Papst Franziskus hat für 2014 und 2015 eine Vollversammlung der Bischofssynode einberufen, die in zwei Etappen den Evangelisierungsauftrag der Kirche im Hinblick auf die Familie zum Gegenstand haben soll. Der Arbeitsplan sieht vor, dass in der ersten, außerordentlichen Etappe (Oktober 2014) der Sach- und Problemstand erfasst und Zeugnisse und Vorschläge der Bischöfe gesammelt werden, bevor dann im zweiten, ordentlichen Teil (Oktober 2015) konkrete Leitlinien für die Pastoral gesucht werden sollen.
Drei Signale haben der Ankündigung dieses Vorhabens eine für Bischofssynoden unübliche Aufmerksamkeit und weitreichende Erwartungen beschert: erstens das Eingeständnis, dass sich heute auf diesem Feld "bis vor wenigen Jahren noch nie dagewesene Problematiken" abzeichnen; zweitens der Hinweis auf die breite positive Aufnahme, "die in unseren Tagen der Lehre über die göttliche Barmherzigkeit und Zärtlichkeit gegenüber den verwundeten Personen in den geografischen und existenziellen Randgebieten entgegengebracht wird"; und drittens die Einladung an die Teilkirchen, einen Katalog von Fragen zu diesem gesamten Feld zu beantworten, der eine aktive Teilnahme an der Vorbereitung der Synode ermöglichen soll1.
Die Fragen selber - es sind insgesamt 39 - wirken auf Leser, die mit der kirchlichen Sprache nicht vertraut sind, eher umständlich und setzen ganz selbstverständlich eine ungebrochene binnenkirchliche Perspektive voraus - etwa wenn gleich im ersten Punkt nach der wirklichen Kenntnis der Lehren der Bibel und bestimmter Dokumente des Lehramts gefragt wird und dann darüber Auskunft gegeben werden soll, wie "unsere" Gläubigen zum Familienleben nach der Lehre der Kirche herangebildet werden. Formulierungen wie "die Lehre der Kirche" und "Pastoralprogramme" werden ebenso selbstverständlich benutzt wie anspruchsvolle philosophische und theologische Topoi ("Naturrecht", "Hauskirche", "verantwortete Elternschaft") sowie voraussetzungsreiche Interpretamente ("Zusammenleben ad experimentum", "irreguläre Situationen", "Nichtigkeitserklärung", "natürliche Methoden"). Auch scheint nicht immer eindeutig, was der genaue Gegenstand der Frage ist: eine gängige Praxis, eine staatliche Regelung, die von der Bevölkerung akzeptiert wird, die moralische Überzeugung der glaubenden Menschen oder Erfahrungen mit einer Pastoral des Sichkümmerns. Schließlich ließen sich auch Fragen vorstellen, die naheliegen, aber nicht gestellt werden, insbesondere die nach Verletzungen, Schäden und nach bleibendem Vertrauensentzug, die bei Einzelnen oder ganzen Gruppen von Betroffenen durch bestimmte Lehren bzw. die Art des Umgangs bewirkt wurden.
Was aber trotz solcher sprachlichen und methodologischen Unzulänglichkeiten (dazu gehört v. a. die Unbestimmtheit des Verfahrens und die Kürze der zur Verfügung gestellten Zeit) Aufmerksamkeit hervorgerufen hat, sind zwei Dinge: die Tatsache der Befragung als solche und dann deren Ergebnisse.
"Über die Befragung der Gläubigen in Dingen der christlichen Lehre"
Das Instrument der Befragung, angewandt auf moralische Praxis und Urteile, ruft schnell den Einwand auf den Plan, dass die sittliche Güte und die Richtigkeit des Handelns weder durch Mehrheiten noch aus dem Durchschnitt des Verhaltens herausgefunden werden können. Das ist zweifellos eine zutreffende Feststellung, und sie gehört in Gestalt der Unterscheidung von Sein und Sollen und des Vorbehalts gegenüber der sogenannten normativen Kraft des Faktischen zu den Basics jeder Ethik.
