Die kritischen Analysen, die Simone Weil (1909-1943) seit Mitte der 1930er Jahre zur Situation des Proletariats vorgelegt hat1, zielen auf die Möglichkeit, die Arbeiter aus dem unerträglichen Ennui der Fabrikgefängnisse und der entfremdeten Arbeit zu befreien. Die Langeweile, Dumpfheit und Abgeschlagenheit, das Ressentiment und die Ohnmacht, den die erzwungene, den Arbeitern in ihrer Finalität und technischen Abläufen entzogene Fabrikarbeit hervorruft, ist für Weil in erster Linie nicht materiell, sondern moralisch und spirituell aufzulösen - und zwar durch die Verwandlung der Haltung, welche die Arbeiter ihrer Arbeit gegenüber einnehmen:
"Das Universum, in dem die Arbeiter leben, verweigert in sich selbst jede Finalität. Es ist unmöglich, dass Zwecke in sie eindringen - es sei denn für kurze historische Phasen, die allerdings stets Ausnahmesituationen sind. […] Die Leere erzeugt Leiden. Man stirbt zwar nicht daran, aber dieses Leiden ist vielleicht ebenso schmerzlich wie der Hunger; vielleicht noch schmerzlicher. […] Was die Gegenmittel angeht, so gibt es keine Wahl; es gibt nur ein einziges. Eine einzige Sache macht die Monotonie erträglich, nämlich ein Licht aus der Ewigkeit, und dieses Licht ist die Schönheit. Es gibt nur einen einzigen Fall, in dem die menschliche Natur es erträgt, dass der Wunsch der Seele sich nicht auf etwas richtet, was sein könnte oder sein wird, sondern auf das, was man schon hat. Und dieser Fall ist die Schönheit. […] Weil das Volk dazu gezwungen ist, all sein Wünschen auf das zu richten, was bereits da ist, ist die Schönheit für das Volk und das Volk für die Schönheit gemacht. Das Volk braucht die Poesie wie das tägliche Brot; nicht die in Worte eingeschlossene Poesie, mit denen es nichts anfangen kann. […] Eine derartige Poesie kann nur eine einzige Quelle haben, und diese Quelle ist Gott."2
Skizze einer Gesellschaftsordnung
Die Überlegungen zum Schmerz der proletarischen Existenz führen Simone Weil zum Vorschlag einer allegorisch wahrzunehmenden Praxis proletarischer Arbeit. Das einzige, worauf die Arbeiter ihren Wunsch richten können, ist das, was da ist. Was bereits da ist, kann man sich aber nur wünschen, wenn man es als Gegenstand der Schönheit betrachtet. Für das Leiden an einem jeder Finalität beraubten Leben gibt es folglich nur ein einziges Heilmittel: die aktive Wahrnehmung der Schönheit der in der Welt sichtbar werdenden Transzendenz. Sie allein könnte die industrielle Zwangsarbeit in nicht-sklavische Arbeit verwandeln und das innerweltliche Gefängnis in seiner Monotonie erträglich machen.
