Globalisierung der Gleichgültigkeit

Seine erste Reise außerhalb des Vatikans führte Papst Franziskus am 8. Juli 2013 auf die Mittelmeerinsel Lampedusa, die näher am afrikanischen Kontinent liegt als bei Sizilien. Er verbat sich dabei die Anwesenheit von Ministern, Kurienkardinälen oder sonstigen Prominenten. Das Papamobil blieb in Rom, alles war schlicht angelegt, jegliche liturgische oder sonstige Inszenierung unterblieb.

Es ging um ein Zeichen der Solidarität: Der Papst war, wie er sagte, gekommen, um zu weinen mit denen, die auf der Insel, dem Einfallstor Tausender Flüchtlinge und Migranten aus Subsahara-Afrika und dem Maghreb, gelandet sind - und zu weinen über die mehr als 10 000 Menschen, die es nie bis auf die Flüchtlingsinsel mit ihren 4500 Einwohnern geschafft hatten, weil sie unterwegs umkamen. Keine drei Monate später, am 3. Oktober, kenterte ein völlig überfülltes Boot mit mehr als 500 Flüchtlingen, darunter 20 Kinder, auf dem Weg nach Lampedusa: Zunächst war von 100 Toten die Rede, dann waren es 270 Leichen, die geborgen wurden, schlussendlich stieg die Zahl der Toten auf über 300. Europaweit setzte eine Debatte über den humanitären Umgang mit Bootsflüchtlingen ein. Andrea Riccardi, Gründer der Laiengemeinschaft Sant'Egidio und seinerzeit Minister im Expertenkabinett von Mario Monti, setzte sich bei Ministerpräsident Enrico Letta für ein Staatsbegräbnis ein.

Die Worte des Papstes vom 8. Juli bekamen durch die Tragödie vom Oktober noch einmal eigenes Gewicht. Bei einem "Bußgottesdienst" hatte er die "Globalisierung der Gleichgültigkeit" beklagt, die "uns alle zu 'Ungenannten', zu Verantwortlichen ohne Namen und Gesicht" mache. Im Blick auf die unzähligen Namenlosen, die es nie bis Lampedusa geschafft hatten, stellte er fest: "Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen." Das Mittelmeer: ein Massengrab? - Das ist nun fast schon ein halbes Jahr her. Das Leben geht weiter, prekäre humanitäre Situationen gibt es vielerorts auf der Welt, nicht nur jenseits der EU- oder Schengen-Grenzen. Man gewöhnt sich daran. Wirklich?

Wer an den barmherzigen Samariter aus dem Neuen Testament erinnert, daran, dass es auf die Praxis vor der Theorie, das Tun vor der Lehre, die Barmherzigkeit vor dem Gesetz ankommt, gerät schnell in den Verdacht, realpolitisch naiv zu sein. Sind die Toten von Lampedusa "Kollateralschäden": in Kauf zu nehmen, weil ja sonst wieder weitere Flüchtlinge auf EU-Staaten verteilt worden wären und deren Volkswirtschaft belastet hätten? Humanität ja, natürlich - aber bitte nicht in München, Wien, Budapest oder Kopenhagen? Wer ist mein Nächster?

Eine "Globalisierung der Gleichgültigkeit" gibt es auch im täglichen Zusammenleben hierzulande, nicht nur auf Lampedusa. Erwin Teufel hat in seinem Buch "Ehe es zu spät ist" über "Kirchliche Verzagtheit und christliche Sprengkraft" (2013) geschrieben: "Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, dass uns leichter 20 oder 50 Euro aus der Tasche gehen für einen sozialen Zweck, der uns einleuchtet, als eine Stunde Zeit für einen anderen. Aber vielen Menschen ist nicht mit 50 Euro geholfen, sondern nur mit einer Stunde Zeit." Ich empfinde das nicht als Moralisierung. Der langjährige Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg legt den Finger auf die Wunde: Finanzielle Hilfe ist das Eine. Es gibt jedoch auch eine andere Not - auch in der Kirche, selbst in einer Ordenskommunität, die sich, wie Karl Rahner SJ einmal sagte, oft aus "kasernierten Einsiedlern" und Individualisten zusammensetzt: Einsamkeit greift um sich, ein riesiges Bedürfnis nach Interesse und Wohlwollen, nach dem täglichen Brot der Anerkennung, nach echter und nicht gespielter, nur rhetorischer Nähe. Wer als geistlicher Begleiter, Seelsorger oder Beichtvater, als Psychologe oder Therapeut mit diesem Bedürfnis in Berührung kommt, wer sich ihm aussetzt, wird auch mit menschlichen Dramen konfrontiert - manches Suchtverhalten, längst nicht nur Alkohol, hängt damit zusammen. Tendenzen einer stillschweigenden Verrohung der Gesellschaft machen sich breit: Anonymität und Isolation.

"Niemand fragt nach meinem Leben" (Ps 142,5), lautet die Erfahrung des Psalmisten. Im Kontrast dazu erinnern Verse wie Psalm 8,5 oder 139,5 daran, dass Gott die Namen aller Menschen in seine Hand geschrieben hat, dass er jeden Einzelnen beim Namen kennt und mit Namen nennt. Christen müssen sich dessen wieder und wieder vergewissern, um gegen Anonymisierung, Einsamkeit und Gleichgültigkeit anzuleben - und zu bestehen.

Martin Kämpchen, der seit mehr als vierzig Jahren in Indien lebt, hat im vergangenen August in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9. 8. 2013, S. 33: "Eine fremde Heimat") geschrieben: "Erstaunt bin ich, wie wenige Menschen, die mich treffen, tatsächlich die Lebenssituation Indiens genauer als nur in ein paar Stichworten begreifen wollen." Betroffenheit ja, Mitgefühl ja - aber alles dosiert, auf Raten, auf dem Rechenbrett eines "designten" Lebens kalkulierbar bleibend, zu sehr affizieren soll es doch nicht. Zu viel könnte eine Störung sein.

"Globalisierung der Gleichgültigkeit": eine Diagnose. Sie gilt für Lampedusa, aber genauso für ein Pflegeheim in Berlin oder ein Kloster in Frankfurt. Empathie, Tränen des Zorns wie der Trauer können nicht verordnet werden. Aber es steht Christen gut an, an die Zuwendung Jesu zu den Menschen zu erinnern, besonders zu Ausgegrenzten und Marginalisierten, zu "Anderen" jeglicher Art. Die Botschaft Jesu, heißt es im Synodenbeschluss "Unsere Hoffnung" von 1975, "läßt es nämlich nicht zu, dass wir über seiner Leidensgeschichte die anonyme Leidensgeschichte der Welt vergessen; sie läßt es nicht zu, daß wir über seinem Kreuz die vielen Kreuze in der Welt übersehen, neben seiner Passion die vielen Qualen verschweigen, die ungezählten namenlosen Untergänge, das sprachlos erstickte Leiden". Daran ist am Beginn eines neuen Jahres zu erinnern. Ein neues Sehen, ein neues, nicht folgenloses Wahrnehmen ist gefragt.

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