Im Münchner Stadtteil Schwabing steht im Park der Katholischen Akademie das kleine Schloss Suresnes. In den Jahren 1716/18 - nach dem Vorbild des Château de Suresnes bei Paris - erbaut für Franz Xaver Ignaz von Wilhelm, den vertrauten Kabinettsekretär des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, spiegeln sich in seiner wechselvollen Nutzung 300 Jahre der Stadtgeschichte Münchens. Auch wenn sich die Feuerwand des Zweiten Weltkrieges, die uns von dieser Geschichte trennt, nur mühsam durchdringen lässt, so öffnen doch auch kurze Episoden den Blick in eine Zeit, deren Andenken die Nationalsozialisten aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen suchten.
Ein Schauplatz in München
Das Schlösschen an der Werneckstraße blieb bis 1756 im Besitz der zuletzt hoch verschuldeten Familie Wilhelm und wechselte dann achtundzwanzigmal den Besitzer, ehe es im Jahr 1937 vom Korbiniansverein der Erzdiözese München und Freising erworben und nach Bombenschaden und Wiederaufbau 1969 der Katholischen Akademie zur Nutzung überlassen wurde. Diese ließ Schloss und Garten renovieren und hat in einem der schönsten Räume des Hauses die Privatbibliothek Romano Guardinis aufgestellt.
Die in dem kleinen Schloss und dem umgebenden Park spielende Episode der Verhaftung des damals (1919) 26 Jahre alten Studenten Ernst Toller umfasst nur wenige Wochen im Mai und im Juni dieses Jahres und blieb doch in der Erinnerung aller Beteiligten so fest verankert, dass sie ihren Kindern und Enkeln davon erzählten. Schloss Suresnes galt in München seit der Wende zum 20. Jahrhundert als ein charakteristisches Schwabinger Künstlerhaus - ein "richtiges Spuk- und Kubinhaus" hat es der in der Nachbarschaft wohnende Maler und Schriftsteller Richard Seewald genannt. In den in Atelierwohnungen unterteilten Räumen arbeiteten Musiker wie Christian Lahusen, der Kapellmeister und Komponist an den Münchner Kammerspielen war, der Komponist Harburger und im ersten Stock der Maler Hans Reichel, neben dessen Wohnung Paul Klee einen Atelierraum gemietet hatte.
München war damals kein sicherer Platz. "Die Stadt", meinte der Augenzeuge Oskar Maria Graf 1927, habe "ein bösartiges Gesicht." Paul Klee floh aus dem von "weißen" Truppen Anfang Mai eroberten München am 11. Juni 1919 in die Schweiz, der Dichter Rainer Maria Rilke hat München fluchtartig am gleichen Tag verlassen und ist nie mehr dorthin zurückgekehrt. Noch waren die blutigen Kämpfe zwischen den Anhängern der Räterepublik und den von der bayerischen Landtagsregierung zu Hilfe gerufenen Truppen in schreckhafter Erinnerung. Rund 1000 Tote wurden in München nach den Straßen- und Häuserkämpfen zwischen dem 1. und 3. Mai gezählt. Wie viele Menschen den wilden Erschießungsaktionen zum Opfer fielen, wird nie mehr ganz zu klären sein. Seit dem tödlichen Attentat auf Kurt Eisner, den Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, am 21. Februar 1919, war der politische Mord auch in Bayern eingezogen. Als am 30. April im Luitpoldgymnasium, zur Vergeltung für die Erschießung "roter" Sanitäter, zehn Geiseln erschossen wurden, brachen einzelne Einheiten der Belagerungstruppen am 1. Mai aus dem um München geschlossenen Ring aus und begannen mit den Straßenkämpfen. Der böse und sinnlose Gefangenenmord - so urteilt der Revolutionshistoriker Allan Mitchell - verwandelte "den Bürgerkrieg in ein wahres Gemetzel".