Die Frage, wie die Poesie des Übernatürlichen in der alltäglichen Arbeitswelt entdeckt und betrachtet werden kann, beantwortet Weil deswegen mit einem umfassenden Programm zur Allegorese der Arbeitswelt, die den Sternenhimmel des Unendlichen auch an Werkbänken und Lastenaufzügen zu entdecken erlaubt:
"Die einzigen wahrnehmbaren Dinge, auf die [die Arbeiter] ihre Aufmerksamkeit richten können, sind die Stoffe, Werkzeuge, Maschinen oder die eigenen Handgriffe. Wenn sie sich nicht in Spiegel des ewigen Lichts verwandeln lassen, ist es völlig unmöglich, dass bei der Arbeit sich die Aufmerksamkeit auf den Quell jeden Lichts richten kann. Nichts ist dringlicher und nichts notwendiger als diese Verwandlung. Sie ist nur dann möglich, wenn sich in der Materie, so wie sie sich der menschlichen Arbeit darstellt, eine spiegelnde Eigenschaft findet. Denn es geht nicht darum, Fiktionen oder willkürliche Symbole zu fabrizieren. Fiktion, Imagination, Träumereien sind nirgendwo weniger am Platz als dort, wo es um die Wahrheit geht. Zu unserem Glück aber besitzt die Materie eine spiegelnde Eigenschaft."3
Weils Vorschlag einer proletarischen Allegorese ist programmatisch konzipiert: als radikale christliche Konversion des bislang politisch konzipierten sozialistischen Befreiungsprojekts. Im April 1942, das heißt zu einem Zeitpunkt, an dem das Ende der Naziherrschaft über Europa nicht absehbar ist und wo das Schlimmste zu befürchten steht, skizziert Weil eine Gesellschaftsordnung, die mit dem Immanentismus und Atheismus, zugleich auch mit dem Machtwillen der sozialistischen Bewegung radikal bricht. Und sie bricht deswegen damit, weil das Leiden der Arbeiter und ihre konstitutive, sie als Proletarier definierende Ohnmacht sich durch einen rein politischen Umsturz nicht beseitigen lassen. Allein das Christentum und sein skandalös ohnmächtiger Gott verstehen es, dem proletarischen Unglück zu antworten. Der Gott am Kreuz ist es, der gegen alle Vernunft dieser Welt die Ohnmacht bejaht und dem Leiden Gehör, Sprache und Glanz schenkt4. Der Gott der Entäußerung ist es5, welcher der proletarischen Existenz antwortet - nicht als Vertröstung auf ein besseres, kleinbürgerliches Morgen, sondern als Bejahung des Göttlichen im Schmutz und im Lärm der Fabriken6.
Die Aussichtslosigkeit des Projekts einer proletarischen Allegorese
Simone Weil ist sich über die Unzeitgemäßheit und Weltfremdheit ihres politischreligiösen Programms vollkommen im Klaren. In einem ihrer letzten Briefe vom 4. August 1943 schreibt sie, ausgehend von einer Betrachtung zu Shakespeares "King Lear":
"Nur Wesen, die nach ganz unten, in den tiefsten Abgrund der Demütigung gefallen sind, […] haben die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen. Alle anderen lügen. […] Das Äußerste an Tragik besteht darin, dass die Wahnsinnigen, die weder Professorentitel noch Bischofsstäbe tragen und deren Reden kein Mensch Aufmerksamkeit zu schenken braucht - weil alle Welt ja weiß, dass sie wahnsinnig sind -, die Wahrheit so lange und so laut sagen können, wie sie wollen: sie wird nicht gehört."7
Wenn Simone Weil die Idee der proletarischen Welt-Revolution 1942 zugunsten einer quasi-mönchischen Praxis des exercitium spirituale fallen lässt, dann bewegt sie sich damit in der Tat außerhalb aller gängigen Denk-, Rede- und Wahrnehmungsordnungen. Es ist evident, dass weder Professoren noch Bischöfe, weder Gewerkschafter noch Unternehmer, kurzum: niemand, der sich auf einen sozialen Status berufen kann, ihre radikalen Thesen ernst nehmen wird. Die von Weil beschworene Allegorese industrieller Maschinen muss ihnen notwendig lächerlich, wenn nicht ärgerlich erscheinen. Das Problem des proletarischen Ennui werden sie auch weiterhin nicht zu lösen suchen, indem sie die proletarische Arbeit religiös fundieren und in eine asketische Praxis der Aufmerksamkeit verwandeln, sondern indem sie die Arbeiter-Sklaven mit sämtlichen Mitteln der laufenden Kriegs-, Kultur- und Konsumgüterindustrie immer weiter zerstreuen.
