Der Trend ist seit Jahren zu beobachten: Spiritualität ist gefragt - und die Kirchen leeren sich, Gemeinden überaltern. In den Seelen moderner Sinnsucher erwacht nicht die Kirche, sondern eine selbst gebastelte Privatreligion. Die neue Suche nach Religiosität verbindet sich mit dem Megatrend "Individualisierung". Als Antwort darauf werden seit zwei Jahrzehnten unterschiedliche Modelle von Citykirchen entwickelt. "City", das ist in unseren Städten das Zentrum von Kommerz und Kultur, ist Flaniermeile und Freizeitpark. Mittendrin liegen die christlichen Gotteshäuser, manchmal wie verloren und aus der Zeit gefallen. Viele von ihnen gehören jedoch zum kulturellen Pflichtprogramm der City-Touristen.
Citykirchen sollten offene Gastkirchen, öffentliche Räume der Spiritualität sein. Ein Kirchengebäude "predigt", es zeugt von geistlicher Ergriffenheit, geronnen in Architektur und Kunst. Die Pflege des Raumes ist das erste Gebot einer Citykirche. Dem Zufallsgast sollte sich intuitiv mitteilen: Hier ist ein Raum der Unterbrechung, "heiliger Boden". Die oft verdeckte Tiefendimension kann sich melden. Zeitgemäße Erklärungen (z. B. Mobilguide) des Altehrwürdigen sind hilfreich, aber vor allem wirkt eine Gesamtatmosphäre von "Andacht", die es in viel besuchten Kirchen zu hüten gilt. Eine Citykirche braucht zeitgenössische Kunst, um kundzutun: Traditionsverbundenheit zeigt sich darin, dass sie nicht musealer Traditionalismus wird, sondern sich kreativ der Gegenwart stellt. Zur Pflege des Raumes gehört das personale Angebot. Ein Empfangsdienst sollte nicht bloß die nötigen Auskünfte geben können, sondern dem Besucher den Eindruck vermitteln, dass "Kirche" ein Bau aus lebendigen Steinen ist.
Eine Citykirche lebt von offenen, regelmäßigen Angeboten, die aus ihrer konfessionellen Kultur kommen. Das können eine tägliche Messfeier, eine gestaltete Meditation, ein Abend- oder Nachtgebet, eine Zeit der Anbetung sein. In der bewegten, hektischen Innenstadt ist das Stetige als Gegenpol gefragt. Die liturgische Tradition der katholischen Kirche hat viel zu bieten, was spirituell Interessierte oder Zufallsgäste anspricht; nur muss es in einer Sprache und Art geschehen, dass auch Kirchenferne spüren: Hier geht es um mich!
Citypastoral gestaltet täglich einen "Raum für die Seele". An Sonn- und Feiertagen wird die Citykirche zum Festraum. Große liturgische Feiern berühren auch heute. Die Musik als integraler Bestandteil der Liturgie spielt eine wichtige Rolle, aber auch die Qualität der Predigt und die stimmige Inszenierung der Liturgie. Zu beobachten ist, dass nicht bloß an Weihnachten Menschen in die Gottesdienste strömen. Auch an Allerseelen oder am Aschermittwoch zieht es viele in die Kirche. Citypastoral erspürt die seelische Obdachlosigkeit und Sehnsucht unserer Zeit und antwortet darauf mit dem Schatz ihrer liturgischen Kultur.
Die überkommene Tradition nur zeitgemäß aufzubereiten, wäre allerdings zu wenig. Citypastoral muss auch Neues entwickeln. Sie ist ein Experimentierfeld für neue Gottesdienstformen und kulturelle Angebote. Das Konzept dieser Seelsorge geht davon aus, dass jeder Mensch eine Geisteshaltung und Lebensweise gewinnen muss, die aufnimmt und bewältigt, was das Leben an Fragen und Herausforderungen mit sich bringt. Da kommen die Wendepunkte des Lebens in den Blick. Zu "Spirituellen Lebensfeiern" etwa werden Menschen eingeladen, die eine neue Lebensdekade beginnen. "Valentinsgottesdienste" für Paare haben sich an vielen Orten eingebürgert. Das Bedürfnis nach Segen ist mit Händen zu greifen, in glücklichen oder schmerzlichen Lebenssituationen wie Trennung, Scheidung, Krankheit und Trauer. Da tut sich ein weites Feld für ökumenische Angebote auf. Immer sollte es darum gehen, die zentralen Lebensfragen aufzugreifen, Betroffene zu Wort kommen zu lassen und vom Wort Gottes her in einer liturgischen Feier Leben zu deuten. Politische Impulse im Sinne prophetischer Kritik und interreligiöse Akzente dürfen in der Palette der Citypastoral nicht fehlen. Kulturelle Angebote mit Tiefgang gehören genauso dazu, vom klassischen Konzert über Theater, Ballett, Film bis zum Adventskonzert, zum Beispiel mit einer Rock- und Soulband, in das besinnliche Geschichten eingestreut sind.
Citypastoral sendet zielgruppenorientierte und breit gefächerte Signale nach "außen" - "an die Ränder", von denen Papst Franziskus immer wieder spricht. Citykirchen haben einen missionarischen Auftrag mit ihrer Offenheit und ihrem klaren Profil. Die Erfahrung lehrt, dass sich viele Menschen über spirituelle Leuchttürme ihrer Kirche annähern, wieder eintreten oder als Nicht-Getaufte zum Glauben und zur Kirche finden. Ideal ist es, wenn eine zentrale (Wieder-)Eintrittsstelle an eine Citykirche gekoppelt ist.
Wesentlich für eine Citykirche ist die Begleitung von einzelnen und überschaubaren Gruppen. Eine Citykirche darf nicht bloß von einem "Event" zum anderen springen. Kirche muss heute dem Einzelnen Raum und Zeit geben. Das reicht vom informativen Orientierungsgespräch bis zur sakramentalen Beichte. Die Einzelseelsorge ist das Kronjuwel der Citypastoral, die auf der einen Seite die Öffentlichkeit durch ihre Medienpräsenz sucht, auf der anderen Seite aber den geschützten Innenraum bietet.
Ist Citypastoral die Pastoral der Zukunft? Als Impulsgeber für eine missionarische Kirche sehr wohl, aber immer im Verbund mit den Gemeinden vor Ort. Eine ortsnahe, lebendige Gemeinde ist unschlagbar. Aber wird diesem lebendigen Geflecht nicht mit den pastoralen Großräumen das Wasser abgegraben? Citykirchen sind leider auch ein Auffangbecken für den pastoralen Notstand ringsum. Die Mitte des Christlichen ist eine Person. Die Einheit mit Christus und die Verbundenheit untereinander machen das Wesen der Kirche aus. Die Gegenwart des Kyrios beschränkt sich nicht auf den Raum der Kirche, er ist überall und besonders in jedem Menschen schon da. Diese Tiefendimension des Menschseins zu wecken, ist Hauptaufgabe der Kirche und der Cityseelsorge im Besonderen.