Eine geschichtliche Episode …
Von den verantwortlichen Führern der bayerischen Revolution 1918/19, zu denen Ernst Toller ohne Zweifel gehörte, entkamen nur wenige der Verfolgung, der Lynchjustiz, den Zuchthaus- und Festungsstrafen. Die Zahl der in München wegen Hochverrats verhafteten Personen soll Ende Mai 1919 annähernd 1500 betragen haben, einen Monat später, am 24. Juni, wurden noch immer 17 Personen wegen des gleichen Vergehens gesucht. Albert Schwarz hat ausgerechnet, dass sich die von Stand- und Volksgerichten in Bayern seit dem Ende der Kämpfe im Mai 1919 verhängten Freiheitsstrafen (Zuchthaus, Gefängnis, Festungshaft) "auf insgesamt 6000 Jahre [beliefen], von denen drei Viertel verbüßt wurden". Der Kampf zwischen den Anhängern einer Räterepublik (gleichgültig ob nach anarchistischem oder sowjetischem Muster) wurde im Bürgerkrieg blutig entschieden.
Aber noch am 1. Mai 1919 hoffte Lenin, der zwischen 1900 und 1902 unter verschiedenen Decknamen in Schwabing gelebt hatte, auf einen europäischen Rätebund, der von München über Österreich und Ungarn bis zum Moskauer Kreml reichen sollte "Hass und Ekel" notierte Thomas Mann am 30. April als seine Reaktion auf die Zustände in München in sein Tagebuch; und am 1. Mai:
"Die Münchener kommunistische Episode ist vorüber; es wird wenig Lust vorhanden sein, sie zu erneuern. Eines Gefühls der Befreiung und Erheiterung entschlage auch ich mich nicht."
Am 7. Mai aber unterzeichnete er, zusammen mit einer großen Zahl von Münchner Künstlern und Intellektuellen, einen öffentlich "warnenden Aufruf gegen Übermut und gefährliche Gewalttätigkeit", denn der Bürgerkrieg erneuerte sich am 2. und 3. Mai heftig, blutig und grausam. Gustav Landauer, von den anarchistischen Friedensdenkern der friedlichste, wurde im Hof des Gefängnisses Stadelheim am 2. Mai von Freikorpssoldaten erschlagen; am gleichen Tag wurden 53 bei Pasing festgenommene, russische Kriegsgefangene, die keine Möglichkeit hatten, in ihre Heimat zu kommen und bei der Roten Armee in Bayern gedient hatten, umstandslos von einem Standgericht zum Tode verurteilt und in einer Sandgrube bei Gräfelfing erschossen; Rudolf Egelhofer, der Kommandant der Roten Armee, wurde am 3. Mai ohne Gerichtsurteil erschossen; am 6. Mai wurden 21 Mitglieder des Gesellenvereins St. Joseph in München, die sich zu einer Theaterprobe getroffen hatten, als Spartakisten denunziert und von einer aufgebrachten Soldatenmeute niedergemetzelt. Nach Eugen Leviné, dem Anführer der in der zweiten Aprilhälfte nur wenige Tage überdauernden Kommunistischen Räterepublik, wurde Anfang Mai intensiv gefahndet. Er wurde am 13. Mai 1919 verraten und festgenommen.
An eben diesem 13. Mai wurde auch der Steckbrief gegen Ernst Toller ausgestellt, in dem eine Belohnung von 10 000 Mark für seine "Ergreifung und für Mitteilungen, die zu seiner Ergreifung führen", ausgesetzt wurde. Der Prozess gegen Leviné vor dem standrechtlichen Gericht München endete am 3. Juni mit einem Schuldspruch. Er wurde "einstimmig eines Verbrechens des Hochverrats gem. § 81 Ziff. 2 StGB schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt". Sein politisches Handeln, heißt es in der Urteilsbegründung, sei "ehrloser Gesinnung entsprungen". Am 4. Juni abends bestätigte der bayerische Ministerrat, im Widerspruch zu einer unter anderem von Albert Einstein, dem Publizisten Hellmut von Gerlach, von Hugo Haase, Maximilian Harden und Karl Kautsky unterstützten Petition, das Todesurteil. Leviné wurde am 5. Juni in Stadelheim erschossen. Toller hat intern und öffentlich nie gezögert, dieses Urteil und seinen Vollzug als "Justizmord" anzuklagen.