Das Vergebliche, Aussichtslose, aber auch Verrückte der proletarischen Allegorese, mit der Weil 1942 auf die Erfahrung des historisch gescheiterten Sozialismus, das heißt dessen monströse Verwandlung in zwei totalitäre Imperialismen reagiert, ist ihrem Entwurf von vornherein eingeschrieben. Es verleiht dem Text - Simone Weil stirbt am 24. August 1943 in Ashford - den Status eines erratischen Testaments, das im Bewusstsein des spurlosen Verschwindens der Besiegten geschrieben ist8. Es richtet sich nicht (mehr) an die geschichtliche Welt, in der es kein Gehör findet, sondern legt in ihr - sub specie aeternitatis - Zeugnis ab von der Aussichtslosigkeit und vom Scheitern einer lediglich innerweltlich konzipierten Befreiung, zugleich aber auch von der Dringlichkeit einer metaphysischen Neuorientierung. Wenn Weils Projekt einer proletarischen Allegorese von vornherein mit dem Siegel des skandalös Weltfremden geschlagen ist, dann vor allem deswegen, weil es ein dezidiert religiöses Verständnis der Arbeit, aber auch des Poetischen und Ästhetischen erneut einfordert und damit sämtlichen säkularen Evidenzen, Kategorien und Denkroutinen der Moderne eine Absage erteilt.
Das Motiv der unzeitgemäßen Geste Weils, welche die Metaphysik- und Religionskritik der modernen Philosophie und Ästhetik außer Kraft setzt, liegt historisch auf der Hand. Angesichts der mörderischen Weltkriegskatastrophe geht es um die Verwandlung einer durch und durch korrupten und kranken Welt, in der nichts und niemand den mörderischen Zusammenbruch aufzuhalten vermochte, kein Humanismus und kein Sozialismus, keine Bildung und keine Kultur. Man würde der Radikalität der Überlegungen Simone Weils, die der laufenden Katastrophe auf Augenhöhe zu antworten suchen, deswegen nicht gerecht, würde man sie lediglich im Sinn eines konservativen Kulturpessimismus oder als ängstliche Rückkehr zur Metaphysik und zu den Glaubensgeheimnissen verstehen, das heißt, als eine Art regressiver Flucht in die Vergangenheit.
Die Hinwendung zum Christentum - die für Weil einhergeht mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der imperialen Idolatrie der römischen Kirche und ihrem Pontifex Maximus, mit den kirchlichen Dogmen, insbesondere mit denen des tridentinischen Konzils, und mit einer unmissverständlichen Verurteilung der "totalitären, auf Macht bedachten und vernichtenden Christenheit"9 - stellt nirgendwo eine nostalgische Rückkehr zu etwas Vergangenem dar; sie meint auch keine ignorante Missachtung oder Verwerfung der technisch-wissenschaftlichen Moderne10. Sie zielt vielmehr auf die erneute Öffnung der hasserfüllten Gegenwart für die Erfahrung göttlicher Transzendenz und eine unbedingte Verpflichtung, die jene für die Menschenwesen einfordert, und zwar im Gegensatz zu jener politischen Ordnung, die von der Französischen Revolution ins Werk gesetzt worden ist:
"Die Männer von 1789 erkannten die Wirklichkeit dieser Sphäre [der Transzendenz] nicht an. Was sie anerkannten, waren nur die menschlichen Angelegenheiten. Deshalb gingen sie vom Begriff des Rechts aus. Gleichzeitig aber wollten sie absolute Prinzipien aufstellen. Dieser Widerspruch stürzte ihr Denken in eine Verwirrung, die noch heute einen Großteil der politischen und gesellschaftlichen Verwirrung ausmacht. Der Bereich des Ewigen, Allgemeingültigen, Bedingungslosen ist etwas anderes als der Bereich der faktischen Bedingungen. […] Alle Menschen sind an dieselben Pflichten gebunden, auch wenn diese, je nach Lage, unterschiedlichen Handlungen entsprechen. Kein Mensch, wer auch immer er sei, kann sich diesen Pflichten entziehen, ohne ein Verbrechen zu begehen. […] Es besteht eine Verpflichtung jedem Menschen gegenüber allein aufgrund der Tatsache, dass er ein Mensch ist, ohne dass noch eine andere Bedingung hinzukommen müsste, und zwar auch dann, wenn jener seinerseits keine Pflicht anerkennt. […] Diese Pflicht beruht nicht auf Übereinkunft. Denn alle Vereinbarungen und Konventionen können nach dem Willen der Vertragspartner geändert werden. […] Diese Pflicht ist ewig, sie entspricht der ewigen Bestimmung des Menschen. Und nur der Mensch hat eine ewige Bestimmung, nicht aber die einzelnen Gesellschaften, Staaten oder Gemeinwesen." 11
Metaphysische Umorientierung
Insistiert Simone Weil in ihrer letzten großen Schrift, "L'enracinement" (Die Einwurzelung), auf der notwendigen Anerkennung eines absoluten Fundamentes für die Gesellschaften und ihre normativen Ordnungen, so bedeutet die Konversion ihres anarcho-syndikalistischen Engagements keineswegs dessen nachträgliche Zurücknahme und Entwertung; die christliche "Kehre" meint nicht die Verabschiedung jeder öffentlichen Parteinahme für politische Anliegen. Weil begreift die religiöse Konversion nicht als Leugnung ihrer militanten, politischen Vergangenheit, stattdessen als Transformation, Vertiefung und Radikalisierung ihres Engagements für diejenigen, die an den Verhältnissen sprachlos leiden12.
