Wenn man auf Havannas Straßen steht, muss man sich gelegentlich in den Arm kneifen, um zu verstehen: Das ist alles wirklich! Ford, Chevrolet, Buick und Dodge aus den 1940er und 50er Jahren, Lada aus den 70ern. Schaut man die Häuser hinauf, wird man noch weiter zurückgeführt: Prachtvolle Gebäude aus der Jahrhundertwende beschwören den Glanz einer einst blühenden Stadt herauf. Auf den Häuserfassaden im Land kann man Parolen lesen, die die Botschaft der Revolution einschärfen: „Alles für die Revolution!“, „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“, „Sozialismus oder Tod“.
Darüber hinaus Bilder der Revolutionshelden: der toten, die man zur „Ehre der Altäre“ erhoben hat (Ernesto „Che“ Guevara, Camilo Cienfuegos) und der lebenden, die das Land beherrschen (Fidel und Raúl Castro). Die Denkmäler der Städte erzählen von einer zielgerichteten historischen Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1959: vom Schriftsteller José Martí (1853-1895), der als Befreier vom „Joch“ der spanischen Kolonialherrschaft verehrt wird, bis hin zu Fidel Castro, in dem die Revolution ihre glanzvolle und letztgültige Vollendung gefunden hat. Nein, die Stadt ist kein Museum und ebenso wenig ein Film, in den man hineingeraten ist, wenngleich man die surrealistischen Aspekte dieser Wirklichkeit nicht übersehen kann. Das ist Kuba 2013: 55 Jahre nach dem „Triumph der Revolution“ - wie man auf der Insel zu sagen pflegt.
1. Gespräche auf der Straße1. Die Menschen, die man auf Kubas Straßen trifft, sind erstaunlich gut gelaunt. Liegt das an dem angenehmen Klima? Dasselbe politische System und dieselbe ökonomische Lage unter schwedischen Wetterverhältnissen - das Ganze wäre unerträglich. Aber sobald man mit einem Kubaner ins Gespräch kommt, erzählt er von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten: von Löhnen, von denen niemand leben kann (zehn bis zwölf Dollar im Monat), und die während der letzten 20 Jahre kaum gestiegen sind, während die Preise 20 Prozent in die Höhe schossen; von zwei Währungen, dem alten peso nacional (CUP) und dem neuen, am Dollar orientierten peso convertible (CUC); davon, dass immer weniger Waren des täglichen Bedarfs auf Lebensmittelkarte zu haben sind, die sicherstellt, dass man überlebt - mehr aber auch nicht; davon, dass immer mehr Dinge für teure CUC gekauft werden müssen.
Ohne fe (span. für „Glauben“) - eine Abkürzung für familia extranjera („Familie im Ausland“) -, so scherzen sie, kann man kaum überleben. 800 Millionen Dollar werden Jahr für Jahr von Exilkubanern aus den USA nach Kuba überwiesen. Besucht man einen Rentner, der keine fe hat, oder ein Altersheim, fährt einem der Schrecken in die Glieder: Es sind wie immer die Alten, die am härtesten getroffen werden. Dennoch berichtet man von der Solidarität der Menschen, davon, dass man einander so gut wie möglich hilft.
Ein Kubaner fragt gern, ob man sie kennt: La Virgen de la Caridad del Cobre (Unsere Liebe Frau von Cobre), die die unumstrittene Königin der Kubaner ist - unabhängig von Religions- oder Parteizugehörigkeit. Ja, die Kubaner sind religiös! Nicht notwendig katholisch, christlich oder gottgläubig - aber religiös sind sie. Wenn man versucht, über Politik zu sprechen, sind sie weniger redselig. Gespräche solcher Art scheinen nichts für die Straße zu sein - und schon gar nicht mit Leuten, die man kaum kennt.