Nach Levinés Hinrichtung war Toller - Anfang April sieben kurze Tage lang Erster Vorsitzender des Zentralrats der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, also im revolutionären Südbayern die höchste politische Instanz und später Abschnittskommandeur der Roten Armee bei Dachau - der prominenteste Gefangene im Gefängnis Stadelheim. Die bürgerliche Öffentlichkeit in ganz Deutschland erwartete, dass auch gegen ihn ein Todesurteil ausgesprochen würde. Der Fahndungsdruck auf den in München versteckten Toller, den Repräsentanten des Rätegedankens, hatte im Laufe des Mai enorm zugenommen. Beleg dafür ist unter anderem ein von Peter de Mendelssohn festgestellter Schreibfehler in Thomas Manns Tagebucheintrag (vom 3. Juni 1919), in dem dieser ein Leumundszeugnis für den mit ihm befreundeten Studenten Trummler mit einem Zeugnis für Toller verwechselte: "Ich stellte dem jungen Toller [recte: Trummler] brieflich ein Zeugnis aus, das ihn vor weiteren Verhaftungen schützen soll." Toller aber war an diesem 3. Mai noch nicht verhaftet, und erst am 4. Juli hat Thomas Mann dann über dessen Erstlingsdrama "Die Wandlung" (1919) ein Gutachten geschrieben, das die Verteidigung in Tollers Hochverratsprozess verlesen hat: "Dies ist eine Art Gebet, dieser Dichter ist auf seine Art fromm."
Nur wer die Daten von Levinés Prozess und Hinrichtung neben die Daten der Verhaftung Tollers stellt, wird eine Ahnung von der aufgeregten und brutalisierten Atmosphäre dieser Tage bekommen. Tollers Versteck im Schloss Suresnes, wo er seit Mitte Mai Unterschlupf gefunden hatte, wurde am 3. Juni in einer schriftlichen Denunziation bei der Polizeidirektion München sehr genau beschrieben. So umstellten am nächsten Tag, gegen 4:00 Uhr morgens, berittene Polizei und Soldaten das Haus an der Werneckstraße. Um 4:30 Uhr wurde Toller bei einer Durchsuchung der Wohnung von Hans und Olga Reichel hinter einer Tapetentüre entdeckt und verhaftet. Die Vorführungsnote zu seinem ersten Verhör ist datiert: "München, den 4. Juni 1919. Vormittags 5 Uhr 45 Minuten."
Seit er nach der Befreiung der restlichen Geiseln im Luitpoldgymnasium untergetaucht war, war es Toller gelungen, sich in wechselnden Verstecken, zuletzt eben im Schloss Suresnes, der Verhaftung zu entziehen. Jeder Tag, um den er seine Verhaftung verzögern konnte, minderte die Gefahr, sogleich "auf der Flucht erschossen" zu werden. Am 16. Juli wurde er wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er hat die Strafe ganz verbüßt, weil er die bayerische Praxis der Individual-Begnadigung abgelehnt hat und weil die während der Haft (1919 bis 1924) erlassenen Reichsamnestien für politische Vergehen nicht auf Bayern angewandt wurden. Der Satz in der Urteilsbegründung, der ihm das Leben gerettet und ein vom Staatsanwalt auch verlangtes höheres Strafmaß verhindert hat, lautete: "Es kann nicht festgestellt werden, dass seine für strafbar befundene Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung entsprungen ist."
… wie sie Toller literarisch stilisierte
Toller hat während der Haft und nach seiner Entlassung 1924 mit großer Zähigkeit den Kampf gegen die politische Justiz geführt, die er als Klassenjustiz verstanden hat und in deren Wirken er die fortschreitende, "geistige Verfinsterung" Europas zu erkennen meinte. Das Bürgertum, sagte er 1927, habe "sehend oder blind seine Idee der Gerechtigkeit preisgegeben". Und die Demokraten, fügte er vorausschauend hinzu, sollten nicht jammern, "wenn morgen der Faschismus auch sie zum Wilde zählt, das man jagen und hetzen, quälen und morden darf".
In seinem Buch "Justiz. Erlebnisse" (1927) hat er eigene Erfahrungen und Dokumente eklatanter Fehlurteile der bayerischen Justiz gesammelt, er hat darin die von demokratischen Politikern und Bürokraten systematisch betriebene Destruktion der Festungshaft als einer Ehrenhaft beschrieben und den bayerischen Separatismus als ein Biotop gekennzeichnet, in dem die Saat Hitlers früh gedeihen konnte. "Verhaftung (Aufzeichnungen aus dem Jahre 1919)" hat Toller eines der Kapitel dieses kleinen Buches überschrieben, das von Thomas Mann als Aufruf zu einer allgemeinen Amnestie gewürdigt wurde, nachdem die Teilnehmer am Hitler-Putsch 1923 ohnehin schon seit 1924 aus der Haft entlassen waren. In diesen tagebuchartigen Aufzeichnungen hat Toller Textpassagen aus seiner Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" vorformuliert, die im Herbst 1933 als eines der ersten deutschen Exil-Bücher im Querido-Verlag in Amsterdam erschienen ist. Den nüchtern-justizkritischen Charakter der Erfahrungsberichte wollte er bewahren und hat deshalb sein "Justiz"-Buch mit einer Anweisung zur Lektüre versehen:
"Diese Sammlung möge nicht als Buch meiner Gefängniszeit betrachtet werden. Jenes Buch, das aus Distanz geschrieben werden muss, weil nur so Nähe erreicht wird, bleibt als Aufgabe."