Die Befreiung des Proletariats aus der Sklaverei ist nicht allein zu bewerkstelligen - Weil gewinnt diese Einsicht während ihres Fabrikaufenthalts in den Jahren 1934 und 1935 - mit Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, besseren Wohnbedingungen, das heißt mit bloßen politisch-juridischen Maßnahmen. Das Wesentliche, nämlich die konkrete Arbeitspraxis, die Handgriffe, die Logik der Maschinen, die Raumordnung der Fabriken, die Schichtwechsel, die Beschaffenheit der Arbeitsplätze, die Segmentierung der Zeit, bleibt davon unberührt. Die Befreiung bedarf deswegen zuallererst einer metaphysischen Umorientierung, aus der allein die notwendigen technischen Veränderungen im Produktionsablauf beziehungsweise im Verhältnis der Arbeiter untereinander, zu ihrer Arbeit, zu den Maschinen, den Materialien, den Konsumenten hervorgehen könnten. Mit dem Wechsel der Eigentümer oder einem Umsturz der Eigentumsverhältnisse ist es nicht getan:
"Man kann die proletarischen Existenzbedingungen nicht mit juridischen Maßnahmen beseitigen, weder durch die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien noch durch die Abschaffung des Privateigentums, weder durch die Stärkung der Gewerkschaften noch durch Betriebsräte oder Einstellungskontrollen. All diese Maßnahmen, die vorgeschlagen worden sind, […] sind rein juridischer Natur. Das proletarische Unglück und die Gegenmittel zu diesem Unglück sind aber gerade nicht auf der Ebene des Rechts angesiedelt. Marx hätte diesen Sachverhalt ohne weiteres formulieren können, wenn er gegenüber seinem eigenen Denken etwas redlicher gewesen wäre. Dass das Unglück des Proletariats nicht in den Rechtsverhältnissen zu suchen ist, ist eine Einsicht, die sich den besten Stellen des Kapitals entnehmen lässt."13
Insgesamt folgt Weils Kritik an den politischen Ordnungen der Gegenwart, das heißt der Gegenwart der 30er und 40er Jahre, zwei großen argumentativen Linien. Zum einen geht es um die kritische Analyse der Begrifflichkeiten und der Widersprüche, in denen die bisherige Politik der Arbeiterbewegung befangen ist: um die Kritik des illusionären, politisch desaströsen Glaubens an eine "natürliche" Allianz zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Befreiung des Proletariats; die Kritik des nicht minder illusionären, letztlich magischen Glaubens an die Revolution, mit der wie durch Zauberhand die herrschenden, konkreten Produktions- und Arbeitsbedingungen beseitigt würden; die Kritik des blinden Vertrauens in den technischen Fortschritt und der Idolatrie der Großindustrie; die Kritik eines repressiven Parteiapparates, der jede individuelle Freiheit liquidiert14.