Allerdings würde es die Dinge unzulässig vereinfachen und in gewisser Weise karikieren, wenn man das sittliche Handeln und Urteilen für völlig unabhängig von der Welt der Tatsachen halten würde. Zumindest dort und in dem Maße, wie es konkret wird, korrespondiert es mit Wissensständen der Biologie, Psychologie, der Sozialwissenschaften und der philosophischen Auffassung vom Menschen. Und die können durchaus verschieden sein von den Plausibilitäten, in denen ein konkretes Handlungsproblem vor 100, 1000, 1500 oder 2000 Jahren reflektiert und normiert wurde. Auch wenn der empirische Zugang ein grundsätzlich anderer ist als der normative, insofern er auf die gegebenen Sachverhalte blickt und nicht (zuerst) auf das Selbstverständnis, das über die Gegebenheiten hinausgeht und auch den normativen Anspruch in den Blick nimmt, können moralische Urteile, die sich prinzipiell von den Tatsachen frei machen und sich weder um die Entstehungsbedingungen noch um die Folgen der eingeforderten Ideale kümmern, "abheben", das heißt in den Bereich des Irreal-Unwirklichen geraten.
Die primäre Funktion und Aufgabe einer Befragung über moralische Praxis und moralische Urteile ist also gerade nicht - wie in der Illustrierten-Presse andauernd insinuiert - die moralische Legitimation einer von den Standards abweichenden Verhaltensweise, sondern die bessere Wahrnehmung der Realität in ihrer Bedingtheit und daraus folgend die kritische Korrektur jener idealen Ansprüche, die sich verselbstständigt haben, weil sowohl ihre eigene Bedingtheit als auch ihre realen "Kosten" aus dem Blick geraten sind. Das gilt für Ehe und Familie in besonderem Maße, weil es sich bei ihnen evidentermaßen um zentrale Lebensbereiche handelt und weil die zahlreichen normativen Konkretionen in der Theologie- und Kirchengeschichte diesbezüglich in besonderem Maße die Gefahr haben entstehen lassen, die Tradition als sich selbst genügende Quelle der Erkenntnis zu betrachten.
Dass Befragung ein lohnenswerter und unverzichtbarer Weg sein kann, um zu schärferer Erkenntnis von Überzeugungen (wie auch komplementär von falschen Idealen) zu kommen, hat der große, erst vor wenigen Jahren selig gesprochene John Henry Newman († 1890) sogar im Hinblick auf die Glaubenslehre energisch behauptet und in einer ausführlichen Abhandlung "Über die Befragung der Gläubigen in Dingen der christlichen Lehre" (so die Übersetzung von Otto Karrer in der Zeitschrift "Hochland"2) verteidigt.
In einer ganz anderen kirchenpolitischen Umgebung, nämlich der Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens, verfasst, betonte die Abhandlung neben der Vergewisserung über den Inhalt der Überlieferung ein anderes zentrales Element der Befragung, nämlich das Gewicht der Überzeugungen der vielen einfachen Gläubigen gegenüber denen, die Leitungsämter innehaben. Auch wenn Newman "Befragung" in einem umfassenderen Sinne verstand als das, was wir heutzutage mit einer empirischen Befragung verbinden, nämlich: sich mit jemandem beraten bzw. einen Rat einholen (engl. "to consult"), sei dies zweifellos ein Begriff, der "Vertrauen und Hochachtung, nicht aber Unterordnung ausdrückt"3. Er enthalte "ebenso die Idee der Untersuchung eines Tatbestands wie die der Anforderung eines Urteils"4.
Politisch geht es um das Phänomen der öffentlichen Meinung; ekklesiologisch darum, dass das Lehren der Kirche sich nicht abtrennt und verselbstständigt gegenüber dem Hören. Immerhin war es ein Papst, der nur wenige Jahre nach der intensiven Erfahrung totalitärer Gesellschaften, in denen die Führer definieren zu dürfen beanspruchten, was geltende Meinung ist und umgekehrt die wirkliche Meinung der Bürger scharf unterdrückten, im Jahre 1950 öffentlich erklärte:
"Die öffentliche Meinung ist die Mitgift jeder normalen Gesellschaft, die sich aus Menschen zusammensetzt […]. Dort, wo überhaupt keine Äußerung der öffentlichen Meinung erscheint, vor allen Dingen dort, wo man feststellen muss, dass sie überhaupt nicht existiert, muss man darin einen Fehler, eine Schwäche, eine Krankheit des gesellschaftlichen Lebens sehen […]"5,
und dann an späterer Stelle derselben Rede nachschob: Auch die katholische Kirche
"ist eine lebendige Körperschaft und es würde etwas in ihrem Leben fehlen, wenn in ihr die öffentliche Meinung mangelte - ein Fehlen, für das die Schuld auf die Hirten sowohl wie die Gläubigen zurückfiele"6.