Als er dann in seiner Autobiographie dieses Versprechen einzulösen versuchte, stieß er in den eigenen Aufzeichnungen auf einen dort anklingenden und nun durch Retuschen nochmals verdeutlichten Praetext, der als die Urszene aller Verhaftungsszenen der europäischen Literatur gelten darf:
"Bilder werden abgenommen, durch die Türritzen dringt Licht. Ich stoße die Tür auf, ich sehe Kriminalkommissare und Soldaten.
- Sie suchen Toller, ich bin’s.
- Hände hoch! schreit ein Soldat.
Die Kriminalkommissare schauen mich scharf an, sie erkennen mich nicht. Ein Soldat fällt auf die Kniee, richtet mit quellenden Augäpfeln das Gewehr auf mich, entsichert und hält die zitternden Finger am Abzug.
- Sie sind ... ?
- Ja, ich bin Toller. Ich werde nicht fliehen. Wenn ich jetzt erschossen werde, wurde ich nicht auf der Flucht erschossen. Sie alle sind meine Zeugen.
Die Kriminalbeamten stürzen sich auf mich und fesseln meine Hände mit Handschellen.
- Meine Herren, soll ich im Hemd mit Ihnen zur Polizei gehen?
Man löst meine Fesseln, ich darf mich anziehen.
Wie ich an meinen Gastfreunden vorbeigeführt werde, sage ich, um sie vor Verhaftung zu schützen:
- Diese Menschen wussten nicht, wer ich bin."
In dieser Passage aus dem "Flucht und Verhaftung" überschriebenen zwölften Kapitel der Autobiographie sind Elemente der Johanneischen Gethsemane-Szene so verdichtet, dass der Text als eine Postfiguration der biblischen Urszene von Jesu Gefangennahme zu lesen ist; kenntlich sind die Erkennungsfragen und das Bekenntnis, der Gesuchte zu sein, das Erschrecken der Rotte, die ausgezogen ist, ihn zu ergreifen, die Fesselung des zu einer messianischen Gestalt stilisierten Gefangenen, der bis zuletzt "die Seinen" zu beschützen sucht: "Wenn ihr mich sucht, dann lasst diese gehen!" (Joh 18,8) Hans Reichel wurde zu vier Monaten, seine Frau zu zwei Monaten Festungshaft verurteilt.
Wenn eine solche Deutungsperspektive auf das ganze zwölfte und dreizehnte Kapitel von Tollers Autobiographie erweitert wird, so sind allenthalben biblisch vorgeprägte Gestalten zu erkennen: in den Denunzianten, die sich den Kopflohn zu verdienen suchen, immer wieder die Gestalt des Verräters, der Jesus um dreißig Silberlinge verkauft hat, die ungerechten und voreingenommenen Richter, die aufgehetzte Menge, die ihr "Crucifige" brüllt und hier in einer frühen Kirchgängerin abgebildet ist:
"In der Luitpoldstraße schlägt die Uhr fünf, eine alte Frau trippelt zur Morgenmesse, an der Kirchentür wendet sie sich um und erblickt mich.
- Habt Ihr ihn? schreit sie, sie senkt den Blick zu Boden, lässt betend den Rosenkranz durch die Finger gleiten, dann, an der geöffneten Kirchentür, kreischt der zerknitterte Mund:
- Totschlagen!"
