Vor den Pforten des ParadiesesSchicksale jüdischer Flüchtlinge während der Nazizeit in Schweden

In Skandinavien fanden während der Nazizeit zahlreiche Menschen Zuflucht. Beatrice Eichmann-Leutenegger, Schriftstellerin und Literaturkritikerin, stellt anhand ausgewählter Beispiele Schicksale jüdischer Flüchtlinge in Schweden dar.

Das Land der tausend Seen, der hellen Sommernächte - ein Paradies im Norden Europas? Die Bilder der Urlaubsprospekte, diese Sinfonien in Blau, Grün und Weiß, wecken solche Gedanken an Schweden. Doch blickt man siebzig und mehr Jahre zurück, drängen sich andere Impressionen in den Vordergrund. Geschichten von Flüchtlingen, die der Naziverfolgung entkamen, tauchen aus dem Strom des Vergessens und Verdrängens auf. So schiebt sich etwa die feuchte, finstere Wohnung, in der Nelly Sachs (1891-1970) mit ihrer Mutter untergebracht wurde, ins Bewusstsein. Das Schicksal dieser beiden Frauen soll an erster Stelle einer Reihe von Emigrationserfahrungen in Schweden stehen, ist es doch vergleichsweise früh in die literarische Öffentlichkeit gedrungen.

Die Wahl der drei anderen Flüchtlingsbiografien ist subjektiv erfolgt und erhebt nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Dennoch beleuchten diese Einzelschicksale die Haltung des Gastlandes im Zweiten Weltkrieg. Dies trifft vor allem auf die Geschichte des jüdischen Wieners Otto Ullmann zu, die Elisabeth Åsbrink in ihrem Dokumentarroman1 aufgearbeitet hat; daher wird sie breiteren Raum einnehmen.

Ein leuchtendes Vorbild

Früh hatte Nelly Sachs einen Faden zum Land im Norden gesponnen. Zu ihrem fünfzehnten Geburtstag schenkte man ihr den 1891 erschienenen Roman "Gösta Berling" der schwedischen Dichterin Selma Lagerlöf (1858-1940), die 1909 als erste Frau den Literaturnobelpreis erhalten sollte. Bald danach begann Nelly Sachs eine Korrespondenz mit der Autorin, die sich in mancher Hinsicht als Wahlverwandte erwies: Gemeinsam waren beiden Frauen eine stille, durch Krankheiten gezeichnete Kindheit, ein Reichtum an Fantasie, eine Sehnsucht nach romantischem Heldentum. Zu jedem Geburtstag Selma Lagerlöfs legte Nelly Sachs ihrem Brief eigene Texte bei, "geschrieben von einer jungen Deutschen, die in der großen schwedischen Dichterin ihr leuchtendes Vorbild verehrt"2.

Nach der Reichskristallnacht werden Nelly Sachs und ihre Mutter, Margarete Sachs-Karger (1871-1950), Opfer der Enteignungen und Zwangseinmietungen in sogenannten Judenhäusern. Die beiden alleinstehenden Frauen - der Ehemann und Vater, der Fabrikant William Sachs, war 1930 gestorben - warten zuletzt in einem möblierten Zimmer auf die ersehnte Ausreisegenehmigung oder auf den Gestellungsbefehl zur Zwangsarbeit, das heißt: die Deportation. Nelly Sachs wandte sich mehrmals an Selma Lagerlöf um Hilfe. Diese sollte ihr das Affidavit verschaffen, das Emigranten für ihr Einreiseland brauchten: jene Garantie, die bescheinigte, dass bestimmte Organisationen oder Privatpersonen notfalls für den Lebensunterhalt des Gesuchstellers aufkamen, damit die staatliche Sozialhilfe nicht belastet wurde. Am 26. Januar 1939 schrieb Nelly Sachs:

"Sehr geliebte und innig verehrte Dr. Selma Lagerlöf, Würden Sie, die Sie mir von Kindheit auf ein Sinnbild an Liebe und Güte sind, würden Sie meiner Mutter und mir helfen, die Pforte des von uns so heiß ersehnten schwedischen Landes zu öffnen, indem Sie gestatteten, auf den Fragebogen des hiesigen schwedischen Consulats Ihren mir so teuren Namen als Referenz zu setzen? Es ist dies die einzige Hoffnung, die wir haben, um eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden zu erhalten. Ich werde dann versuchen, mir eine Stellung oder irgendeine Arbeit zu suchen, um meine Mutter, von der ich mich niemals trennen könnte, und mich selbst zu ernähren. An mir soll es nicht fehlen. Alle Mühe meines Lebens will ich daran setzen, um mir den Aufenthalt zu verdienen. Vergeben Sie mir meine Bitte [...]. In unwandelbarer Treue und ewigem Dank! Ihre Nelly Sachs, Berlin, Lessingstraße 33."3

