"Man kann voraussagen, dass im nächsten Jahrhundert die Pfingstbewegung in Lateinamerika sehr einflussreich sein wird. Es lässt sich jedoch nicht absehen, welche Richtung dieser Einfluss einschlagen wird, weil sich die Pfingstbewegung ändern wird, wenn sie die Mitte der Gesellschaft erreicht" - so eine bereits 1991 formulierte These des US-amerikanischen Theologen Donald W. Dayton, Chair der Sektion für evangelische Theologie in der American Society of Religion1. Die in den letzten Jahren auch in Deutschland veröffentlichten jüngeren Statistiken zur Religionszugehörigkeit und Veränderungen in der weltweiten religiösen Landschaft, wie sie im von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Religionsmonitor deutlich werden, aber auch in den deutschen Übersetzungen der Publikationen des Historikers und Religionswissenschaftlers Philipp Jenkins und des in Rom tätigen Journalisten John L. Allen, weisen auf das erhebliche Anwachsen der Pfingstbewegung weltweit hin2.
Pfingstbewegung auf dem Vormarsch
Eine halbe Milliarde Menschen weltweit sollen zu Pfingstgemeinden bzw. pfingstlerisch geprägten Kirchen gehören, davon die meisten in Afrika und Lateinamerika. Sicher sind Zahlen gerade in Lateinamerika nicht leicht zu erheben; in den meisten Ländern werden staatlicherseits keine Erhebungen über die Religionszugehörigkeit vorgenommen, und Schätzungen in Pfingstgemeinden unterliegen erheblichen Schwankungen. Von 60 Millionen Menschen ist die Rede, die bereits jetzt pfingstlerisch geprägten Gemeinden angehören; für das Jahr 2025 wird eine Zahl von 44 Prozent prognostiziert3. Wenn diese Zahlen genannt werden, so sind dabei nicht allein die vielen jungen Pfingstgemeinden im Blick, die im Zuge der Ausdifferenzierung des Pentekostalismus in Lateinamerika vor allem seit den 1980er Jahren entstanden sind, sondern pfingstlerische bzw. charismatische Ausprägungen des Protestantismus und vor allem auch des Katholizismus in Lateinamerika.
Es ist, so der Lateinamerika-Experte und Adveniat-Mitarbeiter Michael Huhn, von einer Pentekostalisierung des Christentums und auch des Katholizismus die Rede, der Ausbildung einer neuen "Grundgestalt" christlichen Glaubens4. Der protestantische Theologe und Religionssoziologe Heinrich Wilhelm Schäfer, seit vielen Jahren mit empirischen Studien zur Veränderung der religiösen Lage in Brasilien und Mittelamerika befasst, spricht gar von der Ausbildung eines neuen religiösen "Stils", der nicht nur das Christentum erfasst, sondern in gleicher Weise auch andere Religionen tangiert5.
Religiöse Erfahrungen, ein stärkeres Ansprechen von Emotionen, eine Nähe zu Psychotherapien, zu Heilungsprozessen, ein offener und öffentlicher Umgang mit "Bekehrung", mit dem direkten Einfluss religiöser Haltungen und Entscheidungen auf persönliche, familiäre, berufliche oder gesellschaftliche Entwicklungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite ein neues "Inszenieren" dieses Stils in Medien, in ein großes Publikum ansprechenden TV-Sendungen und Talk-Shows, aber auch in Politik und den Werbestrategien politischer Parteien bei Wahlkampagnen zeichnen diese "Pentekostalisierung" aus und machen diese Veränderungen des religiösen Szenarios nicht nur im Innenraum der Religionen und Konfessionen bedeutsam, sondern gerade auch für politikwissenschaftliche Analysen. Religionen sind im Zuge der Globalisierungsprozesse und der Veränderungen der politischen und kulturellen Gewichte in der Weltgesellschaft neu in den Blick gekommen und die "klassische" mit den Modernisierungsprozessen übereingehende Säkularisierungsthese ist auf den Prüfstand gestellt6.
Eine globale religiöse Pluralisierung
Sicher ist die bereits in den 90er Jahren formulierte These von Samuel P. Huntington eines clash of civilization zu Recht kritisiert worden, sind Religionen angesichts der Migrations- und Globalisierungsprozesse eben nicht mehr allein an spezifische Kulturräume zu binden; auch in traditionellen christlichen Kulturräumen sind der Islam und die Religionen des Ostens neu präsent und in einem Kontinent wie Lateinamerika, vor Jahren noch scheinbar fast selbstverständlich als "der" katholische bezeichnet, kommt es zu einer neuen religiösen Pluralisierung, die für die katholische Kirche, so die religionssoziologischen Thesen, den Verlust eines "Monopols" bedeutet.
