wird der soteriologische Anspruch des christlichen Glaubens in der Form eines denominationalen Bekenntnisses plausibel. Eine sozusagen ätherisch-theologisch eingeführte, gewissermaßen unsichtbare Erlösung verliert in einer Bedürfniskultur rapide an Bedeutung. Glaube muß sichtbar, mehr noch: spürbar sein, um die entsprechenden Bedürfnisse stillen zu können.
Damit ist aber der dritte Punkt berührt. Wer darauf beharren möchte, daß Religion mehr ist oder mehr sein muß als Bedürfnisbefriedigung, wird - wenn er bzw. sie Pech hat - gar nicht mehr verstanden. Es ist eine ausgesprochen offene Frage, wie Religion hier eine andere Logik und Denkungsart etablieren kann. Kapitalismuskritiker geben zu bedenken, daß die postfordistische Logik des Konsums um des Konsums willen am Ende mehr Konsumverlierer als Gewinner produzieren muß - und daß eine Option für die Verlierer (anders gesagt: eine Option für die Armen) dieser kalten Logik eine echte Alternative entgegensetzen würde, durch die Religion zu ihrem eigentlichen Auftrag zurückfinden könnte.
In den USA zeigt sich aber, daß dieser Rück- und Ausweg ausgesprochen steinig ist: Wer im Namen der Religion etwa die soziale Frage stellt oder ein bestimmtes politisches oder ökologisches Engagement fordert, verliert Zuhörerschaft und (so kann man sagen) Marktanteile4. Die katholische Kirche galt in den 50er Jahren in den USA gerade deshalb als "liberal", weil sie als Religion der armen Iren, Italiener und Hispanics die soziale Frage hartnäckig formuliert hatte. Aber davon ist (vor allem wegen der nicht nur punktuellen Liaison mit den Republikanern) nicht mehr viel übrig geblieben. Es zeigt sich vielmehr: Wer durch Erlebnisqualitäten wie liturgische Ästhetik und spirituelle Komfortzonen oder durch Orientierungs-Branding wie klare moralische Codes sein eigenes Wettbewerbsprofil schärft, bleibt im Spiel der Marktkräfte weiterhin attraktiv.
Ein interessantes Beispiel hierfür ist die Weise, in der etwa Papst Johannes Paul II. in den USA oft wahrgenommen wird: Er gilt als Leitfigur der charismatisch ausstrahlenden Glaubensüberzeugung; er gilt als spiritueller Leuchtturm und als unbeirrbare Instanz einer an Familienwerten orientierten Individualethik. Seine ebenso kompromißlosen Äußerungen zur sozialen Frage und zur globalen Gerechtigkeit dagegen werden in dieser Perspektive sehr bewußt verdrängt, weil sie einen störenden Effekt (z. B. auf den Marktwert der Marke "Katholizismus") hätten. Die konsumistische Logik birgt, wie man an diesem Beispiel sehen kann, eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Religiöse Wahrheitsfragen werden als reine Identitätsfragen und Identitätsfragen werden als marktpolitische Profilfragen interpretiert.
"Evangelical Catholics"
Der (nicht unumstrittene) amerikanische Vatikan- und Katholizismusexperte John Allen hat in seinem instruktiven Buch "The Future Church" drei Strategien identifiziert, mit denen der christliche Glaube auf die Herausforderung der Moderne geantwortet hat5: Die erste Strategie nennt er die des theologisch-pastoralen "Liberalismus", der die An- und Einsprüche der Moderne anerkennt und sich daraufhin zu einer Reinterpretation und Rekonstruktion der eigenen Glaubensüberzeugung, zu einer Art Aufklärung des religiösen Glaubens gezwungen sieht. Doch neben diesem, in Deutschland im Grunde vor Jahrzehnten volkskirchlich, also von Theologen und Bischöfen, Gemeinden und kirchlichen Verbänden beschrittenen Weg, gibt es zwei alternative Modelle, die dezidiert an Einfluß gewinnen, wie man an den USA diagnostizieren kann: Es ist das evangelikale und das pfingstliche Christentum, das seine Gegenstücke auch in der katholischen Kirche zur Entfaltung bringt.