Man müsse die Leute - so Karl Rahner SJ, der diese Passage von Pius XII. zum Ausgangspunkt einer kleinen Schrift mit dem Titel "Das freie Wort in der Kirche" machte - "auch in der Kirche 'sich einmal ausreden' lassen, will man wirklich die (geistige, seelsorgliche, gesellschaftliche usw.) Situation erkennen"7.
Das ist auch - und wegen der gerade in diesem Punkt andersartigen Lebensweise derer, die sich in der kirchlichen Tradition zu diesen Themen geäußert haben, drängt sich auf zu sagen: gerade - bei Fragen der Lebensführung, in Partnerschaft, Ehe und Familie wichtig zu beachten. Denn es wird sicher viel wahrgenommen, beobachtet, registriert, wahrscheinlich auch hingenommen und ausgehalten von denen, die über diese Dinge amtlich sprechen, Forderungen erheben, mahnen und urteilen; aber es wird viel zu wenig angehört, Rat eingeholt, Sorgen geteilt, Nöte verstanden und Grenzen mitgefühlt. Befragungen sind hier sicher nicht das Allheilmittel, aber vielleicht doch eine Chance mehr, die Stimme und die Überzeugung solcher zu hören zu bekommen, die bisher amtlich wenig Gehör gefunden haben oder deren nicht konformes Verhalten mit Egoismus und Bequemlichkeit in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht wurde.
Die Kluft zwischen offizieller Lehre und Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Antwortenden
Die Einladung, den als dritten Teil des Vorbereitungsdokuments zur Bischofssynode verschickten Fragebogen über Ehe und Familie zu beantworten, erfuhr bei den Bistümern und katholischen Verbänden ein ausgesprochen lebhaftes und angesichts des knappen Erhebungszeitraums breites Echo, wie überhaupt im bundesrepublikanischen Katholizismus. Alle Bistümer haben ihn zugänglich gemacht und zur Teilnahme aufgefordert8. Auch die Verbände haben sich aktiv an der Aktion beteiligt und zum Teil, wie der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), den Fragebogen im Hinblick auf ihre Klientel spezifiziert. Die Ergebnisse der Befragungen wurden umgehend ins Netz gestellt, darunter die Zusammenfassung der Antworten aus den deutschen Diözesen, die von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) angefertigt wurde und bislang die ausführlichste und vollständigste Erarbeitung darstellt9. Besonders beachtenswert im Chor der Antworten sind die auf über 9000 Rückmeldungen basierende Auswertung des BDKJ10 und - in ganz anderer Weise wiederum - die auf ausgewählte Themen sich konzentrierende Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken11 sowie der Antwortenkomplex, den zwanzig Professoren aus den Fächern Moraltheologie und Pastoraltheologie durch eine simultane Aktion im Netz erstellt und abgestimmt haben12.
Auch wenn diese Versuche, den Fragebogen zu beantworten, im jeweiligen Genus, in der Zielrichtung, in der Ausführlichkeit und in der Methode sehr unterschiedlich ausgefallen sind, stimmen sie in der inhaltlich-analytischen Beschreibung der Situation in hohem Maße überein, sodass ein aussagekräftiges Gesamtbild entstanden ist. Vor allem die offiziellen Positionen zu vorehelichen sexuellen Beziehungen, zur Ablehnung jeder Form "künstlicher" Empfängnisverhütung, zum Ausschluss wiederverheirateter Geschiedener vom Empfang der Sakramente13 und zu Homosexualität und homosexuellen Partnerschaften stoßen kaum auf Verständnis oder werden sogar ausdrücklich abgelehnt. Sie gelten den Antwortenden als die Grundbestandteile einer Sexualmoral, die insgesamt als "lebensfern"14, als in der zugrunde gelegten naturrechtlichen Anthropologie problematisch bis bestritten15 oder auch schlicht als "veraltet"16 kritisiert wird. Zwischen den entsprechenden kirchlichen Normen und der Lebenswirklichkeit wird nicht nur eine massive Diskrepanz festgestellt, sondern auch zusätzlich ein daraus folgender Relevanzverlust.