Im groß angelegten Forschungsprojekt der American Academy of Arts and Sciences, an dem Forscher internationalen Renommees beteiligt sind wie Jürgen Habermas und Shmuel Eisenstadt, wurde im Besonderen das Augenmerk auf die stabilisierende oder destabilisierende Rolle von Religionen im Zuge des Austarierens neuer politischer Gleichgewichte gelegt und vor allem die Gefährdung einer "Fundamentalisierung" der Religionen benannt7. Gerade in diesem Zusammenhang und zur Klärung der "Vorurteile" einer fundamentalistischen Identifizierung der Pfingstbewegung liegt das Verdienst der religionssoziologischen Studien zur Pfingstbewegung in Lateinamerika, die in den letzten zwei Jahrzehnten angestoßen worden sind und die in jüngerer Vergangenheit über differenzierte und vor allem auch anthropologische und ethnologische Aspekte einbeziehende Feldforschungen weiter entfaltet worden sind8. Erst auf diesen Wegen kann die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts von Jean-Pierre Bastian, einem der großen Forscher zur lateinamerikanischen Pfingstbewegung, formulierte These widerlegt werden, dass der Pentekostalismus eine "amerikanische Störung auf einem traditionellerweise normativ katholischen Kontinent"9 sei - ein gerade auch von katholischer und befreiungstheologischer Seite aufgegriffener Gedanke, dass die Pfingstkirchen nichts anderes als von den USA gesteuerte Sekten zur Unterminierung der sozialistischen und marxistischen Befreiungsbewegungen gegen die autoritären und diktatorischen Regime der 60er und 70er Jahren gewesen seien. Ob demgegenüber heute gesagt werden kann, der Pentekostalismus sei "die erste völlig autonome Bewegung von unten", darf sicher in dieser Apodiktik wiederum auch angefragt werden10.
Es ist bezeichnend, aber auch nicht erstaunlich, dass die jüngeren religionssoziologischen Arbeiten zur "Pentecostal Power" in Lateinamerika von mit dem Protestantismus bzw. der Pfingstbewegung selbst verbundenen Wissenschaftlern vorgelegt worden sind, zumeist sogar in Verbindung mit Forschungsinstituten in den USA oder Europa. Die auch einen größeren Kreis erreichende zusammenfassende Studie von David Martin ("Tongues of Fire"), ist in Verbindung mit dem von Peter L. Berger geleiteten Institute for the Study of Economic Culture (ISEC) in Boston entstanden11; Jean-Pierre Bastian war an der protestantisch-theologischen Fakultät der Universität Marc Bloch in Strasbourg tätig und ist Directeur de recherches des Doktoratsprogramms "Europe latine - Amérique latine" am Institut des Hautes Etudes de l’Amérique Latine der Sorbonne12; im deutschen Kontext hat der Theologe und Religionssoziologe Heinrich Wilhelm Schäfer, heute an der Universität Bielefeld tätig, umfassende Untersuchungen zur Pfingstbewegung in Lateinamerika vorgelegt, auf dem Hintergrund von Feldforschungen in Brasilien und Mittelamerika13.
Erst in den letzten Jahren befassen sich auch in breiterem Ausmaß der katholischen Kirche nahestehende Sozialwissenschaftler mit dem Phänomen des Pentekostalismus, wie zum Beispiel der chilenische Soziologe Cristián Parker oder das in Buenos Aires angesiedelte und von der Historikerin Claudia Touris moderierte Netzwerk RELIGAR (Grupo de Trabajo de Religión y Sociedad en la Argentina Contemporánea) zu Religion und Gesellschaft in Argentinien; seit ihrer Gründung im Jahr 1985 promoviert die in Brasilien verankerte SOTER - Sociedad de Teología y Ciencias de la Religión - religionssoziologische und religionswissenschaftliche Studien und hat zu einer interdisziplinären Öffnung der katholischen Theologie in Brasilien, vor allem bei den aus der Befreiungstheologie erwachsenen Ansätzen, beigetragen. Doch von Ausnahmen abgesehen - so zum Beispiel dem in Porto Alegre lehrenden Kapuziner Luiz Carlos Susin - sind in der katholischen Kirche Lateinamerikas das neue Phänomen einer "Pentekostalisierung" des Christentums und damit auch die für den Katholizismus verbundenen Veränderungen bislang kaum berücksichtigt.