2. Vom Leben im Paradies. In den Schlüsselpositionen des Landes sitzt immer noch die alte Garde: fast ausschließlich Männer, die vor Jahrzehnten für den „Triumph der Revolution“ gekämpft haben. Dass das System weiterhin am Leben ist, hat viel mit einer engstirnigen US-amerikanischen Politik zu tun, vor allem mit dem Wirtschaftsembargo, das das revolutionäre Kuba in die Arme der UdSSR trieb. Als die Revolution „triumphierte“, war die Situation ideologisch offen. Bis heute dienen die USA als Drohkulisse, als Feind, der das Volk zusammenschweißt. Es gibt wohl kein Land der Welt, in dem die Medien so ausführlich über die „imperialistische“ Politik der USA und dessen ungerechte Lebensverhältnisse berichten. In fast jeder TV-Sendung gibt es mindestens einen Seitenhieb auf den Nachbarn im Norden. Das Embargo ist eine willkommene Entschuldigung für Probleme aller Art, die natürlich „nicht systembedingt“ sind. Nein, denkt der Zuschauer, es gibt eigentlich keine Probleme. Alles könnte ohne das Embargo eben nur noch besser sein!
Beim Nachrichtenschauen bekommt man den Eindruck, im Paradies zu leben: keine schlechten Meldungen über Kuba. Auf der Insel geht alles aufwärts: die Zuckerrohr- und Reisernte, der Krankenhaus- und Ausbildungssektor. Venezuela ist natürlich auch ein Teil des Paradieses. Dessen verstorbener Präsident Hugo Chávez Frías war ein treuer Sohn von Fidel und begann in den 90ern, jeden Tag 90 000 Barrel Öl zu liefern: Öl, ohne das die Lichter auf Kuba ausgehen und eine der wichtigsten Einnahmequellen (Export von raffiniertem Öl) versiegen würde. Das geschah zu der Zeit, die die Kubaner euphemistisch periodo especial nennen, als Kuba nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa seinen wichtigsten Handelspartner, Öl- und Lebensmittellieferanten UdSSR verlor. Die ganze Bevölkerung litt stark unter den Konsequenzen, die ihr bis heute in den Knochen sitzen. Als sich die Nachricht vom Tod von Chávez verbreitete, trauerte man nicht so sehr um den größten Präsidenten des Bruderlandes, sondern machte sich vor allem Sorgen um die eigene Zukunft.
3. Wer nicht mitmacht … Politische Gespräche sind ein heikles Thema. Man kann nie sicher sein, ob man nicht mit einem Informanten der Sicherheitsdienste oder einem übereifrigen Parteimitglied mit „echter“ Revolutionsgesinnung spricht. In jedem Viertel gibt es ein Comité de Defensa de la Revolución (CDR: Komitee für die Verteidigung der Revolution), das über die revolutionäre Orthodoxie und Orthopraxie der Mitbürger wacht. Viele Menschen haben weiterhin Angst: vor willkürlichen Verhaftungen und öffentlichen Verleumdungen; dass die Kinder oder man selbst Schwierigkeiten in der Ausbildung oder am Arbeitsplatz bekommt; vor dem „spontanen“ Volkszorn, der vor den Häusern von „Abweichlern“ und „Verrätern“ organisiert wird, um diese lauthals zu verunglimpfen - bis hin zu Handgreiflichkeiten.
Rosa2, eine Frau in den Fünfzigern, ist eine von denen, die regelmäßigen Einschüchterungsmaßnahmen des Regimes ausgesetzt sind. Sie gehört zu der Organisation der sogenannten <i („Damen in Weiß“), die 2003 nach dem „Schwarzen Frühling“ gegründet wurde. Das Regime hatte seinerzeit 75 Regimekritiker verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Rosa und ihre Freundinnen begannen, sich in Weiß zu kleiden, zu Gerichten und Behörden zu ziehen und jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, wo sie still gegen das Regime und für die Freilassung der Gefangenen protestierten.
2011 wurden die letzten Gefangenen freigelassen, nicht zuletzt durch die Vermittlung von Kardinal Jaime Ortega, dem Erzbischof von Havanna. Wenn man Rosa zusammen mit anderen Oppositionellen bei ihr zuhause trifft, muss alles unter Geheimhaltung geschehen. Der offizielle Grund für den Besuch des Priesters ist die Krankenkommunion und Krankensalbung ihrer betagten Mutter. Auf Kuba gibt es keine Versammlungsfreiheit. Politische, in den Augen des Regimes konspirative Treffen sind streng verboten.
