Wieviel Macht verträgt die Kirche?

Der Umgang mit Macht in der Kirche wirft immer wieder Fragen auf. Erwin Teufel, Ministerpräsident a. D., bezieht Stellung zu dem heiklen Thema. Von den Erfahrungen des Rechtsstaats lässt sich dabei lernen - nicht zuletzt im Blick auf Bischofsernennungen.

Macht ist ambivalent. Sie kann von Menschen zum Guten gebraucht und zum Bösen missbraucht werden. Das ist nicht nur geschichtliche Erfahrung, sondern alltägliche Lebenserfahrung. Macht als Fürsorge und Verantwortung der Eltern für ihre Kinder führen zur Bildung und stufenweise zur Freiheit und Selbstständigkeit. Machtmissbrauch führt zu Kinderarbeit, zu Kindesmissbrauch, zu Kindersoldaten. Absolute Macht in der Hand und im Kopf von Alleinherrschenden führt zu Missbrauch, zu Untertanengeist, zu Selbstdarstellung, zu Unterdrückung. Macht in der Hand von Ideologen und Despoten führt zur Gleichschaltung, zur Diktatur, zur Herrschaft einer Klasse, zu Konzentrationslagern, zu Kriegen, zum Völkermord. Macht durch freie Wahlen und auf Zeit und unter Kontrolle führt zur Wahrung des Rechts und zur Lösung von Problemen und zum Bemühen um Gerechtigkeit und zu Zukunftschancen für die junge Generation.

Recht gewährleisten

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass Kriege zwischen den Völkern nicht der Ausnahmefall, sondern der Normalfall waren. Jede Nachkriegszeit wurde wieder zur Vorkriegszeit. Die geschichtliche Erfahrung zeigt auch, dass Despoten und Tyrannen ihr Volk und andere Nachbarvölker unterdrückt, ausgebeutet, unterjocht, verschleppt, ermordet haben.

Also mussten die Menschen aus diesen Erfahrungen lernen und Sicherungssysteme für die Erhaltung des Lebens und der Freiheit ihrer Bürger entwickeln und die Rechte der Menschen gewährleisten. Das geschah beispielhaft, aber leider keineswegs flächendeckend. Hier nur einige ausgewählte Beispiele: die "Magna Charta Libertatum" im Jahr 1215 in England, die freiheitliche Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika am Ende des 18. Jahrhunderts, die "Charta der Vereinten Nationen" vom 26. Juni 1945, die Erklärung der Religionsfreiheit ("Dignitatis humanae") des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965. Eine solche Sicherung kam bei uns in Deutschland mit großer Verspätung in der Freiheitserklärung im Offenburger "Salmen" am Beginn der Badischen Revolution von 1848, in der Reichsverfassung von Weimar 1918/19, dann aber vor allem im Grundgesetz von 1948/49 mit den unverletzbaren Grundrechten und Menschenrechten.

"In Verantwortung vor Gott und den Menschen" bekannte sich der Parlamentarische Rat in der neuen Verfassung, dem Grundgesetz, zur unantastbaren "Würde des Menschen" und zu Grund- und Menschenrechten: dem Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit. Diese umfasst Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit, Freiheit der Lehre und Forschung, freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, um nur einige Beispiele zu nennen. Es sind Rechte, die jedem Menschen zustehen. Der Staat gibt sie ihnen nicht, er gewährleistet sie: "Der Einzelne hat diese Rechte nicht aus der Gunst des Staates, sondern unmittelbar aus der Hand Gottes" (John F. Kennedy).

Aus Erfahrung lernen: Rechtsstaat

Diese Grund- und Menschenrechte sind nicht veränderbar. Sie haben "Ewigkeitscharakter". Das ist ein wesentliches Merkmal des Rechtsstaates.

Das zweite wesentliche Merkmal des Rechtsstaates ist - nach den bitteren Jahren des Machtmissbrauchs durch die Nationalsozialisten, der Verletzung der Menschenrechte, der Ermordung von Juden, Sinti und Roma sowie Teilen der Zivilbevölkerung in Nachbarländern und von Behinderten im eigenen Land und dem Überfall auf Nachbarstaaten im Zweiten Weltkrieg - die Teilung und Kontrolle der Macht. Teilung der Macht vertikal durch Aufteilung der Zuständigkeiten auf Bund, Länder, Kreise, Städte und Gemeinden und horizontal auf den Vorrang des gewählten Parlaments mit dem Gesetzgebungs- und Kontrollrecht, dann die Regierung und Verwaltung und schließlich eine unabhängige Gerichtsbarkeit.

Ich halte den Rechtsstaat für die größte Errungenschaft unserer Kultur und Geschichte. Er denkt den Staat vom Menschen und dessen Rechten her. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." (GG, Art. 20) Jedes staatliche Handeln orientiert sich vorrangig am Recht und den Bedürfnissen für eine eigenständige Lebensführung der Menschen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip organisieren sich Staat und Gesellschaft von unten nach oben.