Die erste Alternative zum liberalen Christentum, das evangelikale Christentum, hat seine historischen Wurzeln in pietistisch gefärbten Erneuerungsbewegungen innerhalb des Protestantismus. Diese Bewegung legte einen außerordentlich großen Wert auf die persönlich-spirituelle und die moralische Ausrichtung des Glaubenslebens sowie auf die enge Rückbindung des Christentums an die biblischen Grundlagen, um dann in diesen Kontext die Relevanz von institutioneller Kirche, Hierarchie und Sakramenten ein- und unterzuordnen. Anders als der "Liberalismus" sieht ein evangelikales Christentum die Moderne als Herausforderung, der man mit verstärkter Besinnung auf die eigene Identität zuallererst antithetisch zu begegnen hat. Liberale Theologie und Kirchlichkeit gelten als schleppender Abfall vom eigentlichen Glauben und als erster Schritt auf einem abschüssigen Weg, der konsequent nach unten - in die endgültige Säkularisierung von Religion - führt.
Historisch bildete das evangelikale Christentum das Rückgrat der frühen Zivilisations- und Immigrationsgeschichte der USA. Aber mit dem Beginn der Industrialisierung, der weltanschaulich durchaus erdbebenartig wirksamen Aufhebung der Sklaverei, der zunehmenden Urbanisierung vor allem der Ost- und Westküstenstreifen der USA, mit der Etablierung hochintellektueller protestantischer Bildungseinrichtungen (zu nennen wären Yale, Princeton und andere Ivy-League-Universitäten) wurde das evangelikale Christentum auf die agrarisch strukturierten Landstriche im Südwesten der USA verdrängt6, wo es heutzutage immer noch blüht.
Weltanschaulich ist zu bedenken, daß die evangelikalen Versionen protestantischer Denominationen immer ein Stück ihrer konfessionellen Herkunft mitgenommen und behalten haben: von den puritanischen Calvinisten Neuenglands etwa den Millenarismus und die kapitalismusfreundliche Prädestinations-Ethik, von den baptistischen Wurzeln die establishmentfeindliche, privatisierende und kulturkritische Ausrichtung, vom schottischen Presbyterianismus die flach-hierarchische Organisation und den Impuls zur Ausbildung einer eigenen Orthodoxie, von der methodistischen Folie eine Orientierung an individueller glaubensmäßiger Selbstvervollkommnung, einen pragmatisch optimistischen Freiheitsbegriff und einen universal-missionarischen Eifer7.
Die Frage ist nun durchaus interessant, wieso das evangelikale Christentum als Stimme der neuen christlichen Rechten in der republikanischen Partei überhaupt politisch so an Einfluß gewinnen konnte. Ein Erklärungsversuch könnte mit verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen zu tun haben, die die US-Gesellschaft seit mehreren Dekaden zu zerreißen drohen8: Es gibt seit den 60er Jahren ein verstärktes Bewußtsein für ein Nichtgelingen von Immigration, es gibt den nicht zu gewinnenden Krieg gegen Drogen und Armut, und es gibt den Eindruck, daß die inneren Bindungen der idealisierten Kernfamilie durch die sexuelle Revolution und die Frauenbefreiung korrodiert sind. Darüber hinaus haben die USA seit Vietnam immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen geführt, die sie nicht gewonnen haben und nicht gewinnen können. In dieser Situation liefert das evangelikale Christentum klare Antworten, die in einer hyperkomplexen Situation einen erheblichen komplexitätsreduzierenden Effekt haben: von Gott sanktionierte Arbeitsethik statt Wohlfahrtsstaat (das wird gerade der Black Community und den Hispanics vorgehalten), Krieg gegen Pornographie, Alkohol und Drogen, neue und eindeutige Rollenzuschreibungen für Männer und Frauen, Familienwerte und "Pro-Life"-Initiativen, Stilisierung der amerikanischen Kriege als Weltanschauungskonflikte zwischen dem christlichen Reich der Freiheit und dem Reich der Finsternis, das neuerdings mit den islamistischen Regierungen im Vorderen Orient identifiziert wird. Als Gegenleistung verzichtet das evangelikale Christentum im Zuge dieser politischen Umgarnung und Vereinnahmung auf seine eigentlich pazifistischen und antikapitalistischen Unterströmungen.