Die Ansichten über die Bedeutung von Selma Lagerlöfs Rolle in dieser lebenswichtigen Angelegenheit sind geteilt4. Die schwedische Dichterin war zum Zeitpunkt des zitierten Briefes bereits alt, krank und müde und konnte nicht mehr viel unternehmen. Ein entscheidender Anteil kommt indessen einer Freundin von Nelly Sachs zu, der in Dresden lebenden Gudrun Dähnert, geborene Harlan (1907-1976). Sie reiste im Sommer 1939 nach Schweden und erhielt dank Selma Lagerlöf eine Audienz bei Prinz Eugen Bernadotte, dem Bruder des schwedischen Königs Gustav V., der sie bei den Einwanderungsbehörden empfahl. Ferner musste Harlan eine Garantiesumme als Existenzgrundlage für die beiden Frauen Sachs erwirken, was sich als zeitraubende Hilfsaktion herausstellte.

Dichterin ohne Land und Sprache

Als am 9. April 1940 Dänemark und Norwegen von den Deutschen besetzt werden, reist Harlan in größter Eile nach Berlin, um die Rettung voranzutreiben. Denn die Einreiseerlaubnis aus Stockholm ist noch immer nicht eingetroffen. Dafür kommt Anfang Mai der Gestellungsbefehl für das Arbeitslager. Eine weitere Freundin, Anneliese Neff, sucht verzweifelt die schwedische Botschaft in Berlin auf. Was sie dort erfährt, verschlägt ihr die Sprache: Die Einreiseerlaubnis liegt seit zwei Wochen bereit. Mit dem Gestellungsbefehl und der Einreiseerlaubnis wendet sich Nelly Sachs an einen Gestapo-Beamten, der ihr seine Hilfe angeboten hat. Er rät: "Zerreißen Sie den Gestellungsbefehl und fliegen Sie mit Ihrer Mutter nach Stockholm!"

Am 16. Mai reisen Nelly Sachs und ihre Mutter tatsächlich mit dem Flugzeug von Berlin-Tempelhof nach Stockholm. Die Pforten des schwedischen Paradieses öffnen sich, aber das Land dahinter fühlt sich kalt an. Die beiden Frauen werden einer Aufnahmestelle zugewiesen, danach bei verschiedenen Familien untergebracht, bis sie nach anderthalb Jahren eine winzige Wohnung am Bergsundsstrand 23 im Süden Stockholms beziehen können. Das Haus gehörte damals der Jüdischen Gemeinde Stockholms. Feucht und düster ist diese Wohnung, der Blick fällt auf einen Hinterhof. Endlich, am 1. August 1948, erhalten Mutter und Tochter im selben Haus eine größere Wohnung auf der Sonnenseite.

Indessen sind die ökonomischen Verhältnisse der beiden Frauen Sachs, die einst der Berliner Großbourgeoisie angehört haben, während 1940 und 1950 misslich. Nelly Sachs bemüht sich um Arbeit, wo immer sie kann. Noch ehe sie die schwedische Sprache beherrscht, engagiert sie sich für Übersetzungsarbeiten. Bis zu ihrem Tod wird sie moderne schwedische Lyrik ins Deutsche übertragen und damit eine bedeutsame Rolle als Vermittlerin spielen. So hat Nelly Sachs etwa den Nobelpreisträger des Jahres 2011, Tomas Tranströmer, in ihre 1965 erschienene Anthologie aufgenommen5. Im Gegenzug haben schwedische Autorinnen und Autoren Dichtungen von Nelly Sachs übersetzt und der schwedischen Öffentlichkeit erschlossen. Diese lässt sich von den Innovationen der schwedischen Lyrik anregen, denn sie weiß, dass sich ihre eigene Dichtung aus dem Korsett spätromantischer Ausdrucksformen befreien muss. Doch klagt sie 1946 in einem Brief an Gudrun Harlan:

"Ich habe kein Land und im Grunde auch keine Sprache. Nur die Inbrunst des Herzens, die über alle Grenzen hinwegeilen will."6

Die Menschen in ihrem schwedischen Umkreis bezeichnet sie im gleichen Brief als

"gut und freundlich, aber es ist nicht mehr Lagerlöfs Land. Die junge Generation der Dichter ist sehr skeptisch, fast nihilistisch eingestellt [...]. In der Form haben sie alles fortgeworfen und neu begonnen."7

