Es war eine außergewöhnliche Nachricht, die zum Abschluss der Versammlung (Synaxis) der orthodoxen Kirchenoberhäupter in Istanbul vom 5. bis 9. März 2014 verlautbart wurde und viele aufmerksame Beobachter aufhorchen ließ: 2016 wird das schon lange vorbereitete Panorthodoxe Konzil in Konstantinopel stattfinden.
Was dürfen wir von dieser Versammlung erwarten? Worum wird es gehen? Wie steht es um den rechtlichen Status dieses erstmalig in der Geschichte geplanten orthodoxen Großereignisses?
Unter dem Titel „Die Zukunft der Orthodoxie. Konzilspläne und Kirchenstrukturen“ hat Anne Jensen 1986 in der Tübinger Reihe „Ökumenische Theologie“ eine umfassende Studie zu den Etappen der orthodoxen Konzilsvorbereitungen vorgelegt1. Bereits 1923 fand unter Patriarch Meletios IV. in Konstantinopel ein Panorthodoxer Kongress statt, an dem aber nur fünf Kirchen (von neun eingeladenen) teilnahmen, und dessen Beschlüsse von der Gesamtorthodoxie nie rezipiert worden sind. Im Juni 1930 traf man sich zu einer Vorbereitungskommission im Athoskloster Vatopedi.
Die treibende Kraft für den konkreten Vorbereitungsprozess war der Ökumenische Patriarch Athenagoras I. (1948-1972). Nicht rein zufällig fand zu Beginn der 1960er Jahre die Erste Panorthodoxe Konferenz am 29. September 1961 auf der Insel Rhodos statt. Papst Johannes XXIII. Hatte bereits das Zweite Vatikanische Konzil, das in der katholischen Kirche als 21. Ökumenisches Konzil gezählt wird, angekündigt. Die Zusammenkunft auf Rhodos verstand sich als „Vorkonferenz“, der dann eine „Prosynode“ folgen sollte, die zum Höhepunkt und Ziel einer „Panorthodoxen Synode“ hinführen sollte. Die Aufgabe der Vorkonferenz bestand darin, das Programm für die kommende Prosynode zu definieren. Alle autokephalen Kirchen außer der orthodoxen Kirche Georgiens - sie wurde vom Moskauer Patriarchat vertreten - waren damals anwesend. Als Beobachter nahmen auch dreizehn Vertreter aus den altorientalischen Kirchen, drei Vertreter der anglikanischen und ein Vertreter der altkatholischen Kirche an dieser Konferenz teil. Die katholische Kirche konnte damals nur indirekt an dieser Konferenz teilnehmen: Fünf Priester waren als „Journalisten“ Gäste des Ökumenischen Patriarchats. Um die umfangreiche Themenliste zu bearbeiten, wurden sechs Kommissionen gebildet.
Bei der Zweiten (1963) und Dritten (1964) Panorthodoxen Konferenz, also während des Zweiten Vatikanums, wurde unter anderem auch über das Verhältnis der Orthodoxie zur katholischen Kirche verhandelt. Trotz der vielen positiven Gesten und Zeichen (Beginn des „Dialogs der Liebe“ zwischen Rom und Konstantinopel; historische Begegnung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras in Jerusalem) gab es noch immer große Reserven von vielen orthodoxen Vertretern Rom gegenüber. Vor allem der Primatsanspruch und die Frage der mit Rom unierten Ostkirchen, denen das Zweite Vatikanische Konzil ein eigenes Dokument („Orientalium Ecclesiarum“) widmete, löste immer wieder heftige Kritik aus. Die Vierte Panorthodoxe Konferenz in Chambésy (1968) musste eingestehen, dass die vorläufige Themenliste für das geplante Panorthodoxe Konzil nicht zu bewältigen sei, weil sie einfach zu umfangreich ist.