Zum anderen enthält Weils Kritik den Versuch, das sozialistische Engagement - nach der gewaltsamen Zerstörung jedes freiheitlichen Sozialismus durch den Stalinismus - neu zu verankern und das christliche Fundament der sozialistischen Befreiungshoffnungen erneut freizulegen. Es war ein verhängnisvoller Trugschluss der marxistisch orientierten Organisationen zu glauben, der universal konzipierte Kampf für Gerechtigkeit, Würde, solidarisches Verhalten, nicht-verdinglichende Organisation, menschliche Arbeitsbedingungen könnte ohne den Bezug auf religiöse, und genauer: auf christliche Ideen beziehungsweise allein aus der Immanenz der Welt, wie sie ist, bewerkstelligt werden15. Die Entmenschlichung kennt keine Grenze, so die Einsicht Weils, wenn die Idee des Menschlichen keinen Halt in Prinzipien findet, die der politischen Manipulierbarkeit und Beliebigkeit entzogen sind, und wenn das Absolute einzig in der prometheischen Figur des Menschenwesens gedacht wird, das mit dem Attribut der Allmacht ausgestattet wird, so dass aus vagen apokalyptischen Träumereien (wie sie im Elend des proletarischen Ennui entstehen) unversehens politisch ausagierte Gewalt- und Rachephantasien werden.
Von der Linksintellektuellen zur christlichen Mystikerin
Das Ärgernis, das von Simone Weils politischem Engagement ausgeht, besteht ohne Zweifel in der expliziten Affirmation des Religiösen und des Glaubens, der eine anarcho-syndikalistisch engagierte Linksintellektuelle jüdischer Herkunft in eine christliche Mystikerin verwandelt. Genauer müsste man allerdings sagen: Implizit hatte der christliche Glaube das Engagement der Linksintellektuellen je schon getragen. Weils spirituelle Autobiographie (aber auch Georges Batailles Roman "Le Bleu du Ciel" von 1935) bezeugt die Präsenz christlicher Motivationen im politischen Kampf der Linksaktivistin Simone Weil bereits lange vor ihrer eigenen expliziten Affirmation des christlichen Glaubens und der übernatürlichen Liebe, wie sie in den späten geistlichen Aphorismen und Notaten zum Ausdruck kommt.
Die christliche Mystik bricht alles andere als zufällig und überraschend aus dem düsteren Himmel der Kämpfe der 30er Jahre über eine engagierte linke Philosophin herein. Im Engagement für die Freiheit des internationalen Proletariats, für die Arbeitslosen und die Entrechteten in den Kolonien war der Bezug auf den universalen christlichen Gott immer schon mit enthalten. Es gibt deswegen nicht den geringsten Grund, an der Darstellung zu zweifeln, die Weil in ihrem Brief vom 14. Mai 1942 an Pater Joseph-Marie Perrin OP von ihrem spirituellen Lebensweg und ihrer offenen Hinwendung zum Christentum gegeben hat:
"Nach meinem Fabrikjahr, bevor ich wieder als Studienrätin arbeitete, war ich mit meinen Eltern nach Portugal gefahren. Ich ging dort allein in ein Dorf. Durch die Fabrikarbeit war ich am Boden zerstört. Die Begegnung mit dem Unglück hatte meine Jugend abgetötet. […] Noch heute habe ich den Eindruck, dass es sich um ein Missverständnis handeln muss - ein Missverständnis, das sich schnell aufklären wird -, wenn jemand ohne Brutalität zu mir spricht. Ich habe in der Fabrik ein für allemal das Mal der Sklaven erhalten, das Brandmal der Sklaven, das die Römer den von ihnen am meisten verachteten Sklaven auf die Stirn brannten. Ich habe mich seither immer als Sklavin betrachtet. In diesem elenden körperlichen und geistigen Zustand bin ich damals abends, es war Vollmond, in das kleine portugiesische Dorf am Meer gegangen, das genauso elend war wie ich selbst. Man feierte das Fest des Kirchenheiligen, und es gab eine Lichterprozession. Die Fischerfrauen fuhren mit Booten auf das Meer hinaus, trugen Kerzen und sangen dabei Lieder, die von einer unvorstellbaren Traurigkeit waren. […] In diesem Augenblick hatte ich urplötzlich die Gewissheit, dass das Christentum die Religion der Sklaven ist und dass Sklaven unmöglich nicht dem Christentum angehören können, auch ich nicht."16
Die Frage nach der Christlichkeit sozial-politischer Befreiungsaktionen
Es gibt, wie gesagt, keinen Grund, an Weils Darstellung ihrer religiösen Erfahrungen und - was die liturgischen Formen angeht - an ihrer Katholizität zu zweifeln. Wichtiger als die begrifflich unangemessene Frage nach der Faktizität oder Fiktionalität der geschilderten Gotteserfahrung, ist die Frage nach der politisch-religiösen Logik, die Weil von Publikationen in der Zeitschrift "La Révolution prolétarienne" über ihre kurze Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg zu den späteren, mystischen Christus-Bekenntnissen geführt hat.