Den Prozess einer sprachlichen Katharsis und eines Neubeginns wird auch Nelly Sachs durchlaufen, ja ihn erleiden. So wie Jakob mit dem Engel ringt sie mit der Sprache, denn diejenige, die sie bis dahin verwendet hat, taugt nicht mehr für die Erfahrungen der "Sternverdunkelung". Wie soll sie das Unsagbare im Sagbaren bergen? Nachts, wenn die kranke Mutter schläft, schreibt sie in der winzigen Küche, ihrer "Kajüte". Was, so möchte man fragen, wäre aus Sachs' Dichtung ohne die Erfahrung des Exils geworden?

Beispiellose Hilfe der Dänen

Mitten in der Geografiestunde der Kopenhagener Gymnasialklasse IIG, am 29. September 1943, klopft der junge Hans Walther an die Tür und bittet darum, mit seiner Freundin Hanne sprechen zu können. Sie solle so rasch wie möglich nach Hause gehen, sagt er zu ihr, denn am Langelinje-Kai lägen bereits die Deportationsschiffe bereit. Was war geschehen8?

Am 9. April 1940 hatte Deutschland Norwegen und Dänemark überfallen. Indem die Dänen auf militärischen Widerstand verzichteten, konnte die Regierung mit Deutschland einen Sonderstatus aushandeln. Das hieß unter anderem, dass sich die Deutschen nur bedingt in innerdänische Angelegenheiten einmischten. Gleich zu Beginn hatte Dänemark auch erklärt, dass man keine Judenverfolgung dulden würde; zu dieser Zeit hielten sich 8000 Juden im Land auf. Im Herbst 1942 änderte Hitler seine Politik und ließ im besetzten Dänemark die bis dahin gemäßigten deutschen Führungskräfte durch energischere ersetzen. Zum Bevollmächtigten wurde Werner Best erhoben, der die systematische Eliminierung der Juden aus dem öffentlichen Leben betrieb.

1943 spitzte sich die Lage zu, selbst das königliche Schloss wurde besetzt. Es kam zu Massendemonstrationen und Zusammenstößen mit deutschen Soldaten, Widerstandsgruppen behinderten die Besatzer, Sabotage war an der Tagesordnung. Im August dieses Jahres wurde der Ausnahmezustand verhängt. Diese Situation wollte Best nutzen, um die Deportation der in Dänemark ansässigen Juden per Schiff einzuleiten. Am 28. September entschloss er sich, die Deportation auf die Nacht vom 1. zum 2. Oktober 1943 zu verlegen. Es war die Zeit der großen jüdischen Feiertage.

Von diesem Plan erfuhr noch am 28. September der Schifffahrtsattaché bei der Gesandtschaft in Kopenhagen, Georg Ferdinand Duckwitz. Er arbeitete eng mit Best zusammen, unterhielt aber ebenfalls Verbindungen zum dänischen Widerstand. Daher verriet er Bests Plan Hans Hedtoft, dem späteren dänischen Ministerpräsidenten. Dieser wiederum informierte den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde. Am nächsten Tag - es war Rosh Hashana und jede Synagoge voll - wurden die anwesenden Juden von der bevorstehenden Razzia unterrichtet, worauf sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete. In einer beispiellosen Aktion sorgte die dänische Bevölkerung dafür, die Pläne der Deutschen zu vereiteln. Fast die gesamte jüdische Gemeinde wurde in und um Kopenhagen versteckt und im Lauf der nächsten zehn Tage auf Kähnen, Fischkuttern und Ruderbooten über den Öresund nach Schweden gebracht, wo ihnen die schwedischen Behörden Asyl gewährten. Diese Rettungsaktion, an der sich unzählige Dänen unter Einsatz ihrer Existenz beteiligt haben, lebt im Gedächtnis Dänemarks bis heute weiter und hat Film, Drama und Literatur inspiriert. "Wir lernen noch immer aus dieser Geschichte", sagt Runa, eine dänische Bekannte.