Eine innere Umstrukturierung des Christentums?
Seit 1972 werden zwar auf einer offiziellen Ebene theologische Gespräche zwischen der Pfingstbewegung und dem Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen geführt, und auch in Lateinamerika ist es 1998 zu einer Konferenz zwischen katholischen Priestern und Pastoren der Pfingstkirchen gekommen, die der CELAM (Consejo Episcopal Latinoamericano) zusammen mit dem CLAI (Consejo Latinoamericano de Iglesias) organisiert hat14.
Aber erst sehr langsam werden Pfingstkirchen und -gemeinden auf katholischer Seite nicht mehr als "Sekten" wahrgenommen. Vor allem fehlt das Bewusstsein, dass das rasche Anwachsen der Pfingstbewegung in den letzten Jahrzehnten und ihre große Ausdifferenzierung die katholische Kirche nicht nur aufgrund der Abwanderung von Katholiken und vor allem Katholikinnen zu Pfingstgemeinden betrifft, sondern dass das Wachsen der Pfingstbewegung in allen Ländern Lateinamerikas, vor allem in Brasilien und Mittelamerika, Ausdruck einer konfessionsübergreifenden Veränderung des religiösen "Stils" ist.
Der "Einbruch" der evangelikalen, pfingstlerischen und charismatischen Bewegungen in einen zutiefst "katholischen" und von einer "barock-katholischen" Frömmigkeit geprägten Kontinent wird von Heinrich Schäfer in seiner Studie für den von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Religionsmonitor als Prozess einer "inneren Umstrukturierung der christlichen Religion" in Lateinamerika charakterisiert, der mit den den lateinamerikanischen Kontinent zeitversetzt tangierenden Transformationsprozessen der Moderne übereingeht, auf die die katholische Kirche nicht entsprechend zu reagieren vermocht habe15. In der weiten geschichtlichen Perspektive ihres 2000-jährigen Bestehens hat sich die Kirche immer wieder neu als global player erweisen können, gerade angesichts einer beeindruckenden Inkulturationsfähigkeit. Das neue Phänomen des Pentekostalismus stellt darum gerade diese Fähigkeit auf den Prüfstand und wird darum auch zu einer Bewährungsprobe für das "Ankommen" der katholischen Kirche in der Moderne und das Werden der "Welt-Kirche" auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
Dabei bedeutet dies gewiss nicht eine kritiklose Einschätzung dieses neuen Phänomens, wie es in religionssoziologischer Perspektive vielfach der Fall ist. Dialog, Ökumene und ein neues Verständnis von Mission stehen im Gespräch mit Pfingstgemeinden an, aber sie können vielleicht in einem guten ökumenischen Geist auch ein kritisches Bewusstsein in der Pfingstbewegung entwickeln helfen, vor allem angesichts der Gefahr religiösen "Wildwuchses" und missbräuchlicher fundamentalistischer Bibeldeutungen in einigen evangelikalen Gemeinden und neuen neopentekostalen Kirchen, vor allem den "Mega-Churches".
Gerade die katholische Kirche kann und muss hier ihre lange theologische Reflexion einbringen: Religions- und Kirchenkritik gehören zum Selbstvollzug einer religiösen Bewegung. Darum ist auch die zitierte These der stärkeren Modernitätsfähigkeit des Protestantismus angesichts der Entwicklungen in Lateinamerika und der "Qualität" der hier anzutreffenden Moderne zu hinterfragen. Viele neopentekostale Kirchen und "Mega-Churches" laufen "externen" Trends einer kapitalistischen Moderne und medialen Inszenierung vermeintlicher "moderner" Bedürfnisse nach, die der in São Paulo tätige Missionswissenschaftler Paulo Suess als "Versatzstücke einer sogenannten Postmoderne" und "Regression in die Vormoderne" beschrieben hat. Die hier gelebte oder besser "erlebte" Religiosität reiße den Menschen in den Strudel eines von "Kapital und Politik ausgetragenen Sozialdarwinismus", in der dieser "sein Spielchen der Entsolidarisierung" leichter "abwickeln" könne "als in traditionsgefestigten und institutionell eingebundenen Gemeinden von Glaubenden"16. Darum warnt Suess davor, sich zu früh zu freuen über diese
"neue Konfiguration des Religiösen, das nicht nur ohne institutionelle Einbindung, also ohne den Versuch einer organisierten und immer auch prekären institutionellen Brüderlichkeit und Solidarität auskommt, sondern vielleicht sogar ohne den Anspruch auf Erlösung, oder das eben diesen Anspruch entweltlicht, transzendentalisiert, spiritualisiert und dadurch zur humanen Irrelevanz verkommen lässt"17.