Jeder Mensch, jeder Christ ist zuerst Bürger unseres Staates, welcher Garant seiner Menschenrechte ist. Ihm ist die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ebenso zugesichert und gewährleistet wie die Religionsfreiheit. Jeder Christ ist dann durch Taufe und freie Entscheidung auch Mitglied seiner Kirche. Er hatte als Mensch und als Christ noch nie eine solche Freiheit und Chance zur Entfaltung und Gestaltung seines Lebens, wie in der jüngsten geschichtlichen Phase des Rechtsstaats seit 1949. Die Kirchen selbst genießen den Rechtsschutz und die innere Gestaltungsfreiheit als "Körperschaft des öffentlichen Rechts". Sie haben ein Selbstverwaltungsrecht im Rahmen der Verfassung und der Gesetze.

So wie wir alle als Bürgerinnen und Bürger aus unserer Geschichte gelernt haben, aus der Geschichte Europas bis 1945 und nach 1945, so könnte auch die katholische Kirche aus der Geschichte des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates lernen und Elemente des Rechtsstaates, der Menschenrechte, der Teilung und Kontrolle der Macht in ihre innere Ordnung aufnehmen. Der freie Bürger, der sich als Glied der Gemeinschaft mit seinen Begabungen und Leistungen, seiner Lebenserfahrung und Berufserfahrung in das demokratische Gemeinwesen einbringt, möchte seine Rechte auf Mitgestaltung nicht am Weihwasserkessel in der Kirche abgeben, sondern sich auch als Glied der Kirche einbringen, nicht nur beratend, sondern auch mitentscheidend. Er möchte sich als Teil des Volkes Gottes, seiner Gemeinde aktiv in seine "eigenen Angelegenheiten einmischen" (Max Frisch).

Der Fall Limburg: Was daraus lernen?

Die ganze geschilderte Entwicklung zum Rechtsstaat, als Lernen aus Fehlern und dem Missbrauch von Macht, ist nun auf den Fall Limburg und die Teilung und Kontrolle der Macht in der Kirche anzuwenden. Der Fall Limburg ist nicht vorrangig ein falscher Einsatz von Mitteln und eine Kostenexplosion und ein Vermögensschaden für den "Bischöflichen Stuhl", sondern er ist das Ergebnis autokratischer Entscheidung, mangelnder Kontrolle, mangelnder Zuständigkeit der Kontrollorgane und falsch verstandener Rücksichtnahme auf den Bischof. Das ist nicht meine Feststellung, sondern die Einsicht des Domkapitels, das in einer beispiellosen und vorbildlichen Offenheit im Juni 2014 öffentlich "Versagen eingestand und von Schuld gesprochen hat"1. "In Wirklichkeit", so der Frankfurter Stadtdekan Johanneszu Eltz, der auch Mitglied des Domkapitels war, "hat er gemacht, was er wollte, einfach, weil er der Bischof war."2

"Macht ist, nicht mehr zuhören zu müssen, weil man ja das Sagen hat": Diese glänzende Analyse von Professor Karl Deutsch trifft genau die Situation Limburg - und andernorts. Das zeigt, dass der Fehler im System liegt und nicht nur im Versagen einzelner Beteiligter.

Der erste Fehler ist, dass es außerhalb des Diözesanhaushalts in jeder Diözese ein Sondervermögen des "Bischöflichen Stuhls" gibt. Auf dieses Sondervermögen hat der Diözesanrat keinen Einblick und keinen Einfluss. Es ist der "Privatschatulle" des Königs oder Fürsten vergangener Zeiten vergleichbar. Das passt nicht mehr in unsere Zeit und zerstört Vertrauen. Der Einwand, dass es fast überall ein Gremium aus Fachleuten für dieses Sondervermögen gibt, ist richtig. Aber dieses Gremium aus wenigen Fachleuten ist nicht gewählt, sondern vom Bischof berufen. Es hat keinen Beschlusscharakter. Wie soll einer denjenigen kontrollieren, der ihn berufen hat? Nicht diesem Gremium ist ein Vorwurf zu machen, sondern dem System einseitiger Handlungsvollmacht.

Die Folgerungen aus den gemachten Erfahrungen und Fehlentwicklungen, die zum Rücktritt eines Bischofs geführt haben, sind: Eingliederung aller Sondervermögen in den ordentlichen Haushalt der Diözese, wie das auch bei allen öffentlichen Haushalten der Fall ist. In allen Bereichen seiner Zuständigkeit, insbesondere im Haushalt, muss der Diözesanrat volle Zuständigkeit und Entscheidungsbefugnis bekommen. Recht geht vor Macht!

Alle geschilderten, so positiven Erfahrungen mit dem Rechtsstaat sollten auch im Bereich der öffentlichen Tätigkeit der Kirche angewandt werden. Teilung und Kontrolle der Macht durch ein gewähltes Gremium. Der Diözesanrat muss nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zusammengesetzt und gewählt werden. Laien und Pfarrer sollen vertreten sein. Da der Diözesanhaushalt fast ausschließlich aus Einnahmen der Kirchensteuer aller Kirchenmitglieder besteht, ist die Zuständigkeit eines rechtsstaatlich zusammengesetzten demokratischen Gremiums aus gewählten Kirchenmitgliedern besonders sinnvoll. Transparenz aller Unterlagen und Entscheidungen gegenüber Mitgliedern der Kirche und der Öffentlichkeit ist Voraussetzung für Vertrauen3.