Was mit dem Denkweg Simone Weils und ihrem politisch-religiösen Engagement zur Debatte steht, ist die Frage nach der "Christlichkeit" der sozial-politischen Befreiungsaktionen auf Seiten der internationalistischen Arbeiterbewegung, anders gesagt: die Frage nach dem Verhältnis zwischen revolutionären Hoffnungen auf der einen und religiösen Heilserwartungen auf der anderen Seite. Für Weil stehen beide nicht im geringsten Widerspruch zueinander. Ganz im Gegenteil. Das Christentum als universale Religion der Sklaven und der "Mit-Leidenschaft", als die Religion derer, die sich in ihren Klagerufen an den hilflos leidenden Gott wenden17, erscheint als logische Konsequenz und praktische Erfüllung des politischen Engagements.
Umgekehrt besteht der verhängnisvolle Irrtum der Arbeiterbewegung, die im Verlauf des späten 19. und des 20. Jahrhunderts in den Bannkreis eines szientistischen Marxismus geraten ist, für Weil vor allem darin, sämtliche religiöse Inspirationsquellen verstopft und bekämpft, sich dadurch aber auch genau jener Menschlichkeit beraubt zu haben, die den politischen Kampf womöglich davor hätte bewahren können, immer tiefer im Strudel des Verbrechens und der Rache zu versinken.
Die Unmittelbarkeit, mit der Simone Weil christliche Glaubenswahrheit und Sozialpolitik miteinander verknüpft, widerspricht selbstverständlich der Trennung von Kirche und Staat im Rahmen des modernen, säkularen Staates, in dem die Zuständigkeiten für Diesseits und Jenseits bekanntlich kategorisch unterschieden werden, um sie möglichst eindeutig auf die entsprechenden Institutionen aufzuteilen. Weil widerspricht dieser Neutralisierung und institutionellen Kadrierung des Religiösen indes genau so - und deswegen ist die Verknüpfung auch weniger überraschend, als es auf den ersten Blick erscheinen mag -, wie die revolutionäre Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung dem bürgerlichen Staat historisch von Anfang an widersprochen hatte. Sie hat sich der Trennung von Säkularem und Geistlichem nicht nur im Sinn der Forderung nach der restlosen, atheistischen Beseitigung der Religion, das heißt nach der Emanzipation von jeder Religion entgegengestellt, sondern sie hat sich dieser Trennung im utopischen Sozialismus - bei Henri de Saint-Simon, Philippe Buchez, Louis Blanc, Louis Cabet, aber auch bei Wilhelm Weitling, Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig oder Gustav Landauer - im Sinn der Forderung nach einer neuen Religion beziehungsweise nach einem neuen Christentum entgegengestellt.
Eine zum Untergang verurteilte Sackgasse?
