Rafaels Sixtinische Madonna in Dresden hat einen doppelten Migrationshintergrund - um die unschöne Sprache der Politik zu gebrauchen. Als italienische Migrantin mußte sie damals, vom Geld eines deutschen Fürsten bewegt, nach Deutschland auswandern, wo sie bis heute als höchst erfolgreiche "Gastarbeiterin" tätig ist. Notgedrungen mußte sie zudem ihren angestammten Platz am sakralen Ort verlassen und sich in den säkularen Kontext eines Museums integrieren und so die Wandlung vom Kultbild zum ästhetischen Kult um ihr Bild durchmachen. Hängt die nachhaltige Faszination dieses Meisterwerks der Renaissance womöglich mit diesem Migrationsgeschick zusammen und mit der unaufdringlichen Synthese von Kunst und Religion, die autonom zusammenfinden?
Seit nunmehr 500 Jahren zieht die Sixtinische Madonna Menschen ästhetisch und spirituell in ihren Bann, im Jubiläumsjahr 2012 besonders zahlreich die Kunstbeflissenen. Schon ein Jahr zuvor fand anläßlich des Deutschlandbesuchs Papst Benedikts XVI. in Dresden ein marianisches Gipfeltreffen statt, als sich die beiden fast gleichaltrigen Schwester-Madonnen Raffaels im selben Raum begegneten, die Madonna di Foligno aus der Vatikanischen Pinakothek und die Sixtinische Madonna aus der Dresdner Gemäldegalerie Alter Meister.
Das doppelte Leben der sächsischen Sixtina ist schnell erzählt. Aus Dankbarkeit für das Kriegsglück vergab der Rovere-Papst Julius II. 1512 einen Kunstauftrag an den kaum 30jährigen Künstler Raffael aus Urbino, der es schon früh zu Meisterschaft und Ruhm gebracht hatte. Er sollte für den Hochaltar der neuen Klosterkirche San Sisto der Benediktiner in Piacenza ein großformatiges Altarbild malen.
Nach ihrer Fertigstellung stand die Sixtinische Madonna dort fast 250 Jahre als Andachtsbild auf dem Hochaltar, an dem in der Eucharistie das Mysterium der Wandlung gefeiert wurde. An diesem sakralen Ort verblieb das Marienbild, bis das Kloster es, um seine Schulden begleichen zu können, mit Erlaubnis des Papstes an einen ausländischen Investor veräußerte. Über seine Kunstagenten erwarb August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, das Bild 1754 für seine Kunstsammlung in Dresden. Dort steht es nun seit über 250 Jahren und wird in profaner oder verstohlen frommer Andacht kontempliert. Selbst bei ihrem kurzen Aufenthalt in Moskau lockte die Sixtinische Madonna als Ikone über eine Million Betrachter und Verehrer ins Puschkin-Museum.
Da die Sixtina als Kultbild einen religiösen Gehalt in höchster künstlerischer Qualität darbietet, hat sie einen hybriden Charakter, der verschiedene Betrachtungsweisen ermöglicht. Die einen nehmen die Einheit von Kunst und Religion wahr, andere blenden das religiöse Moment aus und heben den allgemein menschlichen Gehalt hervor, wieder andere sehen in der Schönheit einen Weg zum Glauben an den "schönen Gott" (Friedrich Spee SJ).
In der frühromantischen Programmzeitschrift Athenaeum (1799) veröffentlichte August Wilhelm Schlegel einen fiktiven Trialog dreier Kunstfreunde, in dem die Teilnehmerin Louise erzählt, wie beim Anblick des Antlitzes "ein sanfter Schauer" über sie gekommen und ihre Augen "naß geworden" seien. Darauf reagiert ein anderer Teilnehmer mit den Worten: "Sie sind in Gefahr katholisch zu werden", worauf Louise erwidert: "Wie dann und wann heidnisch. Es ist keine Gefahr dabey, wenn Raphael der Priester ist." Dagegen fragte Johann Wolfgang Goethe, was denn Raffael mehr gemalt habe als "eine liebende Mutter mit ihrem Ersten, Einzigen". Dieser reduktiven Sicht folgte Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches auf seine Weise. Raffael habe eine Vision malen wollen, "aber ein solche, wie sie edle junge Männer ohne 'Glauben' auch haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arm trägt."
Worin aber besteht das ästhetisch-spirituelle Geheimnis des Marienbilds, das Raffael, einer der "gebenedeiten Kunstheiligen" (Wilhelm Heinrich Wackenroder) als Kultbild zur Wandlung schuf? Für den christlichen und den gebildeten Betrachter ist das Sujet leicht zu entziffern. Das Bild zeigt die seit den frühen Konzilien "Gottesmutter" (theotókos) genannte Maria, die das Jesuskind in inniger Geste auf dem rechten Arm trägt und es dem Betrachter präsentiert, ikonographisch dem Ikonentyp der "Eleousa" (Erbarmerin) nicht unähnlich. Vor der Madonna knien die heiligen Märtyrer Sixtus II. als Kirchenpatron und Barbara, welche zugleich die Lebensalter und Geschlechter repräsentieren. Die beiden weltberühmten Engelchen an der unteren Brüstung lenken nicht ab, sondern lenken in cooler Pose die Aufmerksamkeit in einem Augenblick auf die Vision. Wie eine himmlische Erscheinung kommt die auf Wolken schwebende Madonna mit Kind durch einen gerafften Vorhang dem Betrachter entgegen. Der Vorhang ist zurückgezogen, die Madonna enthüllt im nu das Geheimnis ihres Sohnes: das Göttliche im Menschlichen.
Die Jubiläumsausstellung präsentiert die Madonna als Altarbild in einem stilisierten Sakralraum, eine religioide Inszenierung von Kunst, die an die ursprüngliche liturgische Rolle als Kultbild erinnert. Schon im 19. Jahrhundert hatte man das Bild in einer musealen Kapelle mit Altar aufgestellt und damit resakralisiert. Ob profane oder fromme Andacht, das Bild bleibt nach religiösem und säkularem Code verstehbar. Dem Kurator Andreas Henning ist beizupflichten, daß erst die Dekontextualisierung, also die Migration in fremde Welten, die "säkulare Popularität" ermöglichte. Popularität hat freilich seit geraumer Zeit auch eine jüngere Darstellung gewonnen: die anonyme Lourdes-Madonna, der allerdings die Schönheit und das Kind abhanden gekommen sind. Wenn Raffael für die Madonna mit dem Kind den Vorhang öffnet, dann wird auch einem säkularen Zeitalter über den Bildkult hinaus die Transzendenz in der Immanenz transparent.