Beides hat zum einen damit zu tun, dass die Idee eines sakramentalen Lebensbundes, der Treue, Ausschließlichkeit und Weitergabe des Lebens einbegreift, positiv gewertet wird, genauso wie die familienfreundliche Haltung der Kirche und die Wertschätzung von Ehe, Familie und Erziehung für die Entwicklung der einzelnen Personen. Zum anderen ist es Ausdruck des in allen Antworten enthaltenen Hinweises, dass normabweichendes Verhalten (gemessen an dem, was das Lehramt für unabdingbar hält) nicht zwangsläufig mit verantwortungsfrei und Verzicht auf moralische Orientierung gleichgesetzt werden kann. Schwerlich zu übersehen ist auch die durch viele Antworten zur Pastoral durchscheinende Erwartung, dass Kirche als ein Ort der Barmherzigkeit und als stets respektvolle und ratgebende Begleiterin auf dem Lebensweg erfahren werden sollte, jedenfalls stärker denn als vorschreibende und strenge Regelbefolgung einfordernde Moralinstanz.
Keine wirkliche Überraschung
In dem Dokument, in dem die Ergebnisse der letzten Bischofssynode, die sich diesem Thema gewidmet hatte, verarbeitet sind, heißt es unter anderem, dass es zur pastoralen Führung der Kirche gehöre,
"dass die Eheleute vor allem die Lehre der Enzyklika Humanae vitae als normativ für die Ausübung ihrer Geschlechtlichkeit klar anerkennen und sich aufrichtig darum bemühen, die für die Beobachtung dieser Norm notwendigen Voraussetzungen zu schaffen"17.
Gemessen an diesem selbstformulierten Ziel von 1981 könnte man die jetzt ermittelten Befunde als dramatisch bis niederschmetternd bezeichnen. Jedenfalls ist die Drastik des Befundes so ausgeprägt und eindeutig, dass nur die Alternative bleibt, neue und gründliche Anstrengungen zu unternehmen, um sie aufzuarbeiten oder sie komplett als Ausdruck eines moralischen Werte- und Sittenverfalls oder gar von Böswilligkeit zu verurteilen. Diese Kluft schlichtweg in Abrede zu stellen, getraut sich derzeit niemand; zu frisch und zu erschütternd ist die Erinnerung an den Skandal der in der Kirche verübten sexuellen Gewalt und den nicht immer geschickten Umgang mit ihm in der Zeit danach, auch wenn die exakten systemischen Zusammenhänge mit der offiziellen Sexualmoral der Kirche bislang erst ungenügend schlüssig erwiesen werden konnten, sondern eher auf Vermutungen und Intuitionen gründen18.
Allerdings werden immer wieder Sichtweisen und Interpretationen ins Gespräch gebracht, die zu einer hochproblematischen Verharmlosung der doch manifesten Diskrepanzen verleiten könnten. Dazu gehört insbesondere die beliebte Erklärung, es handele sich bloß um ein Sprachproblem. Oder die Versicherung, für eine Änderung der Lehre bestünde kein Handlungsbedarf, aber man müsse diese Lehre in Zukunft bloß gewinnender, überzeugender und engagierter zu den Menschen herüberbringen. Abgesehen davon, dass so zu reden den Vorwurf impliziert, dass ganze Generationen von Eltern, Religionslehrern, Priestern und Predigern es an Engagement hätten fehlen lassen, die überkommenen Standards einfühlsam und werbend nahe zu bringen, erinnert solches Reden an jemanden, der nicht wahrhaben möchte, dass er sich in einer bestimmten Hinsicht auf aussichtslosem Posten befindet und die eigene Angst mit lauten Mutparolen zu übertönen versucht.