Die bürgerliche Moderne war kein Verbündeter, sie war der zu überwindende Gegner der sozialistischen Bewegungen, die von Anfang an intensiv religiös inspiriert waren. Und sie bekämpften entschieden, ob nun im "ikarischen Kommunismus" Cabets oder im "Bund der Gerechten" Weitlings, die bourgeoise Trennung von Religion und Politik. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen: Die sonntägliche Nächstenliebe bringt es, falls überhaupt, nur zur tränenreichen Verteilung von Almosen an die Armen und Gefallenen, um den an den Werktagen angehäuften Rest umso produktiver für sich arbeiten zu lassen. Sonntags mag die christliche Liebe gelten, am Werktag gilt das prosaische bürgerliche Gesetz, das von der Liebe absieht und das Jammertal der unsolidarischen Besitzstände befördert.
Gegen diese hypokritische Trennung von säkularem Gesetz und "charity" lehnt sich, wie gesagt, der gesamte utopische Sozialismus des 19. und 20. Jahrhunderts auf, wenn er die politische Legitimation des herrschenden Unrechts in Frage stellt und ihnen mit religiösen Erneuerungsbestrebungen antwortet. Er wendet sich damit - und zwar im Namen der christlichen Moral - gegen den egoistischen Individualismus und die planvoll organisierte Misere der Besitzlosen. Hugo Ball hat in seiner 1919 erschienenen Studie "Zur Kritik der deutschen Intelligenz" mit polemischem Nachdruck an den religiösen Impuls des europäischen Sozialismus nichtmarxistischer Provenienz erinnert:
"In Frankreich gab Buchez den religiösen Momenten des Saint-Simonismus eine praktische Wendung, indem er verlangte, die Gebote der christlichen Moral auf sozialem Gebiet zu verwirklichen. Louis Cabet lehrte unter ungeheurem Beifall: 'Der ikarische Kommunismus ist das Christentum, das Jesus Christus eingesetzt hat, in seiner ursprünglichen Reinheit, denn das Christentum ist das Prinzip der Bruderliebe, der Gleichheit, der Freiheit, der Assoziation und der Gütergemeinschaft.' […] Ist es ein Zufall, dass jene beiden Männer, die Bakunin die Begründer des revolutionären Sozialismus nennt, Cabet und Louis Blanc, zugleich revolutionäre Christen waren? […] Man glaube doch nicht, dass das Wissen die Religion ausschließt oder die ökonomische Analyse den Christus. Sie schließen das theokratische Dogma aus und den Jenseitskult, nicht aber die Liebe, das Herz und den Opfermut. Die Gerechtigkeit ist es, auf der man bestehen muss."18
Es ist diese romantisch-christliche Traditionslinie des Kommunismus und des religiösen Sozialismus, die auch Simone Weil im Auge hat, wenn sie 1938 schreibt:
"Ich glaube nicht, dass die Arbeiterbewegung wieder etwas Lebendiges werden kann, solange sie ihre Inspirationsquelle nicht wieder in jener Tradition sucht, die von Marx und den Marxisten bekämpft und auf völlig irrationale Art und Weise verächtlich gemacht worden ist."19
Aus der Perspektive dieser "utopischen" Tradition der Arbeiterbewegung nimmt sich die Verwandlung einer Anarcho-Syndikalistin in eine christliche Mystikerin nicht als bizarrer Verrat an der proletarischen Sache aus, vielmehr als kontinuierliche Bewusstwerdung und Entfaltung jener Inspirationsquellen, die den Anarcho-Syndikalismus je schon getragen hatten.
