Wer nach Magdeburg kommt - Stadt Ottos des Großen und heute Hauptstadt des Bundeslandes Sachsen-Anhalt - stößt in der zweimal, 1631 und 1945, schwer zerstörten Stadt noch immer auf die Narben des Krieges. Ein herausragender Ort der Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt ist das „Denkmal des Krieges im Dom zu Magdeburg“ von Ernst Barlach (Abb. 1). Dieses Anti-Kriegs-Denkmal wurde 1929 zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges errichtet. In seiner Eindringlichkeit und künstlerischen Ausdruckskraft erreicht das „Magdeburger Mal“ eine Intensität, die kaum zu überbieten ist.
Die Wahrheit des Krieges zeigen
Ernst Barlach, 1870 in Wedel bei Hamburg geboren, hat sein „Denkmal des Krieges“ als sein „größtes und verantwortungsreichstes“ plastisches Werk bezeichnet. Der Prozess der Entstehung ist über Jahre hin ausführlich von ihm selbst dokumentiert. Fünf Jahre, von 1924 bis 1929, hat er am „Denkmal des Krieges im Dom zu Magdeburg“, wie er es selbst genannt wissen wollte, gearbeitet. In die gleiche Zeit fällt die Fertigstellung des berühmten „Schwebenden“ mit den Gesichtszügen von Käthe Kollwitz, 1927 als Ehrenmal für die Kriegsopfer im Dom zu Güstrow eingeweiht.
Im Jahr 1929 ist das „Magdeburger Mal“ fertig und wird zum Totensonntag zunächst „probeweise“ im Dom aufgestellt - gegen den hinhaltenden Widerstand des Dompredigers Ernst Herbert Martin, aktives Mitglied des „Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten“, und des Domgemeinde-Kirchenrates. Erst nach staatlichem Druck findet das Denkmal Mitte 1930 endgültig seinen Platz im Dom. Der preußische Staat, seit der Säkularisierung 1810 Eigentümer des Domes, hatte Barlach beauftragt, eine „Kriegerehrung“ für die „für Kaiser, Gott und Vaterland“ Gefallenen im Magdeburger Dom zu schaffen. Barlach hat diesen Auftrag als eine geistige und künstlerische Herausforderung angenommen - aber ganz anders, als die meisten seiner Zeitgenossen sich das vorstellten. Gegen die nationalistisch und antijüdisch orientierten Kräfte der 1920er Jahre, die „heroische“ Kriegerdenkmäler forderten, bezieht Barlach Position: Kein „Krieger-Denkmal“, sondern ein „Denkzeichen“ gegen den Krieg soll es sein, fernab aller Verherrlichung gefallener Kriegshelden. Barlach will damit die andere, die schreckliche Seite des Krieges sichtbar machen.
Im August 1914, als der Erste Weltkrieg beginnt, teilt Barlach noch die allgemeine Kriegsbegeisterung. Er ist davon überzeugt, Deutschland stehe auf der Seite der Angegriffenen und müsse sich verteidigen. Er spricht vom
„Vaterland […], das erhalten werden muss, […] das Land aus dessen Klima man entstanden ist, das Land der deutschen Sprache, an dem man gestalten kann auf seine Weise. Mutterlaut, Vaterton, Kinderschmerz, also Familie“1.