Wenn im Folgenden ein - sicher Fragment bleibender - Blick auf die Entwicklung der Pfingstbewegung in Lateinamerika gerichtet wird, so werden diese Herausforderungen und die Anfragen an die Rolle der katholischen Kirche als global player in einer sich rasant verändernden Welt und an ihre Inkulturationsfähigkeit im Hintergrund stehen.
Ausdifferenzierung des Protestantismus - Entwicklung der Pfingstbewegung
Auch wenn in jüngsten Studien wie denen von Rudolf von Sinner und Timothy Steigenga18, die auf empirische Untersuchungen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas zurückgehen, darauf hingewiesen wird, dass das rasante Anwachsen der Pfingstbewegung - vor allem von evangelikalen Gruppen und den großen "Mega- Churches" neo-pentekostaler Prägung - abflaut und die Wanderungsbewegungen von der katholischen Kirche zu Pfingstgemeinden abnehmen, so hat das Anwachsen der Pfingstbewegung in den letzten Jahrzehnten - in Brasilien zum Beispiel wurden im Jahr 2000 16 Prozent Protestanten gezählt, nur acht Jahre später bereits 24, und in Guatemala ist der Anteil der Protestanten in diesem kurzen Zeitraum von 29 auf 38 Prozent angestiegen19 - das Aufbrechen der religiösen Dominanz des Katholizismus in Lateinamerika bedeutet und damit, so die religionssoziologischen Untersuchungen, den Verlust einer religiösen "Monopolstellung".
Gerade darum birgt dieser Umbruch viele Fragen, die noch lange nicht aufgearbeitet sind. Sicher ist in einem ersten Schritt zu klären, wen dieser Zuwachs genau betrifft und wo er anzutreffen ist. Protestantische Theologen und Religionswissenschaftler wie Heinrich Schäfer unterscheiden zwischen dem Protestantismus in Lateinamerika, den Pfingstkirchen, dem Neo-Pentekostalismus und evangelikalen und charismatischen Gruppierungen und Denominationen, die vor allem seit den 80er Jahren entstanden sind, oftmals aus Abspaltungen aus bereits in den lateinamerikanischen Ländern angesiedelten pentekostalen und neopentekostalen Kirchen. Die Ansiedelung des Protestantismus in Lateinamerika ist - von Ausnahmen wie Brasilien oder Chile abgesehen20 - erst ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, das mit der Migration aus den industrialisierten Zonen oder verarmten ländlichen Gebieten in Europa verbunden ist. Diese - protestantischen, aber auch anglikanischen, presbyterianischen oder methodistischen - Gemeinden sind nicht in einem größeren Ausmaß gewachsen. Sie pflegen gute Beziehungen zur katholischen Kirche, eine - theologisch vielleicht nicht bedeutende, aber in der Praxis lebendige - Ökumene ist mehr oder weniger ausgeprägt. Auch haben diese Gemeinden ähnliche Prozesse einer "Inkulturation" christlichen Glaubens durchlaufen wie der Katholizismus, und die katholischen Befreiungstheologien haben in ihrer Entstehungsgeschichte wichtige Anregungen von protestantischen Kollegen wie Rubem A. Alves und José Miguel Bonino erhalten.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, unmittelbar nach den Gründungsimpulsen, die die evangelischen Prediger Charles Fox Parham und William J. Seymour gegeben haben und die als "Azusa-Street-Revival" in die Geschichte eingegangen sind, konnten sich in Lateinamerika Pfingstkirchen ansiedeln; 1909 wurde in Chile die Iglesia Metodista Pentecostal gegründet, die bis heute größte Pfingstkirche in Chile; 1911 in Brasilien - vor allem unter Emigranten, zunächst im Nordosten, dann in São Paulo - die Assambleia de Deus, die - wie auch in anderen Ländern - aus der Misión Sueca libre erwachsen ist; daraus ging dann die unabhängige Kirche Brasil para Cristo hervor, die 1953 von Manuel Mello gegründet wurde; die unabhängige Congregação Cristão ist seit 1910 in Brasilien angesiedelt. Ebenso sind Pfingstkirchen in Bolivien oder Mexiko seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts anzutreffen21.