Die zweite, große Alternative (die sich natürlich mit evangelikalen Motiven vermischen kann und auch vermischt hat) ist ein pfingstliches Christentum. Die Bilder, die sich in unseren Köpfen hier einstellen, sind die Bilder von Mega-Churches, Fernsehpredigern und von Gläubigen, die in ekstatischer Ergriffenheit Gottesdienst feiern. Stilbildend für diese Version des Christentums ist der Akzent der persönlichen Unmittelbarkeit, die Rolle des Heiligen Geistes, der vom eigenen Leben Besitz ergreift - so daß das, was der Glaube lehrt und was er will, im persönlichen Erleben direkt erfahren werden kann. Das pfingstliche Christentum unterstreicht die enorme Rolle der persönlichen Bekehrung und des religiösen Erlebnisses und bietet damit eine sehr erfolgreiche Antwort auf den spirituellen Erlebnishunger des 21. Jahrhunderts9.
John Allen hält für das pfingstliche Christentum die folgenden Kennzeichen für prägend und stilbildend: einen starken Glauben an die Gaben des Geistes (Gebetsheilungen und Zungenrede sind die markantesten Beispiele), eine literale Interpretation der Heiligen Schrift, ein unbeirrbares Vertrauen auf Gebetserhörungen, Wunder und Heilungen (das verbunden ist mit einer Abwertung von Sakramenten oder engen liturgischen Strukturen), ein Rechnen mit direkten Offenbarungen Gottes im Sinne von Privatoffenbarungen, einen Glauben an Geister und Dämonen, eine apokalyptische Grundsignatur (Endzeittheologie), eine exklusivistische Note ("solus Christus") mit Blick auf andere Denominationen und Religionen, einen stark konservativen Moralcode, eine Betonung der Vergemeinschaftung, schlußendlich die Verbindung von Bekehrung, Glaube und wirtschaftlicher Prosperität10.
Wenn man den liberalen christlichen Weg und seine Alternativen mit einer etwas metaphorischen Kennzeichnung voneinander unterscheiden will, so ließe sich der liberale Weg als ein Weg der Augen verstehen, weil es darum geht, die Moderne wahr- und aufzunehmen. Der evangelikale Weg dagegen empfiehlt, gegenüber der Moderne die Nerven zu bewahren und sich auf die eigenen Kräfte und die eigene Identität zu besinnen. Der pfingstliche Weg schließlich setzt dem als kalt-rational und damit auch als verloren empfundenen liberalen Christentum das vom Geist erfüllte, brennende Herz entgegen und predigt das Erlebnis unmittelbarer Ergriffenheit im Gegensatz zu theologischer Reflexion.
Wende zur Tradition
Für diese verschiedenen Antworten auf die Moderne kann man nun auch katholische Ausprägungen bzw. Pendants identifizieren, die im US-Katholizismus ihren Ausgangspunkt nehmen und sicherlich über kurz oder lang den Weltkatholizismus prägen werden: Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil schien zunächst eine liberale Version des Katholizismus den Sieg davongetragen zu haben. Dieser Sieg wird von manchen inzwischen aber als Pyrrhussieg auf dem Weg zur vollkommenen Verweltlichung empfunden. Man kann nun zwar nicht sagen, daß das liberale katholische Christentum in den USA vom Aussterben bedroht sei; es lebt in einigen intellektuellen Ressorts - wie etwa in angesehenen theologischen Fakultäten an renommierten Privatuniversitäten - fort und findet sich vor allem in der pastoralen Praxis jener Gemeinden, die ohne ein starkes Engagement von Laien nicht überleben würden. Außerdem gibt es noch immer viele Ordenskonvente und Kommunitäten, die sich selbst als liberal verstehen würden und zum "Dissens neigen", wie ein vatikanischer Visitationsbericht lakonisch vermerkte.