Der größte Reichtum des Landes sind seine Menschen, die mutige Schar derer, die trotz des hohen persönlichen Preises, den sie zahlen müssen, nicht aufhören, sich für ein freies und demokratisches Kuba zu engagieren. Ein Systemwechsel, sagen jene, die sich trauen, kann nur von unten wachsen.
3. Die Lage der Kirche. Was die Kirche angeht, erinnern sich die Älteren in Colón, einer Kleinstadt im Inneren des Landes, dass während der schwierigsten Jahre nur neun Gläubige zur Sonntagsmesse kamen. Einer der beiden Weihbischöfe in Havanna, der Jesuit Juan de Dios Hernández Ruiz, bestätigt dies und fügt hinzu, dass viele in den 70ern glaubten, die Kirche würde aussterben. Dabei hatten kirchliche Kreise und die Mittelklasse die Revolution am Anfang unterstützt und gefördert. Fidel war Schüler am Jesuitenkolleg in Havanna (Colegio Belén) und hat immer noch Fotos von Jesuiten und von der Hauskapelle des Kollegs auf seinem Zimmer. Er spricht anerkennend von den Jesuiten und der Ausbildung, die er bei ihnen genossen hat.
Mit der ideologischen Neuorientierung Anfang der 60er Jahre allerdings schloss oder verstaatlichte man alle kirchlichen Einrichtungen. Viele Ordensschwestern und Priester waren gezwungen, das Land zu verlassen; andere verließen es freiwillig - vor allem Spanier, die befürchteten, die Geschichte des spanischen Bürgerkrieges mit Hunderten von ermordeten Priestern und Schwestern könnte sich in einem kommunistischen Kuba wiederholen. Die Gläubigen, die in der Kirche blieben, waren fast ausschließlich ältere Frauen. Kirchlichkeit war nicht gerade empfehlenswert für jene, die studieren oder eine Berufskarriere machen wollten. Der Weihbischof erzählt, dass sich die Kirche während jener Jahre wie eine Schnecke in ihr Haus zurückzog. Sie überwinterte, ohne die neuen Verhältnisse zu akzeptieren. In vielen Gemeinden ist das Bild weiterhin von den Älteren geprägt, oft von einer Großmutter mit ihren Enkeln. Die Zwischengeneration, jene, die in den 60ern, 70ern und 80ern aufwuchsen, gehört zu der für die Kirche „verlorenen“ Generation. Sie wurden am stärksten indoktriniert und bekamen die Folgen für ihr abweichendes Verhalten am härtesten zu spüren. Wenn man heute an einer Sonntagsmesse in Colón teilnimmt, ist die Kirche mit 300 Gläubigen gefüllt.
Was ist geschehen? Ein erster Schritt aus der Isolierung war ein nationales Kirchentreffen im Jahr 1986 im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Kirche öffnete sich vorsichtig, verließ die Sakristei, gewann Selbstvertrauen zurück und versuchte, mit der Regierung Kontakte zu knüpfen. Das Tauwetter zwischen Staat und Kirche setzte definitiv mit dem Besuch Johannes Pauls II. auf Kuba 1998 ein. Dieser Besuch markierte den Beginn einer vorsichtigen Annäherung und Zusammenarbeit. Viele, die der Kirche den Rücken zugewandt hatten, kehrten nun zurück. Nach dem Papstbesuch setzte eine Welle von Erwachsenentaufen und Konversionen ein.
So schön das klingt, brachte es doch auch schwer lösbare Konflikte mit sich. In Colón sitzen in der Sonntagsmesse auch die Damas de Blanco, Mitglieder der Kommunistischen Partei Kubas und ehemalige Informanten: die Treuen, die ausgeharrt haben, und die Neuen, die zurückgekommen sind. Unter den 300 befindet sich immer ein ziviler Mitarbeiter der Sicherheitsdienste, der vor allem den Priester überwacht. Der Kurs von Kardinal Ortega, der auf eine vorsichtige Annäherung ans Regime setzt und Kontakte mit ihm pflegt (vor allem mit Raúl Castro), ist nicht unumstritten. Was ist richtig, was ist falsch? Verkauft er die Kirche für billige Gunsterweise? Oder trägt er zu einer langsamen Veränderung der Verhältnisse bei? Versöhnung dürfte die größte Herausforderung der Zukunft sein - nicht nur in der Kirche, sondern in der gesamten Gesellschaft.