Barlach ist 44 Jahre alt, herzkrank und deshalb kriegsuntauglich; er leidet darunter, nicht dabei sein zu können. Seine Sehnsucht nach Überwindung geistiger Stagnation und „Bürgerenge“ führt ihn in eine Verklärung des Krieges als „Berührung der absoluten Kraft“, als „Courage zum Göttlichen“ durch die „allergrößte Gewalt“ 2. Doch die wenigen Monate als freiwilliger Landsturmsoldat im Winter 1915/16 öffnen ihm die Augen für den wahren Charakter des Krieges. Er denunziert dieses „Müssen, Wollen, Verbluten für Idee und Vorurteil, dies verblödende Rechtsetzen seiner Völkerart gegen die fremde“ als „chaotische Wahrheit“3. Barlach bekennt seine persönliche Verirrung in einem Brief an August Gaul vom Februar 1916:
„Wie man sich schämt über das, was man so geredet und gezeichnet! Und wie man zu würdigen lernt, was da draußen an Leiden geleistet wird!“<sup4<> </sup4<>
Erst allmählich entwickeln sich um 1933 aus seiner Kriegs-Ablehnung Konturen einer programmatischen Friedensarbeit:
„Den anderen verstehen wollen, schließlich auch verstehen lernen, dem Gesetz der Eigenheit gehorsam das Gesetz des Andersseins achten möchte als schwerer und nicht lange aufschiebbarer Anfang der Arbeit am Frieden gelten.“5
Wie hat Barlach dieses persönliche Umdenken - von der Verherrlichung des Krieges zur Arbeit am Frieden - in der eigenen künstlerischen Bildsprache aufgenommen und umgesetzt? Das wird sichtbar an seinem „Magdeburger Mal“.
Läuterung des Menschen zur Friedenssehnsucht
Zunächst beeindruckt die große Geschlossenheit der Komposition, die sich organisch in die kleine gotische Konche in der Ostwand des nördlichen Seitenschiffes des Domes einfügt. Das eigentliche Mahnmal ist aus drei großen geleimten Eichenblöcken zusammengesetzt. Vertikale, horizontale und diagonale Linien verbinden die einzelnen Gestalten zu einem Ganzen. In der Mitte dominiert das Kreuz mit den
Jahreszahlen 1914 bis 1918. Es hält die sechs Figuren des Mahnmals als Teilnehmer des gemeinsamen Kriegs-Geschehens zusammen. Barlach schreibt in einem Brief an einen Freund:
„Ein zusammengedrängtes Häuflein Kämpfer über einem Gräberfeld. Da sind Tote, Niedergebrochene und Standhaltende […]. Im Verlaufe der Arbeit steigerten sich die unteren Gestalten ins Symbolhafte, die oberen wurden zu Typen. Zuerst als zwischen die Kämpfer gestelltes Grabkreuz gedacht, wurde das Kreuz das Zeichen der Opferwilligkeit, des Haltes an Begriffe, die zur Hingabe an überpersönliche Zwecke mahnen. Ob christlich-dogmatisch, ob nur allgemein als Vertrauen ins Walten des Geschicks gebend, seine Form ist mir als Künstler höchst bedeutend, ohne einseitige Deutung zu beanspruchen. Es gibt der Gruppe Zusammenschluss […].“6
Die drei stehenden Krieger korrespondieren mit den drei Halbfiguren im unteren Teil des Denkmals. Oben in der Mitte, am Kopf verwundet: der Wissende, sich der Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst Werdende, desillusioniert; der Typ des geistigen Führers mit ins Leere gehendem Blick, Sinnbild für die gescheiterte Idee, geopferte Hoffnung und schuldhafte Verantwortung. Links der schon ältere deutsche Landser mit dumpf-verschlossenem Gesichtsausdruck, den Stahlhelm tief ins Gesicht gedrückt; der Typ des Kriegserfahrenen, in soldatischem Gehorsam gefangen und nichts begreifend. Rechts der Typ des Naiven, des ahnungslosen, selbstgefälligdumm wirkenden jungen Kriegsfreiwilligen, der die Schrecken des Krieges noch nicht kennt, knabenhafter Neuling in dieser Welt der Ungeheuerlichkeiten.
Unten die Halbfiguren, deren Charakterisierung auf Barlach selbst zurückgeht: „Not, Tod und Verzweiflung“7. Sie symbolisieren die schreckliche Kehrseite, die unmittelbaren Folgen des Krieges. Links die Not: eine Trauernde, ohnmächtig unter einem Tuch mit zusammengepressten Fäusten als Ausdruck höchster Not, vor der sie sich verbirgt, weil ihr Anblick nicht auszuhalten ist. In der Mitte „der mit aufgerissenem Mund in sich versunkene weinende Tod“8, eine skelettierte Figur mit verwesendem Kopf unter dem viel zu großen, ins Gesicht gerutschten Stahlhelm, die knochigen Skelett-Hände übereinander gelegt, Sinnbild des Massensterbens auf den Schlachtfeldern des „Großen Krieges“. Rechts die Verzweiflung: Entsetzen über das Gesehene und Geschehene, die Augen geschlossen, die Hände an den Kopf gepresst, damit er angesichts des Unfassbaren nicht zerspringt, die Gasmaske aus dem Giftkrieg noch auf der Brust. Ein Gefühl aus Entsetzen, Schrecken und Ratlosigkeit bleibt beim Betrachter zurück.