Als Ergebnis können wir an diesem Punkt der Vorbereitungen folgende Entscheidungen festhalten: Eine Vorbereitungskommission, bestehend aus je einem Delegierten aus jeder Landeskirche, der einen Berater hinzuziehen kann, wird gebildet. Ebenso wird ein ständiges Sekretariat in Chambésy (Vorort von Genf), dem ökumenischen Zentrum des Ökumenischen Patriarchats unter dem Vorsitz von Metropolit Meliton von Chalkedon und dem Sekretär, Metropolit Damaskinos (Papandreou) von Tranoupolis, eingerichtet. In absehbarer Zukunft sollen sogenannte Panorthodoxe Vorkonziliare Konferenzen die aufgestellten Themen bearbeiten und die Entwürfe an alle Kirchen versenden mit der Bitte um Stellungnahme (Kritik, Zustimmung, Änderungswünsche) innerhalb einer Frist von sechs Monaten.
Der vorläufige Themenkatalog umfasste damals folgende Bereiche: Quellen der göttlichen Offenbarung; vollständigere Beteiligung der Laien am gottesdienstlichen und sonstigen Leben der Kirche; Anpassung der kirchlichen Fastenvorschriften an die Erfordernisse der heutigen Zeit; Ehehindernisse; Kalenderfrage; „Oikonomia“ in der orthodoxen Kirche; Dialoge mit anderen christlichen Kirchen.
1972 verstarb der Ökumenische Patriarch Athenagoras, und damit kam der Vorbereitungsprozess ins Stocken. Sein Nachfolger, Patriarch Demetrios (1972-1991), der bei Weitem nicht so charismatisch agierte, hatte vorerst mit anderen, innerorthodoxen Problemen zu kämpfen. Inzwischen gab es auch eine Reihe von negativen Stimmen zum Vorhaben eines Panorthodoxen Konzils: Neben dem bekannten geistlichen Vater der serbischen Orthodoxie, Vater Justin Popovic, meldete sich auch der anerkannte amerikanische Theologe John Meyendorff kritisch zu Wort: „Die Organisatoren […] scheinen ihr Bestes getan zu haben, um die wirklichen Fragen zu vermeiden und ihre Aufmerksamkeit auf die nebensächlichen Fragen zu richten. […] Es ist symptomatisch, dass die so brennende Frage der kanonischen Struktur der ‚Diaspora‘ während der Vorbereitungsarbeit kein einziges Mal offiziell erwähnt wurde, obwohl die Frage im derzeitigen Programm steht.“ 2
Die Erste Vorkonziliare Konferenz, die 1976 in Chambésy abgehalten wurde, verabschiedete deshalb eine überarbeitete Themenliste, in die völlig neue Bereiche aufgenommen wurden: 1. Die orthodoxe Diaspora; 2. die Autokephalie und die Weise ihrer Verkündigung; 3. die Autonomie und die Weise ihrer Verkündigung; 4. Diptychen; 5. Fragen eines einheitlichen Kalenders; 6. Ehehindernisse; 7. Anpassung der kirchlichen Fastenvorschriften; 8. Beziehungen der orthodoxen Kirchen mit der übrigen christlichen Welt; 9. Orthodoxie und Ökumenische Bewegung; 10. Beitrag der orthodoxen Ortskirchen zur Verwirklichung der christlichen Ideale des Friedens, der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Liebe zwischen den Völkern und zur Beseitigung der Rassendiskriminierung.
Bei der Zweiten Vorkonziliaren Konferenz (Chambésy 1982) stellten die Delegierten selbstkritisch fest, dass es bereits bei den eher „leichten“ Themen, wie Anpassung der Fastenvorschriften, Ehehindernisse oder Kalenderfrage, große Meinungsunterschiede gibt. Es wurde die Sorge laut, wie die Arbeit weitergehen solle.