Man mag die Entwicklung und die Ergebnisse, die die Befragung an den Tag gebracht hat, ehrlich bedauern; und man mag mit Wehmut darüber klagen, dass früher alles einfacher, in den Grenzen klarer und in den Erwartbarkeiten übersichtlicher und insofern meinetwegen auch besser war. Aber man kann nicht behaupten, dass die Ergebnisse überraschend ausgefallen seien oder plötzlich ein grundlegend neues Bild vermittelt hätten. Es sei denn, man habe es bisher nicht wissen wollen.
Denn alle empirischen Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten im deutschen Sprachraum über die Akzeptanz und Praxis der kirchenoffiziellen Positionen unter den Gläubigen (nicht einfach unter Gläubigen im Vergleich zu den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft) durchgeführt wurden, haben übereinstimmend herausgefunden, dass in den genannten Punkten (vor allem Empfängnisverhütung und Wiederverheiratung nach gescheiterter Ehe) bei einem überwiegenden Großteil der katholischen Christen erhebliche Vorbehalte bestehen, die nicht als Versagen vor einem sittlichen Anspruch eingeschätzt werden, sondern als Differenz in den gelebten und verantwortungsbewussten Überzeugungen. Sie bestehen übrigens nicht in allen Themen der Sexualmoral gleichermaßen (etwa nicht in puncto Vergewaltigung und auch nicht bezüglich des Ehebruchs); aber sie sind auf dem Gebiet der Sexualmoral stärker ausgeprägt als in allen anderen Lebensbereichen, wie bereits die von der DBK zur Vorbereitung der Würzburger Synode 1970 bei allen Katholiken über 16 Jahren durchgeführte Befragung19 herausgefunden hat20.
Theologiegeschichtlich war ein entscheidender Grund und zugleich der zeitliche Ausgangspunkt für diese Diskrepanz die Entscheidung, die 1968 mit der Enzyklika "Humanae vitae" gegen die als künstlich qualifizierten neuen Mittel der Geburtenregelung getroffen wurde. Obschon die ursprüngliche Frage in der Lebenspraxis heutiger Paare nur noch eine nebensächliche Rolle spielt, blieb diese Position wegen der darin benutzten Auffassung von Sexualität, Ehe und Familie und deren personalistischer Verfeinerung und Zuschärfung in einer Reihe von Nachfolgedokumenten sowie ihrer inhaltlichen Erweiterung durch die Einbeziehung des Verbots der assistierten Zeugung die maßgebliche und symbolisch für die ganze offizielle Sexualmoral der katholischen Kirche repräsentative Bezugsposition für die Kritik und die Suche nach überzeugenden Kriterien der Verantwortlichkeit. Dass das über Jahrzehnte so geblieben ist, ist nicht zum kleineren Teil hohen Amtsträgern und der kurialen Verwaltung zuzuschreiben, die nicht nur durch eine Vielzahl von Texten und Ansprachen den Gläubigen Argumente zu bedenken und Empfehlungen für die Lebenspraxis gegeben, sondern auch mit disziplinären Maßnahmen bei Besetzungen von Bischofs- und Lehrstühlen dazu beigetragen haben, dass diese Lehre von "Humanae vitae" nicht in Zweifel gezogen würde.
Über die Diskrepanz zwischen kirchlicher Lehre und gelebten Überzeugungen konnte man sich übrigens nicht nur aus den Berichten, Nachrichten und Kommentierungen der Statistik informieren. Sozusagen eine authentische Ansicht aus dem Innenleben von Ehepaaren konnte man schon aus dem 1964 von Michael Nowak herausgegebenen und bereits zwei Jahre später in einer deutschen Übersetzung in einem bekannten theologischen Verlag erschienenen Buch "The Experience of Marriage" (dt. "Eheliche Praxis - kirchliche Lehre. Erfahrungsberichte". Mainz 1966) gewinnen. Darin beschrieben nämlich dreizehn katholische Ehepaare, Mann und Frau jeweils nacheinander, ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Versuch, die kirchliche Position über die Empfängnisverhütung, wie sie wenige Jahre später durch "Humanae vitae" offiziell bestätigt wurde, in ihrem Eheleben zu praktizieren. Diese bewegenden und vielfach erschütternden Zeugnisse stehen nunmehr seit genau fünfzig Jahren in so gut wie jeder theologischen Bibliothek zur Verfügung; sie sollten für jeden, der im Namen der Kirche über Themen und Fragen der Sexualität spricht, zur Pflichtlektüre gehören.