Zur expressionistischen Stilisierung der Gefangennahme, bei der bürgerlich pervertierte Christen den Juden verfolgen, als den sich Toller seit der Gefängniszeit zunehmend wieder bekannt hat, tritt hier ein ironisch-groteskes Element. Bekanntlich gehört die demütigende Entkleidung Jesu zu den vierzehn Stationen des Kreuzwegs. Hier aber ist der Gefangene schon entkleidet und erhält die Erlaubnis, sich anzukleiden, ehe er abgeführt wird. Die zehnte Station des Kreuzweges also wird satirisch verkehrt und gerade dadurch als Station eines modernen Kreuzwegs kenntlich. Im Unterschied zu dem Gefangenen und seinen Gastfreunden, denen der Erzähler individuelle Züge erlaubt, gehören die Häscher, die Denunzianten, die verhetzten Bürger einer Schattenwelt an, die aus Verfolgungsgesten montiert ist und in der für die Würde der menschlichen Gestalt kein Ort mehr ist. Grotesk verfremdet wird so der Praetext durch wenige Gesten der Angst: die "quellenden Augäpfel" des Soldaten, durch seine zitternde Hand am Abzug des Gewehrs, durch den zerknitterten Mund der frühen Kirchgängerin, durch ihre rastlose, rituelle Bewegung der Rosenkranzkette.
Solche Stilelemente haben auf die zeitgenössischen Leser dementierend gewirkt und damit auch als Selbstironisierung der bayerischen Revolution. Deren (allzu) hoch gestecktes Ziel, eine international befriedete Welt zu schaffen, ist im Bürgerkrieg untergegangen, ihre forcierte Friedensideologie hat die Gewaltpolitik wie ein politisches Vakuum angesaugt. Toller, schrieb Kurt Tucholsky im August 1933 an Walter Hasenclever, habe in seiner Autobiographie das bayerische Räteexperiment "in politischer Hinsicht", nicht in moralischer, "glatt preis[gegeben]. Also das hat mir gefallen. Eine Sache, die so viel gekostet hat - und dann sagen: ich habe mich geirrt [...] das ist brav."
Warum wir ihn nicht vergessen sollten
Als sich Toller am 22. Mai 1939, wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, den er vorausgesehen und vorausgesagt hatte, in einem New Yorker Hotel das Leben nahm, verkündete die nationalsozialistische Presse diesen Tod triumphierend als Sieg über einen starken und unerbittlichen Gegner. Für die Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung wogen solche Verzweiflungstaten schwer. Toller war zum Zeitpunkt seines Todes einer der international bekanntesten Dramatiker deutscher Sprache, ein politischer Dichter von Rang und Einfluss.
Was die nationalsozialistische Presse als kommunistische Hetzschriften bezeichnete, waren Schauspiele von Weltruf, an deren Inszenierung in den 20er Jahren ein zeitnaher und zugleich symbolistischer Aufführungsstil entwickelt wurde. Die Andeutungsbühne, die Lichtregie, Massenszenarien und Sprechchöre, die Verwendung dokumentarischer Filmaufnahmen und mechanischer Bühnenapparaturen, all das und mehr wurde von experimentierfreudigen Regisseuren, unter anderem Karlheinz Martin, Jürgen Fehling, Erwin Piscator, an Tollers Schauspielen erprobt. Doch alle Bühnenerfolge waren im Bewusstsein des Publikums, der Kritik und der Theatermacher so eng mit dem persönlichen Schicksal des revolutionären Politikers Ernst Toller verknüpft, dass die Erfolgsserie zu Beginn der 30er Jahre riss. Damals nämlich ist es der nationalsozialistischen Propaganda gelungen, die eigene Bewegung als revolutionär und traditionsmächtig zugleich zu verkaufen und das Theater, die Rückzugslinie der Revolution von 1918/19, durch die "Liturgie" der Reichsparteitage und der Aufmärsche, durch Saalschlachten und Straßenterror emotional zu entwerten.
Der Dramatiker, der Lyriker und der Publizist Ernst Toller ist sich in diesem Strukturwandel des politischen und kulturellen Lebens schon in jungen Jahren selbst historisch geworden. Er hat in Reportagen und Reiseberichten ("Quer durch. Reisebilder und Reden", 1930) die beginnende Teilung der Welt in die Machtblöcke von (amerikanischem) Kapitalismus und (russischem) Sozialismus geschildert und in einer autobiographischen Trilogie, von der er nur zwei Bände fertigstellen konnte (neben "Eine Jugend in Deutschland" den Band "Briefe aus dem Gefängnis", 1935), den von der bayerischen Justiz geförderten Aufstieg Hitlers vom Stammtischpolitiker zum Weltterroristen vorausgesagt.
