Ökumene heute und morgen

"Nun muss zusammenwachsen, was zusammengehört", rief Willy Brandt am 10. November 1989 am endlich wieder geöffneten Brandenburger Tor in Berlin aus. Die politische Teilung Deutschlands hatte ein lang ersehntes Ende gefunden. Jahre hindurch war dafür gearbeitet worden; und doch wurde die endlich erreichte Einigung dann als ein überraschendes Ereignis erlebt. Und heute wissen wir, dass das Zusammenwachsen des Zusammengehörenden noch immer nicht abgeschlossen ist. Gleichwohl: Die Freude über die Wiedervereinigung Deutschlands war und ist groß und verbindet alle seine Bürger.

Einigungen sind möglich, wenn man sie nur will - das ist eine Erfahrung, die Mut machen kann und sicherlich auch über den politischen und ökonomischen Raum hinaus gültig ist. Das schließt nicht aus, dass ihre Durchführung oft ein geduldiges Mühen kostet. Auch auf die Unterscheidungen, ja Trennungen, die es zwischen den christlichen Kirchen gab und gibt und doch nicht geben sollte, kann, ja muss diese Erfahrung angewandt werden. Wenn Menschen sich für die Überwindung ihres im Laufe der Geschichte aufgebrochenen Neben- oder gar Gegeneinanders einsetzen, verdienen sie Aufmerksamkeit und Dankbarkeit; denn es liegt ihnen daran, dass die innere und äußere Einheit der Christenheit, die ja die Kirche als Gottes Volk und Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes kennzeichnen soll, damit sie ihrem Auftrag gerecht zu werden vermag, erfahrbar ist. Die Darstellung der Geschichte solcher Bemühungen, die man unter der Überschrift "Ökumenische Bewegung" zusammenfassen kann, umfasst inzwischen viele Kapitel. Kardinal Walter Kasper hat in seinem wichtigen Buch "Die Früchte ernten" (2011) darauf aufmerksam gemacht.

Am 5. September 2012 haben sich 23 bekannte und bedeutende Persönlichkeiten aus der Welt der Politik und der Kultur und aus den Kirchen mit dem Aufruf "Ökumene jetzt" öffentlich zu Wort gemeldet. Sie sprechen als Christen und geben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die katholischen und die evangelischen Christen "im Land der Reformation", die ja als "Getaufte schon als Geschwister im Glauben miteinander verbunden sind", ihren "gemeinsamen Glauben" endlich wieder "in einer gemeinsamen Kirche" leben können. Sie erinnern an die Reformation, die vor nahezu 500 Jahren stattgefunden hat, und an den Beginn des II. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren. Sie legen beide Ereignisse als Impulse zur Vertiefung oder Erneuerung der Einheit der Kirche aus. In diesem Aufruf meldet sich eine starke Hoffnung. Und so darf, ja muss gewürdigt und begrüßt werden, dass er den ökumenischen Bemühungen aller, die sich hier einsetzen, Rückenwind zu geben vermag.

Dies gilt, obwohl der Aufruf in seinen konkreten Deutungen und Anregungen bedauerlicherweise einige Grenzen aufweist und deswegen die beabsichtigte Schubkraft auch nur in begrenztem Maße wird entfalten können. Seine Verfasser haben wohl zu wenig berücksichtigt, dass die christlichen Kirchen nicht wie alle anderen menschlichen Gesellschaften einfachhin unserem menschlichen Verfügen anheimgegeben sind. Es ist ja für die christlichen Kirchen kennzeichnend, dass sie sich bei der Bestimmung ihrer Aufgaben und bei der Gestaltung ihrer Strukturen an die Vorgaben gebunden verstehen, die sich aus dem Glauben an das Evangelium ergeben. Sie bedenken sie in ihren Theologien und können auf die Orientierungen, die sie erschließen, nicht einfach verzichten. Hier liegt es begründet und zeigt es sich, dass sich die christlichen Kirchen in ihrer Gestalt und in ihrem Auftrag von politischen oder ökonomischen oder sonstigen Vereinigungen unterscheiden.

In dem Aufruf heisst es: "Reichen theologische Gründe … aus, um die Kirchenspaltung fortzusetzen? Das glauben wir nicht"; und dann: "Unbestritten ist, dass es unterschiedliche Positionen im Verständnis von Abendmahl, Amt und Kirchen gibt. Entscheidend ist jedoch, dass diese Unterschiede die Aufrechterhaltung der Trennung nicht rechtfertigen" und schließlich: "Wir können und müssen die Sorge um die Einheit der ganzen Kirche nicht ruhen lassen, bis eine theologische Einigung über das Amts- oder Abendmahlsverständnis zwischen den Kirchenleitungen erreicht worden ist." Solche Aussagen mindern leider das Gewicht, mit dem ihre Verfasser auf das ja nicht einfache ökumenische Geschehen Einfluss nehmen möchten. In ihnen ist nicht genügend beachtet, dass die unterschiedlichen theologischen Positionen eng mit den in den Kirchen erkannten und anerkannten Glaubensgrundlagen zusammenhängen. Sie können deswegen bei der Herbeiführung der Einheit nicht einfach hintangestellt werden. Der Aufruf hat darüber hinaus darin seine Grenzen, dass er zum einen nur die katholische und die protestantische Kirche im Blick hat und die Kirchen anderer Prägung außer Acht lässt und dass er sich darüber hinaus nur an der zentraleuropäischen oder gar nur deutschen Situation interessiert zeigt. Damit bleibt er hinter den inzwischen selbstverständlich gewordenen Standards der Multilateralität und der Internationalität der ökumenischen Bewegung zurück.

Die christlichen Kirchen leben - Gott Dank! - seit einigen Jahren oder gar Jahrzehnten nicht mehr in einem bloßen Neben- oder gar Gegeneinander, sondern haben mit Mühe und nicht ohne Erfolg Brücken zwischen sich zu schlagen vermocht. Einstweilen wird sich das ökumenische Bemühen darauf zu konzentrieren haben, das so gewonnene Miteinander zu gestalten und Schritt für Schritt auf dem steinigen Weg auf eine vertiefte Einheit weiterzugehen. Dringlich ist weiterhin ein von Vertrauen getragenes Achten auf die Grundanliegen der jeweils anderen Kirchen. Vielleicht können sie ja auch in der eigenen Gemeinschaft zur Entfaltung gelangen und zur Bereicherung beitragen. "Tun, was uns eint" sowie "Tragen, was uns trennt" und schließlich "Beten und Bitten um Gottes Schöpfergeist, der zu einen vermag, was getrennt ist" - das sind und bleiben einstweilen die Markzeichen auf unserem ökumenischen Weg.

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