Der chilenische Pastor und Religionswissenschaftler Juan Sepúlveda weist darauf hin, dass diese Kirchen in Lateinamerika gewachsen und auch in der Kultur verankert sind; sie hatten vor allem in ländlichen und verarmten Gebieten Erfolg in ihrer Missionierung - vor allem in Gegenden, in denen aufgrund des Priestermangels oder einer fehlenden Präsenz von Ordensgemeinschaften keine entsprechende Seelsorge vonseiten der katholischen Kirche gewährleistet werden konnte.
In Abspaltung von diesen bestehenden Pfingstkirchen, aber auch durch Gründung von neuen Gemeinden und Kirchen im Zuge eines wachsenden missionarischen Engagements von US-amerikanischen evangelikalen Gruppen seit den 60er Jahren in Lateinamerika sind in einer dritten Bewegung die sogenannten "neopentekostalen" Gemeinden entstanden. Schäfer und andere unterscheiden dabei zwischen den "evangélicos" und den "neopentecostales", wobei die Grenzen nicht einfach festzulegen sind; zu den "evangélicos" zählen in den USA verankerte missionarische Bewegungen wie das Summer Institute of linguistics; zu den neopentekostalen Kirchen zum Beispiel die 1962 gegründete Igreja Pentecostal Deus é Amor oder die 1977 von Edir Macedo Bezerra gegründete Igreja Universal do Reino de Deus, die beide seit den 70er Jahren sehr stark gewachsen sind, sich auch in anderen lateinamerikanischen Ländern ausbreiten und darüber hinaus missionarisch tätig werden im afrikanischen und europäischen Raum. Gerade diese Kirchen haben sich zu Mega-Churches entwickelt; es sind riesige Kirchenanlagen gebaut worden, die mehr als 40 000 Menschen fassen können. Durch den Kauf von Radiostationen und Fernsehkanälen haben diese Kirchen eine große Reichweite und sind auf dem Markt der neuen Medien präsent. Neueste Marketingstrategien, der Ankauf von Immobilien und das hohe finanzielle Engagement der Mitglieder tragen zu einem immensen finanziellen Potenzial dieser Kirchen bei.
Nicht mehr nur eine "Religion der Armen"
Die Pfingstbewegung ist so auch in der oberen Mittel- und der Oberschicht angekommen. Sie etabliert sich als einflussreiche Bewegung nicht nur über die Medien, sondern in den Medien, in Politik und Wirtschaft; sie hat hier zur Veränderung der politischen Diskurse beigetragen. "Bekehrung", aber auch die Betonung von Heil und Heilung, der Gebrauch der Dualismen von gut und böse, die Rede von "guten" und "bösen" Geistern und der unmittelbare Einfluss "höherer" Mächte auf menschliches Wirken werden hier zu säkularen Größen22.
Aber auch weiterhin versteht sich der Pentekostalismus als "Religion des Überlebens"23; in den großen Armutszonen der weiter wachsenden "arrival cities" der lateinamerikanischen Metropolen und Mega-Cities, aber auch auf dem Land haben sich Pfingstgruppen seit den 80er Jahren weiter "etablieren" können und hier ein großes Wachstum erfahren, gerade auch in Ländern wie Argentinien, in denen die Pfingstbewegung sich noch nicht "etabliert" hatte. Studien zu den Iglesias pentecostales autónomas de barrio im "partido" San Fernando, einer von circa 150 000 Menschen bewohnten Randzone von Gran-Buenos Aires, machen deutlich, dass das Wachstum der Wanderbewegung hin zu den Pfingstgemeinden in Momenten der Wirtschaftskrise stark war und ist, in anderen Zeiten wiederum rückläufig24.
In den Armutszonen entstehen durch regelmäßige Abspaltungen immer weitere "Kongregationen": also kleinere, oftmals auf Hausgemeinschaften beschränkte Pfingstkirchen, in denen intensives, durch starke Emotionalität geprägtes Glaubensleben mit der Unterstützung und Anerkennung durch eine Gemeinschaft verbunden ist. Die Befreiung, die Menschen hier vor allem als Heilung erfahren, hat mit persönlichem und familiärem Wachstum zu tun; Bindung an die Gemeinde wird über enge, emotional geprägte Beziehungen und flache Hierarchien geschaffen, so zeigen es Untersuchungen in Pfingstgemeinden in Armenvierteln in Cochabamba - vor allem auch, weil das Evangelium, das verkündet wird, von einem Gott spricht, der den mit Wohlstand belohnt, der ein guter Christ ist25.