Die „Spannung“, die Barlach mit den beiden Bild-Ebenen seines Denkmals aufbaut, bleibt erhalten. Es ist ungewiss, ob die „Bändigung von zwei Gegensätzen zur Einheit“ gelingt. Eine visionäre Hoffnung auf menschliche Selbsterkenntnis hat Barlach bei seiner Arbeit am „Magdeburger Mal“ angetrieben, keine „allgemeingültige“ oder gar versöhnende theologische Deutung der verstörenden Kriegserfahrung. 1938 schreibt er:
„Was der Mensch gelitten hat und leiden kann, seine Größe, seine Angelegenheiten, (inklusive Mythos und Zukunftsraum), dabei bin ich engagiert.“9
Vom „Denkzeichen der schmerzhaften Erfahrung einer neuen Dimension des Krieges“ soll „endlich ein Umdenken des geistigen Deutschlands von metaphysischer Verklärung der Gewalt als ‚Läuterung des Menschen‘ zur Friedenssehnsucht“10 bewirkt werden. Da wird Barlach zum Friedenspädagogen, der darauf hofft, dass die Schrecken des Krieges in eine Umkehr zum Frieden führen. Er nimmt die viel zitierte Präambel der UNESCO von 1948 vorweg:
„Da Kriege im Geiste des Menschen entstehen, müssen auch im Geiste des Menschen die Werke der Verteidigung des Friedens errichtet werden.“
Kunst als Friedensarbeit, das Kunstwerk als Provokation zum Frieden - das ist in der nationalistisch und chauvinistisch aufgeladenen Atmosphäre der Weimarer Republik nach der „Schmach von Versailles“ ein ungeheures, lebensgefährliches Wagnis, dessen Folgen der Künstler spätestens ab 1928 zu spüren bekommt.
„Undeutsch“ und „rassefremd“
Das „Barlachsche Menschentum“, wie es in den Figuren des Magdeburger Mals dargestellt sei, wird von Alfred Rosenberg, dem Chefideologen der NS-Diktatur, als „undeutsch“ und „rassefremd“ diffamiert. In der Streitschrift „Wider den Ungeist“ setzt sich Barlach 1929 ironisch mit seiner Stigmatisierung als jüdischer und von Juden „gemachter“ Bildhauer auseinander. Der Druck aus der Domgemeinde und dem Evangelischen Konsistorium nimmt zu - wegen Barlachs grundsätzlicher Infragestellung militaristisch-nationalistischer Dogmen, seiner angeblich unchristlichen Haltung zum Krieg und seines Pazifismus. 1934 schreibt Barlach einen Brief an den Provinzialkonservator Hermann Giesau in Halle und erinnert an den geistlichen Auftrag des Ortes:
„Ein christlicher Dom und - Pazifismus eine Bloßstellung? Ich schlug die Bibel auf und las Ev. Matthäi 5, Bergpredigt, erstaunte sehr, sehr! Entweder ist das jüdischer Dreh von einem gewissen Christus oder desgleichen von einem christlichen Domprediger. Ich werde darüber nachdenken. Neulich sagte jemand: Das ist ja alles nicht so gemeint. Ich frage dagegen, warum dann überhaupt diese großen Anstalten! Das Volk, dem Christus predigt, entsatzte sich über seine Lehre ‚Kap.7‘ […]. Soll ich etwa von der Rüstungsindustrie sprechen, die allerdings für spätestens 1934 einen neuen Krieg braucht? Ich bedaure und verfluche sie, denn ich glaube, einstweilen ist unser Bedarf gedeckt, und dem nächsten Krieg schaut der dann folgende schon über die Schulter. Ich wünsche mit allen Seelenkräften, dass unsere Dome stehen bleiben, aber die Aussichten dafür sind gering.“11
1934 beantragt der Domgemeinde-Kirchenrat die Entfernung des Denkmals aus dem Dom und seine „Überweisung“ in die Berliner Nationalgalerie, und so geschieht es. 1955, 21 Jahre später, kehrt das „Magdeburger Mal“ an seinen alten Platz im Dom zurück, still und heimlich, als wäre nie etwas gewesen. Freunde Barlachs hatten dafür gesorgt, dass es von Berlin nach Güstrow gelangte, wo es den Zweiten Weltkrieg überdauerte. Erstmalig findet am 16. Januar 1981, dem Gedenktag der Zerstörung Magdeburgs im Januar 1945, ein Friedensgebet vor dem Barlach-Denkmal statt. Der Sockel des Denkmals wird wieder zum Altar, das Grabkreuz zum christlichen Hoffnungszeichen, schreibt Domprediger Giselher Quast in einem Beitrag über die Friedensgebete am Barlach-Mal12.