Nach der Dritten Vorkonziliaren Konferenz (1986) war es in den darauffolgenden Jahrzehnten eher still geworden, was die konkreten Pläne für eine Verwirklichung eines Panorthodoxen Konzils anbelangte. Keiner wagte mehr, einen möglichen Termin für dieses Panorthodoxe Konzil zu prognostizieren. Die bisherige Unfähigkeit der Orthodoxie, „ihr“ Konzil auf die Beine zu stellen, sei ein Ärgernis, das ihre Einheit und Zukunft gefährde und sie in den Augen einer nichtglaubenden Welt zum Gespött mache. So äußerte sich Archimandrit Bartholomaios Samaras (Istanbul), der Organisator der Vierten Panorthodoxen Konferenz, in seiner Eröffnungsrede.
Als „Durchbruch“ bezeichneten Beobachter das Ergebnis der Vierten Panorthodoxen Vorkonziliaren Konferenz in Chambésy im Juni 2009 in Bezug auf die Regelung der kirchenrechtlichen Verhältnisse in der orthodoxen Diaspora. Rund 40 Delegierte von allen 14 autokephalen, kanonisch anerkannten Kirchen hatten unter dem Vorsitz des Metropoliten von Pergamon, Joannis (Zizioulas) beschlossen, dass die orthodoxen Kirchen ihre Zusammenarbeit in der Diaspora in Zukunft neu ordnen und weltweit in mehreren Regionen neue gemeinsame Bischofsversammlungen einrichten wollen. Diese Bischofsversammlungen sollen im Geist der „Konziliarität“ („sobornost“) unter dem Vorsitz des jeweils dienstältesten örtlichen Bischofs des Ökumenischen Patriarchats stattfinden. Falls in einer Diaspora-Region kein Bischof des Ökumenischen Patriarchats vorhanden ist, geht der Vorsitz an den jeweils dienstältesten Bischof des nächsten Patriarchats nach der orthodoxen Ehrenliste („taxis“) über.
Im Oktober zuvor, also 2008, hatte nach über zwanzig Jahren der Unterbrechung die Versammlung aller orthodoxen Kirchenoberhäupter (Synaxis) im Phanar in Istanbul sich für eine Wiederaufnahme der Vorbereitung des Panorthodoxen Konzils ausgesprochen.
Mit der konkreten Ankündigung des Panorthodoxen Konzils zu Pfingsten 2016 (das wird etwa Mitte Juni sein, weil das orthodoxe Osterfest 2016 auf den 1. Mai fällt) in der Kirche der heiligen Irene in Istanbul verbinden sich natürlich große Erwartungen und Hoffnungen auch für die Weiterentwicklung des ökumenischen Dialogs. Erstmalig werden Vertreter aller autokephalen orthodoxen Landeskirchen, mit höchster kirchlicher Autorität ausgestattet, zusammentreten und wichtige, längst anstehende und die Gesamtorthodoxie betreffende Fragen erörtern und um einmütige Entscheidungen ringen. Bei den Abstimmungen wird jede Kirche jeweils nur eine Stimme haben, und wenn eine Kirche negativ votiert, kommt kein Beschluss zustande.
Bereits im Vorfeld wurde klar festgestellt, dass es sich hier um ein Panorthodoxes und nicht um ein Ökumenisches Konzil handelt, weil die Rezeption durch das Pleroma („Fülle“ der Gläubigen) für die Anerkennung als Ökumenisches Konzil wesenskonstitutiv ist und außerdem ohne die „Westkirche“ nicht die gesamte „Oikumene“ versammelt ist.
Jetzt wird es entscheidend sein, auf welche Tagesordnungspunkte (Themenkreise) man sich in der Vorbereitungskommission im Vorfeld einigen können wird, die dann auf diesem Konzil behandelt werden sollen. Jedenfalls dürfen wir gespannt sein, welche Auswirkungen dieses orthodoxe Großereignis auf den ökumenischen Dialog haben wird.
1 Anne Jensen, Die Zukunft der Orthodoxie. Konzilspläne und Kirchenstrukturen. Zürich 1986.
2 Zit. nach: ebd. 36 f.