Ernst Toller, der am 1. Dezember 1893 im damals preußischen, heute polnischen Samotschin, "einer kleinen Stadt im Netzebruch", geboren wurde, war das jüngste Kind einer angesehenen jüdischen Familie. Der Vater, Kaufmann, Gastwirt, Stadtverordneter, ist früh (1911) gestorben, die Mutter starb im Jahr 1933, ehe die Vertreibungen und die Deportationen begannen; die älteren Geschwister Tollers wurden 1942 nach Auschwitz und Theresienstadt deportiert, wo sich ihre Spur verliert.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 bedeutete auch die Wende in Tollers Leben. Der junge Jude vertraute auf das damals sprichwörtlich gewordene Einheitsversprechen des Kaisers, das in tausenden von Bildkarten verbreitet wurde: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." Am 2. August überschritt Toller, von der Ausländeruniversität Grenoble kommend, die deutsche Grenze, trat in München als Kriegsfreiwilliger bei einem bayerischen Artillerieregiment ein und kämpfte von März 1915 bis Ende April 1916 an Brennpunkten der Westfront, bei Pont-à-Mousson, bei den Revolverkanonen im Priesterwald, als Artilleriebeobachter östlich von Verdun.
Toller hat die Wende zum Sozialismus und zur Revolution mit dem traumatischen Erlebnis des Krieges begründet. Vor Verdun, wo ein dichter Verwesungsgeruch über dem Schlachtfeld lag und jeder Spatenstich die Körperteile von Gefallenen, unterschiedslos von Franzosen und Deutschen, zu Tage förderte, hatte der junge Unteroffizier "sein" Erweckungserlebnis:
"Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende.
Ein toter Mensch.
Nicht: ein toter Franzose.
Nicht: ein toter Deutscher."
Der existenzielle Ernst solcher Texte ist nur dann einzuordnen, wenn ihr Menschheitspathos mit dem wütenden Nationalismus konfrontiert wird, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs Europa wie eine Seuche ergriffen hat und der in der Zwischenkriegszeit in Deutschland bruchlos in den Antisemitismus als Staatsdoktrin überging. Zwar erzählt Toller von Kriegserfahrungen aus dem Jahr 1916, doch als er diese Erfahrungen beschreibt, ist die Vorbereitung des nationalsozialistischen Juden-Pogroms längst im Gange; als seine Autobiographie Ende 1933 erscheint, haben die neuen Herrscher Deutschlands damit begonnen, allen Menschen jüdischer Herkunft zunächst die Bürgerrechte, dann die Menschenrechte und schließlich ihr Daseinsrecht abzusprechen.
Tollers Menschheitspathos zeugt weit über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus von der Erfahrung eines elementaren Schreckens, in dem die Menschen sich als Menschen, nicht als Angehörige von Rassen und Nationen begegnet sind. Nur wenige - unter ihnen Rilke, Toller, Gustav Landauer, Henri Barbusse, Romain Rolland, Stefan Zweig - haben dieses Pathos, als es politisch nicht mehr leben durfte, trotzdem lebensbestimmend zu bewahren versucht. Vermutlich hat Rainer Maria Rilke auch an Toller gedacht, als er am 29. März 1919 in einem Brief schrieb, es sei
"doch bitterlich schade" um jenen bayerischen Revolutionstag, den 8. November [1918], "er hatte unerhörte, alle jene Möglichkeiten, denen sich die Menschheit zu entziehen weiß, um sie dann, als ob sie ihr nicht gehörten, zu entbehren. Aber gegen die Bewegung jenes denkwürdigen Morgens - (wie ich sie hier [in München] erlebt habe) - gab es nur zwei wahrhaftige Haltungen: den Widerstand oder das Sich-an-sie-Aufgeben, gläubig."
Toller gehörte zu den "Gläubigen", auch als die Revolution längst verloren und die neue Barbarei ein Land Europas nach dem anderen erwürgte.
Erst in der Festungshaft ist Toller zwischen Juli 1919 und Juli 1924 zu einem international gefeierten Dramatiker geworden. Doch ist er in diesen Jahren auch mit dem Regietheater in Konflikt geraten, weil er bis zum Ende der Haft keines seiner Stücke jemals auf der Bühne hatte sehen können und den Verweisen auf sein Schicksal, die den Regisseuren skandal- und erfolgsträchtig schienen, ebenso deutlich wie vergeblich widersprochen hat. Moderne Dramatiker, Tankred Dorst und Albert Ostermaier, haben deshalb, als sie Toller wieder zu entdecken suchten, die Person des Autors, nicht das Schicksal seines Werkes in den Mittelpunkt dramatischer Dialoge gestellt.
