Es scheint eine Eigenart vatikanischer Institutionen zu sein, so lange in einem an Erstarrung erinnernden Zustand zu verharren, bis sie von einer Stimme aus der Höhe zu neuem Leben erweckt werden. Das gilt auch für die berühmten Vatikanischen Museen mit ihrer ebenso bedeutenden wie ansehnlichen Sammlung zeitgenössischer Kunst. Zeitgenössisch war diese Sammlung im Jahr 1973, als sie von Papst Paul VI. eröffnet und eingeweiht wurde. Sie ist auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin entstanden. Die Vielfalt der Arbeiten ist außerordentlich. Das ihnen allen Gemeinsame scheint einzig und allein darin zu bestehen, daß sie als Geschenke von Künstlern und Förderern die von Paul VI. gesuchte Freundschaft zwischen moderner Kunst und Kirche bekräftigen. Kein anderer Papst des vergangenen Jahrhunderts hatte ein so inniges und persönliches Verhältnis zu Künstlerinnen und Künstlern.
Nach seinem Tod setzte der erwähnte erstarrungsähnliche Zustand ein. Die Sammlung zeitgenössischer Kunst ging in den Winterschlaf und verlor jeden Kontakt zu zeitgenössischer Kunst. Nach dreißig Jahren hatten einige Kunstwerke ihren Ort gewechselt. Andere waren dazugekommen, darunter Werke von Marino Marini, Georges Rouault, Henri Matisse, Marc Chagall, Vincent van Gogh oder Fritz Wotruba. Was gänzlich fehlte, war - von zwei Ausnahmen abgesehen - die nach 1975 entstandene Kunst. Auffällig war auch, dass die abstrakte, nicht gegenständliche Kunst im Ganzen der Sammlung völlig im Hintergrund blieb. Videokunst und andere neue Medien fehlten völlig.
Dann kam wieder ein Ruf aus der Höhe. Diesmal war es nicht der Papst, sondern Gianfranco Ravasi, seit 2007 Präsident des Päpstlichen Rates für Kultur. Durch die Initiative von Kardinal Ravasi ist es auf der diesjährigen Biennale (1. Juni bis 24. November) von Venedig zu einer Premiere gekommen: Zum ersten Mal in der über hundertjährigen Geschichte der Biennale, einer der weltweit bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, war der Heilige Stuhl mit einem eigenen Pavillon vertreten. Nicht der kleine Vatikanstaat trat hier auf, sondern der Heilige Stuhl mit seiner weltweiten Bedeutung. Kurator war Antonio Paolucci, Direktor der Vatikanischen Museen. Micol Forti, Kuratorin der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Vatikanischen Museen, hatte im Hintergrund einen Gutteil der Arbeit gemacht. Es wäre zu wünschen, ihr auch in Zukunft mehr Freiraum zu schenken. Denn die Auswahl war erstaunlich. Gerade das, was in den Sammlungen des Vatikan fehlt, war hier zu sehen: neue Medien, konkrete Malerei, Fotografie.
Von Studio Azzurro, einer 1982 gegründeten italienischen Gruppe von Medienkünstlern, stammte eine große interaktive Videoinstallation in vier Teilen. Von Taubstummen und Gefängnisinsassen wird die Geschichte der Schöpfung der Welt erzählt. Die Erzählung der einzelnen Personen, durch Worte oder Gebärdensprache, begann aber erst, wenn ein Betrachter die betreffende Person mit der Hand berührte. Der tschechische Fotograf Josef Koudelka hat einen Raum mit großformatigen Panoramafotos gestaltet. Ruinen, zerstörte Landschaften, Trümmer zeigen das Bild einer hinfälligen, misshandelten Schöpfung. In der Stille der großen monochromen Leinwände von Lawrence Carroll gab sich etwas jenseits aller Zerstörung zu erkennen: eine erst durch die Erfahrung des Verlusts hindurch zu erahnende Schönheit der Dinge. Eine Schönheit jenseits der Erstarrung, jenseits der Zerstörung, jenseits des Todes.
Die Künstler sind berühmt, die Auswahl war daher mit keinem Risiko verbunden. Arrivierte Männer zeigten, was sie können. Vielleicht ist deshalb das Ganze etwas zahm, zu brav, zu sehr korrektes Verhalten unter den Augen der hohen Herren. Im Katalog schreibt Kardinal Ravasi, es sei erst ein Anfang gemacht: " Und doch sind wir überzeugt, dass diesem Bruch gegenüber einer von Zögern und Ratlosigkeit gekennzeichneten Vergangenheit (die im Übrigen noch nicht ganz vorbei ist) eine weitere bekannte Bekräftigung aus den Briefen des Horaz angemessen ist: Beginnen ist schon die Hälfte des Werks (I, 2, 40)" (In Prinicipio, Padiglione della Santa Sede, 55. Esposizione Internazionale d’Arte della Biennale di Venezia 2013, a cura di Micol Forti e Pasquale Iacobone, 28). Ravasi setzt fort, dass in Zukunft auch junge Künstlerinnen und Künstler eingeladen werden könnten.
In diesem Jahr war den eingeladenen Künstlern mit den ersten elf Kapiteln des Buches Genesis eine Art theologisches Programm vorgegeben worden. Creazione, De- Creazione und Ri-Creazione waren die großen Themenbereiche. Die Vorgabe theologischer Programme entspricht in der Kirche zwar einer alten Tradition. Doch vielleicht ließe sich auch hier etwas ändern. Es könnte ja mehr auf die prophetische Bedeutung der Kunst Rücksicht genommen werden. Künstlerinnen und Künstler können die Augen öffnen für das, was eben heute Aufgabe und Verantwortung der Glaubenden ist.
Der Gott der Bibel nimmt sich gerade des Minderwertigen und Geringgeschätzten, der Sünder, an. Er entdeckt Schönheit und Würde dort, wo andere nur Dreck und Niedrigkeit sehen können. Der Blick Jesu macht das deutlich. Die Bibel beschreibt den Weg Gottes als Wendung zu den Armen. Sie beschreibt Gottes Weg als Menschwerdung, als Eingehen in Schwäche und Verwundbarkeit. Und sie beschreibt ihn als Durchgang durch Leid und Tod in eine neue Schöpfung. Die Kunst der Gegenwart wie des 20. Jahrhunderts hat wesentlich mit diesen Kernaussagen zu tun. Sie hat sich selbst auf diesen Weg gemacht. Das zeigt sich jedoch auf eine völlig neue und überraschende Weise. Den Künstlerinnen und Künstlern ist es zu verdanken, dass inmitten einer Konsum- und Erfolgsgesellschaft dem als gering und wertlos Geltenden Würde und Ansehen geschenkt wird.
Die Kunst ist daher unverzichtbar für die Kirche. Und nachdem sich viele Glaubende bereits auf die Suche nach einer Begegnung mit der Kunst der Gegenwart begeben haben, ist es wunderbar, dass sich auch der Heilige Stuhl dieser Suche anschließt.