In Ländern wie Argentinien, Paraguay, Venezuela und Bolivien, in denen die Pfingstbewegung kaum vertreten war, konnte sich diese vor diesem Hintergrund in den 80er und 90er Jahren verbreiten. So wird im Augenblick in Brasilien und Chile von einem Anteil von 24 Prozent Pfingstlern ausgegangen, in Mittelamerika von elf bis 17 Prozent, in Argentinien ebenso von elf, in Venezuela von sechs, in Bolivien von fünf, in Peru und Mexiko von vier und in Paraguay und Kolumbien von drei Prozent. 75 Prozent der protestantischen Christen in diesen Ländern gehören im Schnitt zu Pfingstgemeinden, wobei der Anteil in Bolivien, Uruguay, Peru und Ecuador dabei weniger als 50 Prozent beträgt, dafür umso höher in Brasilien und Mittelamerika ist26.
In allen Studien wird dabei deutlich: Angesichts der großen Ausdifferenzierung des Pentekostalismus kann dieser nicht mehr allein als "Religion der Armen" bezeichnet werden. Die Pentekostalisierung christlichen Glaubens durchzieht alle Schichten und Klassen, sie ist - wobei hier sicher jeder Fall und jede soziale, kulturelle und politische Situation eigens analysiert werden müsste - gerade auch in indianischen Gemeinschaften anzutreffen; vor allem aber sind es - in allen Schichten, Klassen und Ethnien - Frauen, die in der Pfingstkirche und ihren religiösen Praktiken, die Leib und Seele ansprechen und Heil und Heilung versprechen, ein Mehr an Lebensqualität erfahren.
Inkulturationsfähigkeit
Die Pfingstbewegung und der Pentekostalismus scheinen also in Lateinamerika "angekommen" zu sein; sie haben, so Angelina Pollak-Eltz in einer Studie zur Pfingstbewegung in Venezuela,
"eine große Fähigkeit gezeigt, sich an die Realität und die lokalen Kulturen anzupassen und zu akkulturieren […]. Sie sind zu wirklich authentischen Volksreligionen geworden, die sich in einer gewissen Kontinuität zu den traditionellen Kulturen entwickeln, wobei sie deren Strukturen, Medien und kollektiven religiösen Werten wertschätzen und sich ihrer bedienen und ihren Ausdrucksformen dadurch eine neue Legitimität verschaffen."27
Auch Juan Sepúlveda spricht von der Verankerung der Pfingstbewegung in der lateinamerikanischen Kultur, während der katholische Missionswissenschaftler Paulo Suess auf die Gefahr der "Exkulturation" und eines "exkarnierten" Glaubens hinweist, wie er vor allem in den Mega-Churches gelebt wird. Damit ist die Debatte um die Inkulturationsfähigkeit der Pfingstkirchen eröffnet, und gerade hier hat die katholische Kirche angesichts ihres mit dem Zweiten Vatikanum und auf den Generalversammlungen des lateinamerikanischen Episkopats (CELAM) in Medellín (1968), Puebla (1979) und Santo Domingo (1992) eingeschlagenen Weges einer in die Vielfalt der kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten des Kontinents inkulturierten Kirche etwas zu sagen. Inkulturationsfähigkeit scheidet sich am Kriterium der "Welt", also daran, ob die katholische Kirche sich selbst auf den Weg macht, Welt-Kirche zu werden und darin auf neue Weise - sich selbst bekehrend - missionarisch wird. Unterscheidung der Geister tut hier nach beiden Seiten not. Wenn Heinrich Schäfer auf die "Ablehnung der Welt" hingewiesen hat, die die pfingstliche Weltanschauung charakterisiere und damit auch die "Ablehnung jeder gemeinschaftlichen Bemühung, sie zu verändern"28, so ist diese These sicher nicht auf den Pentekostalismus zu verallgemeinern, aber sie kann als Gefährdung benannt werden, ebenso wie dies eine Gefährdung der katholischen Kirche auf ihren Wegen der Rezeption des Zweiten Vatikanums ist.