Jüngere Milieustudien belegen aber, daß in den USA - und dies nimmt wohl nur einen weltweiten Trend vorweg - angehende Priester sowie Professoren und Professorinnen der Theologie zunehmend traditionsorientierter sind. Dieser Neokonservativismus hat im katholischen Milieu zudem eine eindeutig evangelikale Note: Es geht nämlich in der Auseinandersetzung mit einer mehr und mehr als zerbrechend erlebten Gegenwartskultur um die Bestimmung des spezifisch Katholischen.
Dabei werden theologisch die modernekritischen Elemente, die sich in der sogenannten postliberalen Theologie aus der jüngeren lutherischen Tradition und in der sogenannten "Radical Orthodoxy" aus dem anglikanischen Kontext finden
11, aufgenommen und katholisch adaptiert: Unter den neueren katholischen theologischen Strömungen zu nennen wäre das Schlagwort "Ressourcement", mit dem - doch anders als dieser Begriff einst in der Nouvelle Théologie geprägt worden war - nunmehr die theologische Aufgabe einer verstärkten Rückbesinnung auf die Quellen (und das wären für den katholischen Bereich vor allem Augustinus und Thomas von Aquin) verbunden wird. Als zweites Schlagwort zu nennen wäre eine "postliberale" katholische Theologie, die in einer Mischung aus traditioneller Metaphysik und romantischer Ästhetik Hans Urs von Balthasar zu ihrer Galionsfigur erklärt hat, wobei sie dessen avantgardistisch-moderne Seite interpretatorisch natürlich unter den Tisch fallen läßt. In der Debatte um die Vernünftigkeit des Glaubens schlägt sich diese Art von Theologie auf die Seite der Diskreditierung einer autonomen Vernunft und nimmt dann notgedrungen fideistische Züge an.
Die evangelikal anmutende Sorge um die eigene Identität hat für die katholische Theologie und Kirche eine Reihe von erheblichen Folgewirkungen: In der Verhältnisbestimmung von Theologie und Lehramt wird das Magisterium der Theologie dem amtlichen Magisterium dezidiert untergeordnet. Nicht die Auseinandersetzung mit "externen" Philosophien, Weltbildern und Religionen, sondern Rückbesinnung auf das Eigene und Konturierung der eigenen Identität unter dem Vorzeichen verstärkter Abgrenzung vom "Zeitgeist" wird theologisch zum Wasserzeichen neuer Aufbrüche. Liturgie avanciert dabei zum ästhetischen Kampfplatz der Identitätssicherung und des Sich-Absetzens von den Zeitläuften. Das protestantische "sola scriptura" wird durch eine Orientierung an Tradition und (bischöflichem und päpstlichem) Lehramt ersetzt. Zudem wird die antiklerikale Spitze evangelikalen Denkens katholischerseits durch eine neoklassische Amtstheologie insofern umgangen, als der Priester nun nicht mehr als oberster Diener und "Be-Amter" der Gemeinde, sondern als der metaphysisch mit Jesus vereinte Repräsentant Christi verstanden wird, dessen besonderer Rang in einem spirituellen Elitismus begründet ist. Ein unausweichlicher Nebeneffekt ist dabei die zunehmende innere Konfessionalisierung des Katholischen.
Auch pfingstliche Elemente finden sich in einer katholischen Version; das Pochen auf Unmittelbarkeit wird dabei ebenfalls amtstheologisch kanalisiert, so daß die Unmittelbarkeit zu Christus wesentlich durch den Priester vermittelt, aber eben im Priester in allerkonkretester Weise als erlebbar vorgestellt wird. So warb - um ein Beispiel zu nennen - die Erzdiözese New York auf ihrer Homepage für Priesterberufe (www.nypriest.com) mit dem Hinweis, daß man über den Priester in direkten (physischen) Kontakt mit Christus kommen könne. Eine Photographie zeigte einen katholischen Priester bei der Exequien-Liturgie eines am 11. September 2001 getöteten Feuerwehrmannes; der Sarg wird begleitet von uniformierten Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleuten und eben von einem katholischen Priester. "The World Needs Heroes", sagt das durchlaufende Motto der Homepage dazu. Ein neuer spiritueller Elitismus verbindet sich hier mit typischen Formen des amerikanischen Heroismus und Exzeptionismus.