Hanne Kaufmann, am 27. Dezember 1926 in Frankfurt geboren, war 1933 mit ihrer Mutter und ihrem Zwillingsbruder nach Dänemark geflüchtet, wo die Familie vorerst unbehelligt lebte. Die begabte Schülerin erhielt ein Stipendium für den Besuch des Ørebro-Gymnasiums. Der Vater dagegen war 1933 nach Palästina ausgereist und sah seine Familie erst 1951 wieder. Als Hanne an jenem 29. September 1943 zu Hause in Hellerup ankam, erhielt die Familie kaschierte Anrufe zu Einladungen auf dem Lande, zu spontanen Geburtstagsbesuchen und Kaffeevisiten. Eine gefahrvolle Flucht setzte ein, die von einer Station zur nächsten führte, begleitet von Angst und Ungewissheit. Eben noch glaubten sich Mutter, Bruder und Schwester einigermaßen sicher, da mussten sie erneut aufbrechen, weil sie als "illegale Gäste" Verdacht geweckt hatten. Eine Szene dieser Flucht blieb in der Seele der Siebzehnjährigen für immer haften:

"Der Pastor hatte eine Art Hausaltar aufgestellt. Und in diesem Augenblick hatte ich das vielleicht größte Erlebnis meines Lebens: Jemand betete für uns - für meinen Bruder und mich [...]. Er sprach zu Gott, als ob es sich um einen Menschen handelte, der im Zimmer anwesend war [...]. Hier stand ein Mensch vor mir und glaubte fest an den Nutzen seiner Fürbitte. Seine feste und aufrechte geistige Haltung verursachte einen solchen Aufruhr in meinem Inneren, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben an eine Begegnung mit Gott glaubte [...]. Ich wagte nicht, meinen Bruder anzusehen, ich ahnte nicht, was er sich bei all dem dachte, ob er sich klar machte, dass hier ein christlicher Priester in Jesu Namen mit unserem gemeinsamen Gott sprach [...]."9

Flucht über den Öresund

Im Hafen von Hesnæs auf Falster lagen am Freitagabend, 8. Oktober 1943, vier Fischkutter der dänischen Fischereiflotte für eine Gruppe von achtzig Personen bereit. Hanne wurde unter Deck im Ballastraum hinter dem Motor verstaut. Sie musste sich quer über die Wackersteine legen, denn die Decke war so niedrig, dass sie nicht aufrecht sitzen konnte. Eine siebenstündige Fahrt - in das Leben oder in den Tod - begann. Der Fischkutter ließ die dänische Küste hinter sich und hielt entgegen den Vorschriften Kurs auf das schwedische Trelleborg. Zudem bedrohte eine Treibmine, nur zehn Meter entfernt, den Kutter, und ebenso befürchtete man deutsche Patrouillen. Hanne Kaufmanns Sinne sind in dieser Nacht geschärft wie noch nie, und plötzlich schießt ihr der Gedanke durch den Kopf:

"Wenn Hitlers System des Bösen nicht halb Europa dominiert hätte, dann hätte es auch niemals eine Gelegenheit gegeben, herauszufinden, wie großherzig und selbstlos Menschen sein konnten. Hätte es keine Besetzung gegeben, hätte sich auch kein so starker Zusammenhalt entwickelt. Ohne Krieg keine Träume vom Frieden! Ohne Gewalt keine Hoffnung auf Liebe! "10

Am frühen Morgen des 9. Oktobers erreichen die völlig entkräfteten Flüchtlinge Trelleborg. Die Stimmung ist unbeschreiblich: Lachen und Weinen, Freude und Bangigkeit verwirren die Gemüter. Hanne Kaufmann muss zur Registrierung antreten. Der junge Grenzpolizist notiert ihre Personalien und fragt unvermittelt: "Hätten Sie Lust, mit mir heute Abend ins Kino zu gehen?" Was Hanne Kaufmann an den Schluss ihres eindrücklichen Berichts setzt, zeugt von jener Dankbarkeit, die ein Leben lang nicht von ihr weicht:

"An den Film kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur an das Unfassliche, dass jemand mit uns ins Kino gehen wollte, so wie wir aussahen. Und obwohl wir nichts mehr besaßen, nirgendwo wohnten, niemand waren - wurzellos waren [...]. In diesem Augenblick hatte sich das Leben angeboten. Und ich nahm es entgegen. Dankbar. Als das Geschenk, das es immer bedeutet."11

Hanne Kaufmann bestand in Schweden ihr Abitur, wurde beim Hofjuwelier Dragsted als Gemmologin ausgebildet und arbeitete dreizehn Jahre in diesem Beruf. Ab 1956 war sie auch als Autorin, Übersetzerin und Sprachlehrerin tätig. Ihre Erinnerungen an die Oktobernacht 1943 wurden 1968 als Dank an die dänische Bevölkerung in Kopenhagen veröffentlicht. In deutscher Sprache kursierte dagegen lediglich ein Privatdruck von 100 Exemplaren. Mehr als fünfzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen erschien das Buch 1994 auch in Deutschland. Drei Jahre später, am 10. November 1997, starb Hanne Kaufmann in Horsens, einer Hafenstadt im Osten Jütlands, und wurde dort bestattet. Denn sie war ins geliebte Dänemark zurückgekehrt und hatte 1979 die dänische Staatsbürgerschaft erlangt. Es war dies einer der glücklichsten Tage ihres Lebens.