4. Die menschlichen „Kosten“. Dass Kuba kein Museum ist, wird am deutlichsten nicht nur am wirtschaftlichen Niedergang, sondern auch an den menschlichen „Kosten“, über die die Aufmerksamen im Land berichten: Der Kubaner hat kein Zuhause, keine Kindheit, keine Eltern. Von Kindesbeinen an lebt er in staatlichen Institutionen (Kindertagesstätte, Schule, Militär), in denen Menschen systematisch in ihrem Selbstwertgefühl gekränkt werden. Diese anthropologische Degradierung wird durch die Armut und den Mangel an allem verstärkt. Die Organisation des Alltags ist so zeitraubend, dass es keine Zeit für anderes gibt, am allerwenigsten für politisches Engagement. Viele haben den Sinn für Eigentum verloren, für Mein und Dein. Um ein wenig nebenher zu verdienen - ohne das geht es kaum, will man einigermaßen über die Runden kommen -, lässt so mancher Dinge am Arbeitsplatz in den staatlichen Unternehmen, Hotels, Krankenhäusern oder Behörden mitgehen: Papier, Reinigungs-, Lebensmittel, technische Ausrüstung, Kleider. Am härtesten werden dadurch wieder die Alten getroffen. Seife, Medizin und Kleider, die Angestellte eines Altenheimes mitgehen lassen, stehen eben nicht mehr für jene zur Verfügung, für die sie gedacht waren.
Bis 1959 war Kuba ein wohlhabendes Einwandererland. Seitdem hat es sich in ein Auswandererland verwandelt: Wer kann, geht. Mehr als eine Million Kubaner leben im Ausland, vor allem in Miami. Familien werden auseinandergerissen. Junge, gut ausgebildete und dynamische Menschen verlassen das Land, in dem sie keine Zukunft für sich sehen. Die Auswanderung zusammen mit einer niedrigen Geburtenrate hat Kuba zu einer stark alternden Gesellschaft verwandelt. Die allgegenwärtige Polizei und der Überwachungsapparat haben viele zu misstrauischen, ängstlichen Menschen gemacht. Die Situation ist von Unsicherheit geprägt: Rechtssicherheit gibt es nicht, die Entscheidungen des Regimes und der Behörden sind willkürlich.
Für Hernández Ruiz besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche darin, die Menschen wieder zu humanisieren: Respekt für andere und das Eigentum anderer zu vermitteln, Vertrauen zu schaffen und so zu ermöglichen, freimütiger zu sprechen, für ihre Überzeugung einzustehen und Respekt für andere zu zeigen.
5. Die Zukunft? Fragt man einen Kubaner: „Wie sieht das Land in zehn Jahren aus?“, bekommt man immer dieselbe Antwort: „Das weiß niemand.“ Es gibt vorsichtige Versuche einer ökonomischen Öffnung. Raúl Castro wird als weniger ideologisch und pragmatischer als sein großer Bruder Fidel angesehen. Er hat sogar von seinem Abgang gesprochen (dann wäre er 85 Jahre alt) und einen möglichen Nachfolger erkoren. Aber das politische System will er nicht verändern, und, so kann man vermuten, viele andere auch nicht, besonders jene, die viel zu verlieren haben.
Nein, man befindet sich nicht in einem Museum, wenn man auf Kuba zu Besuch ist oder lebt. Aber die Insel gleicht in vielem einem Klavier, auf dem man nur eine Saite anschlägt. Und diese Saite hat man nun über 50 Jahre angeschlagen, als ob es keine anderen Töne gäbe. Im Land herrschen Wiederholung und Monotonie. Dennoch gibt es Menschen, die von der ganzen Tonskala träumen - trotz allem. Dass so viele weiterhin von einem vielstimmigen Musikstück träumen, gibt Hoffnung.
1 Der in Stockholm arbeitende Autor lebte von September 2012 bis März 2013 auf Kuba.2 Name anonymisiert.