Der Wunsch nach veränderter moralischer Kommunikation
In allen ausführlichen Beantwortungen des Fragebogens werden die genannten Diskrepanzen nicht nur festgestellt, sondern es wird auch zum Ausdruck gebracht, dass sie als etwas Belastendes und als Entfremdung von der Kirche Bewirkendes empfunden werden. Niemand, schon gar nicht kirchliche Verantwortungsträger, können und dürfen sich damit zufrieden geben, weil es hierbei weder nur um das Rechthaben oder gar um die Durchsetzung von Macht geht, sondern um die Glaubwürdigkeit dessen, was die Kirche selbst als ihren Kernauftrag, nämlich die Evangelisierung, ansieht und um das Glaubenkönnen der einzelnen Individuen.
Keiner von denen, die geantwortet haben, fordert, dass die Kirche zu Lebensformen, schwierigen Lebenssituationen im Zusammenleben, zum Kinderhaben, zur Erziehung usw. schweigen und hinnehmen soll, was sich gesellschaftlich entwickelt. Aber sie alle wollen nicht, dass deren Positionen hierzu, weil sie mit der erfahrenen Lebensrealität nicht zusammenpassen, das Ernstnehmen des kirchlichen Engagements in Fragen der Gerechtigkeit, des Friedens, der Nächstenliebe und der Toleranz beschädigen21. Was sie von der Kirche für ihre eigene Lebensführung erwarten, ist in erster Linie die Respektierung ihrer Gewissensentscheidung als Einzelner, die moralisch reflektieren können, Akzeptanz, barmherzigen Umgang mit Scheitern, Hilfe und Unterstützung bei der Herstellung "eines lebensdienlichen, familienfreundlichen und verantwortungsermöglichenden Klimas"22.
In die Kritik geraten sind also nicht nur bestimmte normative Positionen, sondern auch der mit diesen verquickte Typus moralischer Kommunikation, der einmal als "autoritativer Ansatz"23, ein andermal als "Verbotsethik"24 bzw. als "Gesetzesethik"25 charakterisiert wird. Als seine hervorstechendsten Eigenheiten werden Vorgaben von oben, die Fassung des Wichtigen in Anweisungen und Verboten sowie Rigorosität der Anforderungen genannt. Demgegenüber wird ein Modus moralischen Sprechens eingefordert, der sich durch Annahme der Menschen einschließlich ihres möglichen Scheiterns, durch das Bemühen zu überzeugen sowie durch Offenheit für die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse auszeichnet. Der Zielpunkt, um den es der gewünschten anderen Form von moralischer Kommunikation gehen sollte, ist also weder Gehorsam gegenüber von Autoritäten und Traditionen vorgegebenen Normen noch die Definitionsmacht über moralische Fragen in der Gesellschaft, sondern vielmehr Orientierung, Einsicht, Begleitung auf dem Lebensweg sowie Mitarbeit an einer beziehungsförderlichen Umgebung. Entscheidende Beiträge dazu erkennt man in der eigenen Tradition des Ratgebens und der institutionalisierten Praxis der Ehe-, Familien- und Lebensberatung sowie im stärkeren Ernstnehmen von Ehepaaren und Familien als den primären und unmittelbar erlebbaren "Akteuren der Evangelisierung"26.
Diese andere Zielrichtung und das stärkere Gewicht von Beratung, praktischem Lebenszeugnis und Beispiel im Verhältnis zur als Belehrung ausgeübten Moraldoktrin scheinen auch geeignet, um den Diskrepanzen Schärfe zu nehmen: Denn dann wird der Blick frei für die Übereinstimmungen im moralisch Grundsätzlichen (in der Terminologie des BDKJ-Papiers: "den Grundwerten") - nämlich Bindung, Treue, verantwortete Elternschaft, Kinderfreundlichkeit, Wertschätzung des Lebens, Übernahme von Verantwortung füreinander und Zusammenstehen in guten wie in schlechten Tagen -, statt Energie und Glaubwürdigkeit im Streit um vergleichsweise marginale Fragen zu erschöpfen, wenn man die Perspektive des Evangeliums wählt.