So hängen die Motive der "Rekonfiguration der religiösen Landkarte" in den indigenen Gebieten oder bei den Migranten und Migrantinnen in den großen Städten, die Mitglieder von Pfingstgemeinden werden, davon ab, ob die Indígenas von der religiösen Gemeinschaft akzeptiert werden, so Alejandro Castillo Morga, ein Philosoph und Theologe aus Oaxaca. Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, sei es der Pfingstgruppe oder der katholischen Gemeinde, Partizipation und Inklusion sind die entscheidenden Kriterien für eine gelingende Inkulturation - und das ist in Pfingstgemeinden möglich oder nicht möglich, genauso wie es in katholischen Gemeinden möglich ist oder nicht. Castillo Morga vermutet darum, dass die Konversion vieler Indígenas in Oaxaca oder Chiapas zum Protestantismus - hier sind es weniger Pfingstkirchen als "traditionelle" protestantische Gemeinden wie die Presbyterianer, die Anziehungskraft ausüben -, vor allem mit dem Horizont der pastoralen Optionen der Diözesen zu tun habe. Wenn von katholischer Seite Inkulturationsprozesse wie in den Kirchen von Oaxaca und Chiapas gebremst und unterbunden werden, wie etwa die Unterbindung der Weihe von indigenen Diakonen, dann ist genau dies ein Auslöser für den Auszug aus der katholischen Kirche und die Wahl einer neuen Gemeinschaft29.
Pfingstgemeinden und die "Reformation of Machismo"
Ein besonderer Prüfstein für die Inkulturationsfähigkeit der Pfingstbewegung - in gleicher Weise der katholischen Kirche - ist die Frauenfrage. Der Durchschnitts- Pfingstler ist unter 30, nicht so gut gebildet und vor allem weiblich30. Seit den Studien von Elizabeth E. Brusco zu Fragen von Konversion und Gender, die sie unter dem bezeichnenden Titel "The Reformation of Machismo" vorgelegt hat, oder auch den Arbeiten von Cecilia Loreto Mariz zu Frauen in brasilianischen Pfingstgemeinden, wird in religionssoziologischen Publikationen auf diese Frage ein besonderes Augenmerk gelegt31, bezeichnenderweise jedoch noch wenig aus der Perspektive "traditioneller" protestantischer oder katholischer Theologie.
In Pfingstgemeinden wird zwar ein eher klassisches Frauenbild vertreten, Frauen haben ihren besonderen Ort in der Familie, aber eben weil die Familie aufgewertet und neu zum "Zentrum sozialer Beziehungen" gemacht wird, so auch Henri Gooren, kommt es zu einer Aufwertung der Rolle der Frauen; und auch Männern wird der Raum der Familie neu als Ort ihrer Identitätsbildung und -stärkung erschlossen. Gerade auf diesen Wegen kommt es zu einer "Reformation" des "Machismo".
Weil auf diesem Weg doppelte moralische Standards für Männer bzw. Frauen aufgebrochen werden, ist der Pentekostalismus, so Gooren, "gegenwärtig eine der großen sozialen Kräfte in Lateinamerika, die den Machismo entmachten"32. Entscheidende Kraft für diese Veränderung bietet das "empowerment", das Frauen über die neue Glaubensidentität erfahren, das ihnen die Pfingstgemeinden und die stärker erfahrungsbezogenen, emotionalen, Heil und Heilung, Leib und Seele verbindenden Gottesdienste und Gebetszeiten bieten. Die Stärkung und Unabhängigkeit, die sie in der Familie erfahren, eröffnet ihnen aber auch neue Rollen im öffentlichen Raum, und gerade auf diesen Wegen kommt es zu einer Veränderung der Rolle der Frauen und der Männer in der Gesellschaft.
Im Vergleich von Rollen von Frauen in Pfingstgemeinden und Basisgemeinden - Studien, die sicher im Detail erst angestoßen werden müssen - kommt es auf diesen Wegen auch immer mehr zu Annäherungen zwischen charismatischer und befreiungstheologisch ausgerichteter Religiosität. Aus der Stärkung ihrer Rolle nach innen, in Paarbeziehung und Familie, entwickelt sich eine neue öffentliche Rolle von Frauen, die auch mit einem sozialen und politischen Engagement übereingeht. Die aus Geisterfahrung und Geistheilung erwachsene "innere" Befreiung wird zu einer umfassenderen, auch politischen, sozialen und kulturellen Befreiung. Das ist für Frauen in katholischen Basisgemeinden ein entscheidender Impuls, der sie entweder bewegt, die katholische Gemeinde zu verlassen und sich einer Pfingstkirche anzuschließen, zumal in den letzten Jahren auch Frauen hier Führungspositionen übernehmen konnten und nicht nur - wie vor allem in den ersten Jahrzehnten der Pfingstbewegung - "niedere" Dienste ausgeübt haben, oder der helfen kann - aber dazu sind eine weitere ökumenische Offenheit und gemeinsame soziale, kulturelle und politische Projekte notwendig -, den gerade auch katholische Basisgemeinden prägenden "Machismo" aufzubrechen.