In der pastoralen Arbeit finden zudem (von Religionsgeschichtlern und Religionspsychologen als eher archaisch aufgefaßte) "sacerdotal-magische" Praktiken eine Neubelebung: Der katholische Priester erscheint bisweilen wie der charismatische Heiler und Exorzist, dem neben der Befreiung von Krankheiten des Leibes und der Seele auch die Austreibung der bösen Geister neu aufgetragen wird und an dessen Segen die Alltagsprosperität hängt. Pfingstlich gefärbt sind überdies auch jene spirituellen Trends, die im katholischen Bereich zunehmend sogenannte "communionale" Liturgieformen (z. B. das gemeinsame Stundengebet) durch eher erlebnisorientierte und das Individuum sozusagen allein vor Gott stellende Andachtsformen und zahlreiche zugeordnete, auf Innerlichkeit, unmittelbare Erfahrung oder sogar Ekstase ausgelegte Praktiken ergänzen oder sogar ersetzen.
Der Wert des "alten" europäischen Erbes
Die amerikanischen Trends, die hier vor allem mit Blick auf die katholische Kirche skizziert wurden, mögen für europäische, besonders für deutsche Ohren befremdlich wirken. Aber diese Tendenzen werden auch im weltweiten Maßstab an Einfluß gewinnen. Der neue Typ des amerikanischen Bischofs - ein Blick auf die großen Diözesen wie Chicago, New York oder Philadelphia mag genügen - ist identitätsbesorgt und identitätsorientiert. Auch die Spitze der amerikanischen Bischofskonferenz spiegelt diese Denkungsart, die bei aller Jovialität und Menschenfreundlichkeit einen starken Akzent auf ekklesiologische und moraltheologische Standpunktsicherheit legt und in ökumenischer Hinsicht nicht müde wird, das unterscheidend Katholische zu betonen.
Man mag sich angesichts der Tatsache, daß evangelikale und pfingstliche Elemente historisch meilenweit vom Katholizismus entfernt waren, verstärkt fragen, wie diese Elemente in die katholische Kirche gelangen konnten. Eine erste Antwort ist die oben beschriebene Marktlogik im Gebiet von Religion und Kirchlichkeit. Die spirituelle Bedürfnisstruktur hat einen Sog gebildet, der diesen Elementen einen Auftrieb verliehen hat.
Für den römischen Katholizismus stellt das Pontifikat von Johannes Paul II. dabei eine Art Epochenschwelle dar. Dieser Papst war es, der eine evangelikal und pfingstlich anmutende Verzweigung des Katholischen zugelassen, vielleicht sogar verursacht hat: einerseits durch sein spirituelles Charisma, bei dem sein Amt mit seinem persönlichen Glaubenszeugnis untrennbar zusammenwuchs, anderseits durch den von ihm vielleicht nicht gewollten, aber doch auch nicht verhinderten papalen Starkult, der den Papst selbst zur Glaubensquelle für jene machte, die ihren spirituellen Durst durch eine möglichst konkrete und reelle Unmittelbarkeit löschen wollten, schließlich durch seine offensive Förderung relativ junger und heißsporniger geistlicher Priester- und Laien-Bewegungen und durch die von ihm in theologischer Absicht verfolgte Politik katholischer Identitätsbewahrung.