Erwartbares
Die genannten "Grundwerte" sind denn auch die Ressourcen, aus denen die Kirche, die sich erneut auf ihren Auftrag aus dem Evangelium besinnt, in einer stark veränderten Beziehungs-, Erziehungs-, Verantwortungs-, Wissens- und Rechtsrealität schöpfen kann. Das Vorbereitungsdokument auferlegt der Synode hierfür zwei Kriterien, nämlich Wirksamkeit und kommunikativen Stil, damit das Gesagte "die Herzen erreichen und sie verwandeln kann"27.
Das ist eine Selbstverpflichtung, an der alles, was diese Synode an Diskussionen, Impulsen, Signalen und Texten hervorbringen wird, gemessen werden wird. Mit Erwartungen aus den Antworten formuliert, geht es also primär um die Fähigkeit, "das Verständnis und die Akzeptanz der Gläubigen zu wecken und zu finden"29; um den Zuspruch und die Stärkung der Hoffnung der Einzelnen, dass ihre Verbindung, wenn sie Ehe wird, von lebenslanger Dauer sein wird; um die Respektierung der Gewissensentscheidung der Einzelnen überall, wo öffentlich über Ehe und Familie gesprochen wird; um das sichtbare Bemühen, den unterschiedlichen Lebensverhältnissen gerade dort gerecht zu werden, wo man sozialverbindliche Vorgaben für notwendig erachtet; um ein Leitbild von Ehe, das Wertschätzung und Anziehungskraft ausstrahlt; um Angebote zur Vorbereitung, Begleitung und Unterstützung auch in schwierigen Situationen; um den Zuspruch göttlicher Hilfe angesichts der Fragilität menschlichen Bemühens; um die Akzeptanz der Realität des Scheiterns und das Ermutigen bei Neuanfängen; um den Verzicht auf Bestrafung und Diskriminierung; um das uneingeschränkte Ja zur verantworteten Elternschaft; um die Achtung der moralischen Motive auch derer, die sich nicht nach den kirchlichen Normen richten; und auch um eine ehrliche Sprache.
Was aber kaum erwartet werden kann, ist eine grundlegende Revision der kirchlichen Sexuallehre. Denn das wäre zum einen wohl nicht eine angemessene Aufgabe für eine Bischofssynode. Und zum anderen könnte es die erbitterten Widerstände derer auf den Plan rufen, die die wichtigste Aufgabe von Kirche darin sehen, die Kontinuität der Lehre zu verteidigen. Die entscheidende Kategorie wird aber nicht die Lehre sein, sondern - das lässt das Vorbereitungsdokument schon deutlich erkennen - Pastoral und Evangelisierung. "Prozesse in Gang zu setzen, statt Räume zu besitzen" hat Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" (November 2013) als Motto angegeben29.
Wenn es gelänge, diesbezüglich neue Impulse zu setzen und Akzente der Gewichtung zu verschieben, wäre das schon viel. Die dazu notwendige moraltheologische Vor- und Zuarbeit ist längst gemacht, eine Nacharbeit für neu sich ergebende Fragen jederzeit möglich. Und wenn man darüber hinaus noch einen Wunsch frei hätte, dann wäre es der, dass auch der Ängste, der Gewissensnöte und der bleibenden Kränkung derer gedacht wird, die sich mit den für unverrückbar hingestellten kasuistischen Vorschriften für die Gestaltung ihres Sexual- und Beziehungslebens ein Leben lang abgemüht und bisweilen einen hohen Preis dafür bezahlt haben. Das könnte dem zweifellos auch notwendigen Widerspruch gegen Beliebigkeit, Permissivität um ihrer selbst willen und der Entwertung von Sexualität, Beziehung und Kindern zu Objekten und Waren, die man für Geld kaufen und konsumieren kann, größeres Gewicht und Glaubwürdigkeit geben.