Weihnachten in Schweden

Dank der Rettungsaktion "Weiße Busse" des Schwedischen Roten Kreuzes wurde im Frühling 1945 die sechzehnjährige Cordelia, die spätere Journalistin und Autorin Cordelia Edvardson (1929-2012), aus dem KZ Auschwitz nach Schweden gebracht. Sie war in den Augen der Umwelt "eine Überlebende":

"Jemand, der übriggeblieben war; jemand, der über die Grenze zwischen Leben und Tod gezogen worden, geglitten und im grauen Nebel des Niemandslandes zurückgeblieben war [...]."12

Ihr erstes schwedisches Weihnachtsfest verbringt Cordelia in einer "für ihr weltumspannendes Gewissen bekannten und geachteten Familie". Diese hat die junge KZ-Überlebende, die an einer schweren Lungentuberkulose leidet, aus dem Sanatorium geholt und in ihr Heim eingeladen. Momentlang glaubt Cordelia, die Kerzenflammen könnten die Nacht besiegen und den Eisblock in ihrem Inneren schmelzen lassen. Aber nichts dringt in ihr Herz ein. Die Gastgeber lassen sich - getreu der schwedischen Art - vorerst keine Regung anmerken. Dann wagt Frau H. den Versuch, das fremde stille Mädchen einzubeziehen:

"Aber fühlst du dich denn nicht wohl bei uns, Kleine? Jetzt hast du es doch hinter dir, jetzt musst du all das Schreckliche, was passiert ist, vergessen! Bald bist du wieder ganz gesund, und dann wird alles anders, glaub mir! "13

In Cordelia ballen sich Verzweiflung, Wut und Hass zusammen, Worte aber wagen sich noch nicht hinaus. Doch dann faucht sie:

"Aber ich will nicht gesund werden. Ich wünschte, ich wäre tot! Alle anderen sind ja auch tot [...]."14

Darauf wird es sehr still im Weihnachtszimmer. Cordelia weiß, dass sie hart zugeschlagen und getroffen hat.

Den Plan, Sozialarbeiterin zu werden, gab sie auf. Dagegen wünschte sie nach der Veröffentlichung einiger Kulturartikel, den Beruf der Journalistin zu ergreifen. Doch das Arbeitsamt riet ab; es wollte der Neubürgerin ohne schwedische Muttersprache kein Stipendium gewähren. Dennoch setzte sich Cordelia durch. Später sollte sie, die nun als Israel-Korrespondentin der renommierten Zeitung "Svenska Dagbladet" arbeitete, zweimal den Großen Schwedischen Journalistenpreis erhalten.

Erst der Mann, zu dem sie etwa ein Jahr nach ihrer Ankunft in Schweden gezogen war, der 1917 geborene schwedische Journalist und Maler Ragnar Edvardson, erkannte in der Überlebenden die Schlafwandlerin, die auf schlaffem Seil über den Abgrund balancierte. Ungebeten übernahm er es, ihr Schutznetz zu sein18. Er forderte weder Nähe noch Vertrautheit, "wachte aber aufmerksam und standhaft auf der Schwelle ihrer Abgewandtheit"19. Doch irgendwann erkannte Cordelia Edvardson, deren Ehe mit Ragnar Edvardson 1951 geschieden worden war, dass sie aufbrechen und fortgehen musste. Denn im Gastland Schweden offenbarte sich ihr der Limbus, der Ort "östlich der Verbannung und westlich der Erlösung". 1974 übersiedelte sie nach Israel. Am Schluss ihres Romans zieht sie eine Bilanz ihrer Jahre im schwedischen Exil:

"Für eine Überlebende ist es ein gutes Land gewesen. Es war da und bot seine Erquickung und Ruhe an, drängte sich aber niemals auf, forderte nie die Stummheit der Überlebenden heraus, verlangte nichts. Die hellen Sommernächte und die langen, dunklen Wintertage, der sanfte, stetige Frühlingsregen und der weiße, weiße Schnee verpuppten die Überlebende in einen Kokon aus wehmütiger Erwartung dessen, was nie geschehen sollte [...]."20

Abschied in Wien

Weitaus mehr über ein jüdisches Emigrantenschicksal in Schweden erfährt man aus dem Buch der schwedischen Autorin Elisabeth Åsbrink: "Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume"21. Bei seinem Erscheinen 2011 löste es in Schweden eine heftige Debatte aus, da die Autorin das Denken der Schwedischen Israel-Mission und der Gesellschaft jener Zeit enthüllte.