Sicher ist der Umgang mit "Autorität" in Pfingstgemeinden kein "abgeschlossenes" Thema und die in den beeindruckenden Thesen von Christian Lalive d´Epinay offengelegten kulturellen "pattern" lateinamerikanischer kultureller und religiöser Identität wirken auch heute noch nach33. Aber in empirischen Studien wird auch immer mehr auf die "dezentralen Strukturen" und "flachen Hierarchien" der Pfingstkirchen aufmerksam gemacht, die "eine ernorme Dynamik entwickeln" und ihnen "Vorteile gegenüber den etablierten religiösen Akteuren" verschaffen:
"Sie können schneller auf sich ändernde Bedingungen reagieren. Die große Durchlässigkeit der Hierarchien verschafft den Kirchen einen konstanten Wirklichkeitsbezug, der sich ebenfalls positiv auf ihre Interaktionsfähigkeit auswirkt."34
Das ist - auch unabhängig von der Frauenfrage - eine entscheidende Herausforderung für die Inkulturationsfähigkeit der katholischen Kirche am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Neue missionarische Wege in ökumenischer Offenheit und befreiungstheologisch orientierter Kritik
Die "Pentekostalisierung" christlichen Glaubens in Lateinamerika ist kein abgeschlossenes Phänomen, und auch ihre Beurteilung bleibt vielschichtig und von Ambivalenzen geprägt35. Die theologische Auseinandersetzung mit den neuen Gestalten einer religiös-unmittelbareren Erfahrung, der Verbindung von Heil und Heilung, aber auch der Nähe zur Konsum- und Medienwelt sowie die Gefahr politischer und ideologischer Vereinnahmungen hat noch nicht eingesetzt. Gerade hier könnte eine stärker ökumenisch ausgerichtete theologische Arbeit, die aus den Erfahrungen schöpft, die Befreiungstheologien und kritische Religionstheorien gesammelt haben, gut tun. Sicher ist aber, dass das neue Phänomen des Pentekostalismus große Herausforderungen für die katholische Kirche bedeutet, nicht nur in einer "Abwehr" nach außen, sondern weil der Pentekostalismus auch die Gestalt des Katholizismus zu verändern beginnt.
Zu einer fundierten Auseinandersetzung gehört sicher zunächst die Einsicht in die Pluralisierung der Religionszugehörigkeit in Lateinamerika und die Pluralität religiöser Erfahrungen innerhalb der katholischen Kirche. Die katholische Kirche hat die verschiedenen Gestalten lateinamerikanischer Volksreligiosität immer geschätzt und auch gepflegt, jedoch zu wenig in die "klassische" theologische Reflexion und pastorale Arbeit einbezogen.
Das Phänomen des Pentekostalismus macht auf die zunehmende Bedeutung religiöser Erfahrung für die Ausprägung der Gestalten des Glaubenslebens aufmerksam; genau diese Erfahrungsdimension muss kirchliche Praxisformen stärker prägen; "empowerment" der Gläubigen und lebendige Gemeinschaften erwachsen genau daraus. Wenn katholische Pastoral in den zunehmend anonymer werdenden Großstädten, Metropolen und Mega-Cities neue Wege gehen will, muss sie die Autonomie und Subjektivität der verschiedenen Glaubenserfahrungen anerkennen. Dabei genügt nicht die Ausprägung eines neuen - den Mega-Churches angepassten - religiösen "Stils", wie er in charismatischen Gemeinden gepflegt wird; die Ausbildung von "bossa-nova-Priestern" à la Padre Rossi ist nicht die Lösung36.
Aber wahrscheinlich gibt es auch keine "Lösungen", sondern nur vielfältige Suchbewegungen auf neuen missionarischen Wegen, in ökumenischer Offenheit und doch kritischer und in diesem Sinn befreiungstheologischer Aufmerksamkeit auf das "Neue", das sich am Horizont abzeichnet und bereits die Herzen vieler berührt. Dazu gehört die Ausbildung von lebendigen Glaubensgemeinschaften, dazu gehört die Anerkennung der Fähigkeiten aller, vor allem der Frauen - und auch eine neue Reflexion auf die Autorität und amtlichen Strukturen der Kirche. Um diese Erneuerung - das zeigen gerade die Studien zum Wachsen der Pfingstbewegung in Lateinamerika - wird die katholische Kirche nicht herumkommen.