Die Kirche braucht eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit für interne Entscheidungen. Sie steht seit vielen Jahren auf der Agenda der Deutschen Bischofskonferenz, kommt aber keinen Schritt voran. Verfassungsrecht geht kirchlichem Recht vor, weil sowohl der einzelne Christ als Bürger wie auch die Kirche als Institution des öffentlichen Rechts Teil des Rechtsstaates sind. Genauso selbstverständlich ist, dass sich der Staat nicht in innerkirchliche Angelegenheiten, insbesondere nicht in Glaubensfragen einmischt.

Der Geist des Evangeliums

Die katholische Kirche sollte in Fragen der Macht ganz grundsätzlich umdenken. Die große Macht einzelner Amtsträger der Kirche ist in der Geschichte zeitbedingt entstanden, als viele Bischöfe auch weltliche Fürsten waren. Sie geht nicht auf Jesus und nicht auf das Neue Testament zurück. Im Gegenteil, beim Evangelisten Markus lesen wir:

"Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen" (Mk 10, 42-45).

Fast wortgleich steht es bei Matthäus (20, 26-28). Und der Evangelist Lukas schreibt:

"Es entstand unter ihnen [den Jüngern] ein Streit darüber, wer von ihnen wohl der Größte sei. Da sagte Jesus: 'Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende.'" (Lk 22, 24-26)

Eindeutiger als in dreifach übereinstimmender Überlieferung in den Evangelien kann Jesus nicht sagen, dass seine Jünger und deren Nachfolger nicht Macht haben sollen. Er verurteilt den Machtmissbrauch der Mächtigen: "So soll es bei euch nicht sein!" Wer also der Erste sein will, soll der Diener aller sein. Man kann sich nur wundern, dass sich bei dieser eindeutigen Aussage so viele in unserer Kirche an die Macht klammern und gleichzeitig zum Dienen aufrufen. Worte und Taten müssen übereinstimmen. Eine Änderung würde die Glaubwürdigkeit innerhalb und außerhalb unserer Kirche wesentlich stärken.

Die Allmacht liegt bei Gott, dem allmächtigen Vater. Jesus der Christus ist der Herr der Kirche. Er ist unter uns wie der Diener (vgl. Lk 22,27). Gottes Geist ist ausgegossen in unsere Herzen und bewegt unseren Geist (vgl. Röm 5,5). Und es ist Gott, der "das Wollen und das Vollbringen bewirkt", wie es im Brief an die Philipper heißt (Phil 2,13). Der Papst ist nach seinem eigenen Titel "Diener der Diener Gottes". Der Bischof ist der Erste in seiner Diözese und deshalb der Diener aller - und das gleiche gilt für den Pfarrer, dem Ersten in seiner Gemeinde, gegenüber dem Volk Gottes.

Bischofswahl - nicht am Volk Gottes vorbei

Eine letzte, aber besonders wichtige Erfahrung aus den Bischofsernennungen der letzten Jahre in Österreich, der Schweiz, auch in einigen deutschen Diözesen und andernorts ist: Das Volk Gottes in einer Diözese sollte bei Bischofsernennungen nicht übergangen werden. Einige Berufungen gingen am Volk vorbei - mit entsprechenden Folgen.

In der Urkirche wurden die Bischöfe aus der Mitte der Gemeinde gewählt. Später haben sich weltliche Machthaber in Bischofsernennungen eingemischt und sie teilweise an sich gezogen. Das war eine Fehlentwicklung. Die Bischofsernennungen sind eine innerkirchliche Angelegenheit. Warum kann nicht ein Gremium aus Diözesanrat und Priesterrat und Domkapitel einen Bischof wählen? Selbstverständlich mit anschließender Zustimmung oder begründeter Ablehnung des Papstes. Vielleicht auch aus einer Liste der Diözese, der vorher der Papst zugestimmt hat. Die Qualität der Bischofsernennungen würde nicht sinken, aber die Nähe zum Volk Gottes würde erheblich steigen4.

Nun wenden einige in unserer Kirche ein: Einen Bischof kann man nicht wählen. Solchen Stimmen halte ich entgegen, dass der Bischof von Rom in einer Wahl gewählt wird, die genauso demokratisch stattfindet wie die Wahl eines Bundeskanzlers durch den Bundestag und eines Ministerpräsidenten durch den Landtag. Die Kardinäle wählen genauso geheim und mit qualifizierter Mehrheit. Wenn der Bischof von Rom, der wichtigste Bischof seiner Kirche, gewählt werden kann, warum nicht die anderen Bischöfe? Wenn der Heilige Geist bei der Bischofswahl in Rom mit dabei ist, warum nicht auch andernorts?

Noch einmal: Macht ist ambivalent. Die Frage ist immer wieder: Was macht Macht mit der Kirche? Und auch: Wieviel Macht verträgt die Kirche? Ausrichtung auf Jesus von Nazareth und Orientierung am Geist des Evangeliums tun not.

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