Wenige Jahre zuvor war ihr ein Konvolut von 500 Briefen übergeben worden, die zwischen 1939 und 1944 aus Wien und zuletzt aus Theresienstadt an den Adressaten Otto Ullmann (1925-2005) geschickt worden waren. Dieser war am 1. Februar 1939 zusammen mit etwa hundert weiteren Kindern am Wiener Ostbahnhof in einen Zug gestiegen, nachdem er von seinen Eltern, Josef und Elise Ullmann-Kollmann, Abschied genommen hatte. Der einzige Sohn sah seine Eltern nie mehr, denn ihr Leben endete im Herbst 1944 in Auschwitz.

Initiantin dieses Kindertransports war die Schwedische Israel-Mission, die in Wien an der Seegasse 16 wirkte und sich auf die "Bekehrung" von Juden konzentrierte. Ab 1938, dem Jahr des sogenannten Anschlusses, bot sie auch Auswanderungsunterstützung für Kinder und Jugendliche an. Allerdings galten hierfür mehrere Bedingungen, die der schwedische Pastor Birger Pernow, Vizepräsident der Internationalen Israel-Mission, in einem Brief an seinen Wiener Mitarbeiter formulierte:

"Die Kinder und Jugendlichen sollten möglichst Judenchristen oder Christen, keine Arier, sein, Alter 7-15 Jahre, deren Eltern die Absicht haben, nach Übersee zu emigrieren. Die Ausreise der Eltern sollte möglichst gesichert sein, und diese haben sich zu verpflichten, ihre Kinder so bald wie möglich, nach einem, höchstens zwei Jahren, wieder zu sich zu nehmen [...]."22

Die Eltern Ullmann erreichten es, dass der Name ihres Sohnes, der ein wohlerzogener Junge war und somit eine weitere Anforderung der Schwedischen Israel- Mission erfüllte, auf die Liste gesetzt wurde. Kein Glück hatten sie dagegen in den Bemühungen um ihre eigene Ausreise. Ebenso scheiterte Elise Ullmanns Versuch, ihren Sohn in Schweden zu besuchen, oder gar der Plan, sich zusammen mit ihrem Mann dort niederzulassen. Denn in Schweden herrschte die Furcht vor "illoyaler Konkurrenz" durch jüdische Einwanderer, so etwa bei Geschäftsleuten, Ärzten, Zahnärzten, Apothekern, aber auch im Schwedischen Gewerkschaftsbund und im Skandinavischen Malerkartell. Eine Reihe von Eingaben und Protesten erreichte die Königliche Sozialbehörde in Stockholm23. Die meisten Schreiber äußerten ihre Abneigung verblümt, rückten wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund und vermieden es, die wahren Gründe zu nennen, nämlich rassistisch geprägte Vorbehalte.

Die schwedische Flüchtlingspolitik

Elisabeth Åsbrink skizziert die Haltung verschiedener schwedischer Bevölkerungsgruppen wie auch jene der lutherischen Kirche, deren Erzbischof Erling Eidem nach einem gänzlich misslungenen Gespräch mit Hitler die Devise "behutsames Handeln" vertrat. Ebenso erläutert sie die Asylpolitik ihres Landes, die sich an jener der Schweiz orientierte. Bereits sechs Wochen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs führte die schwedische Regierung den Visumzwang für österreichische Staatsbürger ein, damit sie nicht beliebig nach Schweden einreisen konnten. Dieser Visumzwang diente dem Schutz der eigenen Bevölkerung und als Hindernis für Juden, die man als nicht wünschenswerte Einwanderer einstufte. In einer nächsten Phase schickte die schwedische Regierung ein geheimes Rundschreiben an alle Passkontrollstellen im Land. Dieses besagte, dass ab 9. September 1938 nur Deutsche mit Empfehlungsschreiben oder Deutsche, die bekannt waren, die Grenze zu Schweden passieren durften. Alle übrigen sollten individuell geprüft werden. Lag die Annahme vor, dass der Ausländer nicht nach Deutschland zurückkehren konnte, sollte er abgewiesen werden. Da Juden eine Ausreisegenehmigung aus Nazideutschland nur dann erhielten, wenn sie sich verpflichteten, nicht wieder zurückzukehren, war gerade diese Angelegenheit vorläufig im Sinne Schwedens geregelt.