Friedensgebete am Magdeburger Mal
Die alljährlich im November stattfindende „Ökumenische Friedensdekade“ wird von täglichen Friedensgebeten vor dem Barlach-Mal begleitet. Das ganze Jahr über findet „am Barlach“ donnerstags um 18.00 Uhr das wöchentliche Friedensgebet im Dom statt. Eine auf dem Boden vor dem Mal installierte Fläche in Kreuzesform nimmt die Fürbitt-Lichter auf, die Besucher und Beter entzünden.
Mitte der 80er Jahre werden die Friedensgebete am Barlach-Denkmal zu Orten, an denen sich die neu entstandenen Friedens- und Ökologiegruppen im Umfeld der evangelischen Kirche treffen, miteinander beten und sich austauschen. Auch die Gruppe der DDR-Ausreisewilligen entdeckt die Friedensgebete im Dom als einen geschützten Ort, um ihre Anliegen mittels Information und Fürbitte zu teilen.
1989 kommt es zu Konfrontationen zwischen den beiden Positionen „Wir wollen raus!“ und „Wir bleiben hier!“ Die Präsenz von Kräften der Staatssicherheit im Dom nimmt bedrohlich zu. Ab September 1989 finden die „Gebete um gesellschaftliche Erneuerung im Magdeburger Dom“ statt, unabhängig von den Friedensgebeten am Barlach-Mal. Bis zu 10 000 Menschen kommen montagabends zu diesen Veranstaltungen im Dom zusammen. Aus ihnen formieren sich die oppositionellen Gruppen des gewaltfreien Herbstes 1989 in Magdeburg:
„Und es waren die Friedenskerzen vom Barlachmal, die in diesen Wochen auf die Straße getragen wurden und der Garant für Gewaltlosigkeit waren. Wer im stürmischen Herbst versucht, eine kleine Kerzenflamme zu bewahren, der hat keine Hand frei, um einen Stein aufzuheben oder die Faust zu ballen […]“13.
Barlachs „Denkmal des Krieges im Dom zu Magdeburg“ ist vor 33 Jahren zum Ausgangspunkt von Gebeten für den Frieden geworden. Begonnen hat das 1929 mit ei nem wachen, kritischen Zeitgenossen und Künstler, der den Mut hatte, die Gesichter des Krieges an die Stelle der verlogenen Bilder von „Kriegshelden“ zu stellen. Ernst Barlach starb am 24. Oktober 1938 in Rostock. In seiner Streitschrift „Wider den Ungeist“ von 1929 hatte er geschrieben:
„Wollt ihr die Toten ehren, so lasst sie in ihrem Bereich der Ruhe. Spickt nicht die Tragik ihres Schicksals mit fetter Pietät, gebt zu, dass sie waren, aber nicht sind, indem ihr das Andenken vom Zweckschwall säubert, und gönnt ihnen die Vollendung, derer sie teilhaftig wurden durch Letztgültigkeit, durch Eingehen ins Unwiederbringliche […].“14