Verwunderlich (und ärgerlich) ist Weils Metamorphose lediglich aus der Sicht der beiden ideologischen Sieger des Zweiten Weltkriegs: des marxistischen Sozialismus zum einen, dem es im Verlauf des 20. Jahrhunderts gelungen ist - und zwar durch die mörderische Ausschaltung aller anderen Rivalen, die Begriffe des Kommunismus und des Sozialismus monopolistisch in Beschlag zu nehmen; zum anderen des bürgerlichen Liberalismus, der sich gegen alle sozialistischen Umsturzversuche erfolgreich behaupten konnte. Aus beiden Blickwinkeln erscheint der Denkweg Simone Weils als eine zum Untergang verurteilte Sackgasse. Den einen gelten Weils Überlegungen als zurückgeblieben, weil sie die wissenschaftliche Religionskritik Marx' nicht hinreichend berücksichtigen; den anderen erscheint Weil als frömmelnde Fundamentalistin, die in ihrem religiös sozialistischen Eifer leider nicht verstanden hat, dass die göttliche Liebe in Fabriken nichts zu suchen hat, so dass sie, historisch ein paar Jahrhunderte zu spät gekommen, von vor-modernen Allegorese-Welten schwärmen muss. Das Erratische und Unzeitgemäße der Überlegungen Simone Weils wird vor dem Hintergrund der Siegergeschichte des Zweiten Weltkriegs jedenfalls verständlicher.
Gegengeschichte zur Historiografie einer säkularisierenden Moderne
Wenn es sinnvoll ist, Simone Weils Texte in Erinnerung zu rufen trotz ihrer (angeblichen) Verrücktheit, das heißt trotz der historischen Tatsache, dass die religiös motivierte Arbeiterbewegung sich weder gegen den Marxismus-Leninismus noch gegen den bürgerlichen Liberalismus durchsetzen konnte, dann vor allem deswegen, weil sie eine vergessene Gegengeschichte zur dominant gewordenen Historiografie einer angeblich je schon säkularen, sich immer weiter säkularisierenden, de-christianisierten Moderne enthalten. Die Vorstellung, dass die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts immer schon säkularistisch, bürgerlich-demokratisch orientiert gewesen wäre, hat sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchgesetzt - und zwar als massive Verdrängung der intensiv geführten politisch-religiösen Konflikte, die im gesamten 19. und 20. Jahrhundert virulent gewesen waren.
Realpolitisch mag Simone Weils Idee einer proletarischen Allegorese eine große Verrücktheit gewesen sein. Als Projekt, das an das prinzipielle Ungenügen jedes rein säkularen Lösungsversuchs sozialer (Un-)Gerechtigkeit, der Finalität der Arbeit, der Sinnlosigkeit des Konsums und der Zerstreuung erinnert, ist es begrifflich vollkommen konsistent und zeichnet sich einer langen Traditionslinie des Sozialismus ein.
Ein Zeugnis dieser Verknüpfung ist im Übrigen auch der "Weihnachtsbrief", den Rosa Luxemburg im Dezember 1917 aus der Haft im Breslauer Gefängnis an Sonia Liebknecht geschrieben hat. Der Konversionserfahrung Weils steht Luxemburgs Brief nur insofern nach, als er die Ur-Szene der göttlichen Liebe im Leiden nicht nur aus der Perspektive der Beobachtung beschreibt:
"Jetzt ist es ein Jahr, dass Karl in Luckau sitzt. [...] Es ist mein drittes Weihnachten im Kittchen, aber nehmen Sie es ja nicht tragisch. Ich bin so ruhig und heiter wie immer. Gestern dachte ich: Wie merkwürdig das ist, dass ich ständig in einem freudigen Rausch lebe - ohne jeden besonderen Grund. […] Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit des Winters - und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude. […] Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muss wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst; die tiefe nächtliche Finsternis ist so schön und weich wie Sammet, wenn man nur richtig schaut. Und […] unter den langsamen schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben - wenn man nur richtig zu hören weiß."20
Rosa Luxemburgs Erfahrung einer unerschöpflichen inneren Heiterkeit, die noch im Knirschen des Sandes unter den Schritten ihrer Bewacher ein Lied vom Leben zu hören versteht, verfährt nicht weniger allegorisch als Simone Weils Betrachtung des Ewigen in den Abläufen der Fabrikarbeit. Sie transzendiert das, was traurig in sich selbst gefangen ist, in Bruchstücke eines Anderen, das bereits da ist. Wenn man nur richtig zu hören versteht: das Übersinnliche im Sinnlichen, das Freie im Gefangenen, das Kommende im Vergangenen, das Poetische im Prosaischen, das Lebendige im Toten. Revolutionär ist genau diese Öffnung der Welt.