Kurz danach traf bei den schwedischen Passkontrolleuren ein zweites geheimes Rundschreiben ein. Es enthielt die Instruktion, dass Personen, deren deutscher Pass den Buchstaben J trug (J wie Jude), Emigranten wären, also keine zeitweiligen Besucher. Dank dieser Kennzeichnung erlangten die Beamten die Kontrolle über versuchte jüdische Einwanderungen. Seine strenge Asylpolitik hielt Schweden über längere Zeit hinweg aufrecht. Erst als die schwedische Bevölkerung von den Deportationen der norwegischen Juden im besetzten Nachbarland vernahm, regte sich Unmut. Etwa ein Drittel der 2200 in Norwegen ansässigen Juden war ab November 1942 von norwegischen Häfen über Stettin nach Auschwitz deportiert worden, während etwa tausend norwegische Juden nach Schweden fliehen konnten und dort von ihren Erfahrungen berichteten. Mit solchen "Abscheulichkeiten" aber wollten die Schweden nichts zu tun haben. Der Meinungsumschwung führte zur freizügigeren Haltung gegenüber den 7000 dänischen Juden, die Anfang Oktober 1943 deportiert werden sollten. Gemäß der Absprache der dänischen Widerstandsbewegung mit der schwedischen Regierung gelangten sie über den Öresund nach Schweden - unter ihnen die bereits erwähnte Gymnasiastin Hanne Kaufmann.

Briefe - ein letzter Lebensfaden

Für ihr Buch, einen Dokumentarroman, hat Elisabeth Åsbrink nebst einer Auswahl aus der erwähnten Korrespondenz weitere ungedruckte Quellen berücksichtigt: so Dokumente der schwedischen Diplomatie und Flüchtlingspolitik. Vor allem aber stützt sie sich auf die einschlägige Sachbuchliteratur und zeitgenössische Beiträge in schwedischen Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbüchern. Diese Zeugnisse werden dank der empathischen Erzählhaltung der Autorin zu einem eindrücklichen Ganzen verbunden. So war es vielleicht, so könnte es gewesen sein, schreibt sie, wenn sie zudem ihr eigenes Vorstellungsvermögen einfließen lässt.

Die Briefe der Eltern gelangen vorerst in kurzen Abständen von wenigen Tagen an den fernen Sohn, danach in längeren Intervallen. Aus all diesen Schreiben spricht ihre rührende Sorge. Allerdings äußern die Eltern ihre Bangigkeit nicht offen; vielmehr dominieren Zuversicht und Ermutigung. Inhaltlich gleichen sich die Briefe, ja sie nehmen einen stereotypen Charakter an. Daran ist das durch die Rassengesetze stark eingeschränkte monotone Dasein der Eltern Ullmann schuld, ebenso die Tatsache, dass die Korrespondenz zensuriert wird, weshalb schmerzliche Ereignisse des Alltags verschwiegen werden. Von Otto aber ist nur ein einziger Brief erhalten, jener vom 1. Februar 1940:

"Vor einiger Zeit war Pastor Hedenquist mit Frau hier, und ich habe mit ihm auch über einiges wegen meiner Zukunft gesprochen. Er versprach mir, sich umzuhören, ob nicht doch eine Möglichkeit für mich bestünde weiterzulernen. Aber auf keinen Fall wirkt sich die Arbeit hier schlecht aus für mich, ich habe sogar zugenommen und wiege jetzt 51 Kilo. Überhaupt schadet mir die Arbeit keineswegs, im Gegenteil. Ich habe schon bessere Muskeln bekommen und werde auch gerne später, wenn sich keine Gelegenheit für mich bietet zu studieren, bereit sein, etwa körperliche Arbeiten auf mich zu nehmen. So kannst Du, lieber Papa, beruhigt sein und brauchst Dir meinetwegen wirklich keine Sorgen zu machen, denn ich werde mit Gottes Hilfe auch die schwersten Proben bestehen und über die größten Hindernisse hinwegkommen. So grüße und küsse ich Dich herzlichst als Dein treuer Sohn Otto."24

Otto Ullmann war nach seiner Ankunft in Trelleborg, an jenem grauen Februartag 1939, von einer Station zur nächsten geschickt worden. Erst weilte er im Kinderheim Hemhult im südschwedischen Tollarp, danach im Lager Tostarp, dem Transitlager für junge Judenchristen. Genervt von den dortigen Bekehrungsversuchen, riss Otto aus und kehrte vorübergehend nach Tollarp zurück. Später weilte er bei Metzger Larsson als Gehilfe, danach auf dem Pachthof von Agnes Andersson. Sein großer Wunsch ging nicht in Erfüllung, nämlich die Heime verlassen zu können und von einer schwedischen Familie aufgenommen zu werden sowie weiterführende Schulen zu besuchen. Er galt als billige Arbeitskraft. Doch gegenüber den Eltern unterdrückte er zumeist seine Enttäuschung und gab sich zuversichtlich - im tapferen Bemühen, sie zu schonen, obwohl er das Ausmaß ihrer Bedrängnis nicht ahnen konnte.