Diese Dinge werden von Benedikt XVI. so nicht einfach fortgesetzt; er mahnt eine größere Weite des Katholischen an, wobei es allerdings nicht ausgeschlossen ist, daß seine Rückbesinnung auf traditionelle Elemente in der oben beschriebenen Marktlogik wiederum als Neueinsatz für ein differenzbildendes "Branding" des Katholischen gewertet wird. Und obwohl Benedikt XVI. so manches von Johannes Paul II. trennt - seine bemerkenswerte Ablehnung eines papalen Starkultes, seine Zurückdrängung moraltheologischer Statements zugunsten einer Besinnung auf das dogmatische Kernkerygma des Christentums in den Enzykliken, seine bewußte Förderung "alteingesessener" Orden in Verbindung mit Bewährungsauflagen für neue geistliche Bewegungen, sein Mißtrauen gegenüber erlebnisorientierten Liturgieformen (auch und gerade bei Papstmessen) -, könnte es sein, daß Benedikts fundamentale Skepsis gegenüber der Moderne ihn gerade nicht mit liberalen Kräften gleich welcher Couleur koalieren läßt.
Das Gesicht der katholischen Kirche wird sich durch die Ausbildung evangelikaler und pfingstlicher Charakteristika verändern. Und auch das ist an den USA abzulesen: Gerade in der Aufnahme eines evangelikalen Impulses folgen mehr und mehr Bischöfe einer bedenklichen Ingroup/Outgroup-Logik, die am Ende jeden Dissens vor die Tür weist: "Wer nicht in allem für uns ist, der ist gegen uns!" Politisch wird die katholische Kirche (die in den USA einen langen Weg vom verdächtigen Underdog zur gesellschaftlich respektierten Denomination durchlaufen hat12) dadurch zu einer Art Partei, die sich in der Vielstimmigkeit der Öffentlichkeit durch ein simplifiziert klares Profil aufstellt und sich auf wenige moralische Kernthemen (wie Anti-Abtreibung oder anti-gleichgeschlechtliche Ehe) festnageln läßt. Die katholische Weite und Tiefe gehen dabei verloren.
Nun mögen einige solche Identitätsmarkierungen begrüßen, weil sie anscheinend einhergehen mit einer angeblichen Intensivierung von Glaube, Innerlichkeit und Moral. Doch auch das kann man von den USA lernen: Bislang scheint es selbst den evangelikalen und pfingstlichen Abzweigungen oder Denominationen nicht zu gelingen, Menschen ein ganzes Leben lang an das Christentum zu binden. Die Bindewirkung reicht meist nur eine Lebensphase weit und kann sich schon mit dem nächsten biographischen Einschnitt verflüchtigen.
Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob das europäische Christentum der Weltkirche nicht doch etwas bleibend Wertvolles zu sagen und ob es der Amerikanisierung des Katholischen etwas entgegenzustellen hat. Es wäre schön, wenn man auf den intrinsischen Wert der Aufklärung oder einer liberalen Theologie rekurrieren könnte. Aber gerade dieser Wert dürfte angesichts des Wachkomas, in dem sich das Christentum in Zentraleuropa (siehe Niederlande, Frankreich oder Skandinavien und eben auch Deutschland) befindet, nur schwer zu vermitteln sein.
Anstelle nutzloser Appelle gibt es nüchtern zwei Punkte zu bedenken, die als das bleibende Erbe des europäischen Christentums verstanden werden können: Erstens, einen Schutz vor Fundamentalismus gibt es nur da, wo Religion und Vernunft eine gute Beziehung eingegangen sind. Antiintellektualistische Strömungen können gesamtgesellschaftlich desaströse Folgen haben - bis dahin, daß religiöse Überzeugungen für totalitäre Zwecke benutzt werden, ohne sich aus einer eigenen Kraft der Reflexion davon befreien zu können. Zweitens, Geschichte und Geschichtlichkeit sind ein notwendiger Denkmodus. Das bedeutet, daß die Revitalisierung der Vormoderne durch evangelikale katholische Tendenzen eben nie in die Vormoderne zurückkehren wird, sondern nur eine spezifische Abart der Moderne bleibt.
Das zeigt sich besonders daran, daß die Kritik der Moderne eben noch jenen Freiheitsbegriff als Freiheitsrecht voraussetzt, der mit der Moderne gerne verteufelt wird. Indirekt sind damit sowohl die Anfragen als auch die Ansprüche der Moderne zumindest zum Teil ratifiziert und können ohne einen pragmatischen Selbstwiderspruch auch in der Kritik der Moderne nicht abgetan werden.