Schon Tollers erstes Stück "Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen" (1919), dessen Keimzelle von ihm verfasste Flugblätter während des Friedensstreiks der Industriearbeiter im Januar 1918 gewesen sind, musste sich bei der Uraufführung im September 1919 eine Umstellung der Bilder gefallen lassen. Statt Tollers Aufruf zur Revolution setzte der Berliner Regisseur die Traumszene "Tod und Auferstehung" an das Ende des Schauspiels. Dort stürzt sich ein Gefangener, der ins Sprechzimmer zu seiner schwangeren Frau geführt wird, in den Schacht des Treppenhauses, und seine Frau gebiert neben dem sterbenden Mann ihr Kind. Ein den Zeitgenossen des literarischen Expressionismus vertrauter Dramenschluss (die Geburtsszene) verweist so auf das Los des Autors und der mit ihm inhaftierten Revolutionäre. Das Drama "Masse Mensch" (1920), das die Einsamkeit der Pazifistin inmitten der einander bekämpfenden Gewaltideologien zeigen will, wurde von Behörden und Regisseuren als Tollers Rechtfertigungsschrift für die gescheiterte Revolution gelesen. Das historische Drama über die britische Ludditenbewegung "Die Maschinenstürmer" (1922), das den Wurzeln des Sozialismus nachspürte, wurde in Berlin wenige Tage nach dem Attentat aufgeführt, durch das Reichsaußenminister Walther Rathenau von völkischen Studenten ermordet wurde. Das Publikum und die Kritik haben das Stück deshalb als ein Schlüsseldrama für diesen Mord und für andere politische Morde verstanden, von denen die junge Republik gepeinigt wurde. Das Drama "Hinkemann" schließlich, das letzte der im Gefängnis entstandenen Schauspiele (1923/24), mit dem sich Toller an einer "proletarischen Tragödie" versuchte, wobei der Proletarier für ihn nichts anderes war als der "leidenden Mensch", wurde von den Zeitgenossen als ein Heimkehrerdrama verstanden, als die Allegorie der "kriegsbeschädigten deutschen Seele".
So ist heute der bekannteste Text aus Tollers Gefängnisjahren der lyrische Zyklus "Das Schwalbenbuch" (1924), das - Rilkes "Stundenbuch" folgend - den irrationalen Kampf der Gefängnisverwaltung in Niederschönenfeld gegen die Schwalben beschreibt, die in der Zelle eines Gefangenen nisten. Es ist lesbar wie am ersten Tag, Teil einer Gefängnis- und Lagerliteratur, die von Dostojewskij bis Jorge Semprun dem vom Menschen dem Menschen und der Kreatur bereiteten Schrecken eine humane Sprache abzuringen versucht:
"Die Schwalbeneltern trauern um ihre Jungen. [...]
Anders trauert Ihr, meine Schwalben, als Menschen trauern.
Eure Klage: ein frierendes Erschauern vor dem Hauche der Unendlichkeit.
Mit Euch trauert der dämmernde Abend.
Mit Euch trauern die Dinge meiner Zelle."
Zitiert werden u .a. folgende Texte und Studien: Ernst Toller, Gesammelte Werke. Hg. v. John M. Spalek / Wolfgang Frühwald. 5 Bde. München 1978 [für Mai 2014 war im Wallsteinverlag eine neue fünfbändige Ausgabe angekündigt]; dies. (Hg.), Der Fall Toller. Kommentar und Materialien. München 1979; Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Hg. u. kommentiert v. Wolfagng Frühwald. Stuttgart 2011; Revolution und Räteherrschaft in München. Zusammengestellt u. bearbeitet v. Ludwig Morenz unter Mitwirkung v. Erwin Münz. München 1968; Rainer Maria Rilke 1875/1975. Ausstellung u. Katalog: Joachim W. Storck in Zusammenarbeit mit Eva Dambacher / Ingrid Kußmaul. Stuttgart 1975; Michael Schattenhofer, Schloss Suresnes in Schwabing. München 1990.