Freundschaft zwischen zwei Ungleichen

Eine bedeutsame Station Ottos war der Aufenthalt bei der Familie Kamprad. Hier war er 1944 als Arbeitskraft eingetroffen und fand erstmals einen fast gleichaltrigen Freund, den 1927 geborenen Ingvar Kamprad. Es waren zwei Einsame, die aufeinander trafen. Zusammen entdeckten sie die Spiele der Jugend, unternahmen Bootsfahrten, vergnügten sich beim Tanz mit Mädchen und genossen ihre Freundschaft. Aber die Unterschiede zwischen den beiden wogen schwer: Der eine war Jude, der andere stammte aus einer nazifreundlichen Familie, deren sudetendeutsche Vorfahren mütterlicherseits aus Böhmen eingewandert waren. Sohn Ingvar, den das Streben nach Zugehörigkeit leitete, empfand ebenfalls rege Sympathie für die Ideen der Nazis. Diese verbreitete Sven Olov Lindholm, der Leiter der schwedischen Nazipartei, mit glühendem Eifer.

Die Freundschaft zwischen Otto Ullmann und Ingvar Kamprad wäre vergessen worden, hätte es sich bei Ingvar Kamprad nicht um den Gründer des Firmenimperiums IKEA gehandelt. Schon sehr früh, 1943, stürzte er sich in dieses Unternehmen, begann in kleinen Schritten und wagte mehr und mehr. Otto Ullmann war in den Anfängen sein engster Mitarbeiter. Ihre Freundschaft dauerte ein knappes Jahrzehnt - danach trennten sich die Wege.

Die Verbindung der ungleichen Partner ist in der Werbung für Elisabeth Åsbrinks Buch stark betont worden, doch beansprucht diese Geschichte innerhalb des Textes nicht allzu viel Raum. In ihrem Interview am Schluss des Buches fragt die Autorin Ingvar Kamprad mehrmals, ob er und seine Familie die Aufnahme des jüdischen Flüchtlings Otto Ullmann nicht als Widerspruch zu ihrer eigenen nazifreundlichen Haltung empfunden hätten. Ingvar Kamprad verneint und reagiert sogar grob. Åsbrink lässt nicht locker:

"Aber erinnerst du dich, wie du damals gedacht hast, und was hast du gewusst? Hast du über Ottos Herkunft nachgedacht? Und das, was in Deutschland geschah?" - "Was, zum Teufel, soll ich darauf antworten? Wir waren doch Kumpels, und man hat sich einen Scheißdreck darum gekümmert, ob er nun Indianer, Jude oder Same war."25

Das Verhalten der Gastgeberin aus Cordelia Edvardsons Weihnachtsszene begegnet auch in diesem Buch wieder. Elisabeth Åsbrink nennt die Dinge beim Namen: Nicht nur Ingvar Kamprad, auch das Land Schweden insgesamt hat sich bemüht, vergessen zu wollen. Nach dem Krieg engagierte sich Kamprad für die rechtsextremistische Bewegung, die unter der Bezeichnung "Neue Schweden" fortwirkte. Mit dem Leiter, Per Engdahl, unterhielt er regen Kontakt und unterstützte die Bewegung finanziell.

Otto Ullmann erfuhr 1946 vom Ende seiner Eltern in Auschwitz. Eine Rastlosigkeit beherrschte fortan sein Leben. Dahinter wütete jener große Zorn, der auch in Cordelia Edvardsons Erinnerungen aufflammt. Die schwedische Staatsbürgerschaft, die er dreimal beantragt hatte, erhielt er erst 1955: in seinem dreißigsten Jahr. Er verheiratete sich, hatte drei Kinder, arbeitete als Journalist, später als Betreiber einer Werbebranche und eines Restaurants.

Nach seinem Tod blieb jene Schachtel mit dem Aufdruck IKEA zurück - darin die fünfhundert Briefe, nach Jahrgängen geordnet und verschnürt.

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