Schüsse in Sarajevo, vor hundert Jahren: Am Anfang stand das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand vom 28. Juni, das - nicht nur in Wien - für Entsetzen sorgte. Es löste eine fatale Kettenreaktion aus.
Auf allen Seiten kriegslüsterne Militärs, taktierende Politiker oder Herrscherhäuser, die im Übrigen alle miteinander verwandt waren: Zar Nikolaus II. ("Lieber Nicki") und Wilhelm II. ("Lieber Willy") waren Vettern, die englische Königin Victoria war die Großmutter Wilhelms II. gewesen, König Georg V. und Nikolaus II. waren Cousins. Der Beistandspakt des Deutschen Reiches ("Blankovollmacht") verleitete die Doppelmonarchie zur Kriegserklärung an Serbien, was wiederum die Generalmobilmachung in Russland zur Folge hatte und die Kriegserklärung Deutschlands bewirkte, das - Frankreich im Visier - mit der Besetzung Luxemburgs und Belgiens das Vereinigte Königreich in den Krieg zwang. Die Debatte, ob Deutschland die "Julikrise" ausnutzte, um seinen "Weltmachtsanspruch" durchzusetzen, bleibt akademisch. Das Kalkül, der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ließe sich "lokalisieren", misslang. An die vierzig Staaten waren am Ende am Krieg beteiligt. Auch Afrika, der Nahe Osten, Indien, Australien und die Weltmeere wurden zu Kriegsschauplätzen - siebzig Millionen Menschen standen unter Waffen.
Materialschlachten, sinnlose Stellungs- und Grabenkämpfe (Verdun, Somme, Isonzo), der Einsatz von Giftgas, der U-Boot-Krieg oder Völkermord (Armenier) - all das war zu Beginn jenseits aller Vorstellungen. Der August 1914 hatte mit dem November 1918 wenig zu tun. Beherrschbar war und wurde der industrialisierte Krieg nicht. Und am Ende: mehr als siebzehn Millionen Tote, mehr als 21 Millionen Verwundete, über acht Millionen Kriegsgefangene oder Vermisste. Der Zar musste bereits nach der Februarrevolution im März 1917 abdanken und wurde 1918 ermordet, der deutsche wie der österreichische Kaiser (Karl I. wurde 2004 seliggesprochen) dankten ab, die Dynastien Habsburg, Hohenzollern und Romanow verschwanden nach Jahrhunderten von der Bildfläche. Die Kriegsmaschinerie hatte die Welt desillusioniert. Gleichzeitig wurde damals die Saat gelegt für den Faschismus in Italien und den Nationalsozialismus in Deutschland und das, was zwanzig Jahre später die Schrecken der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) noch um ein Vielfaches steigern sollte.
Das Massensterben, die Fronterlebnisse und "Stahlgewitter" (Ernst Jünger) prägten den Lebensalltag zahlloser Menschen auf Jahre hinaus. Hoffnungen und Enttäuschungen, Begeisterung und Traumatisierung schlugen sich millionenfach nieder. Auch bei Schriftstellern und Künstlern, Denkern und Philosophen. Max Beckmann oder Otto Dix verarbeiteten das Geschehen in ihren Bildern, Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Stefan Zweig oder Thomas Mann literarisch - Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" erschien zehn Jahre nach Kriegsende. Dix' Zeichnungen und Gouachen thematisieren Aspekte der Kriegsgräuel, die Werke Beckmanns wurden zunehmend düsterer, er erlitt 1915 einen Nervenzusammenbruch. Beide galten den Nazis später als "entartet".
Fulminante Kriegsbegeisterung wich schnell der Ernüchterung, manchmal nach Tagen bereits, wie bei Rilke, manchmal nach Monaten oder gar Jahren. Kindern wurde mittels Comics eine eigene Kriegsrealität vermittelt, Schulaufsätze spiegeln die Wirkung von Kriegspropaganda wider. Vierzehneinhalb Jahre alt war Karl Rahner SJ bei Kriegsende: "Ich erinnere mich noch ganz gut an die patriotische Begeisterung. Ich weiß, wie wir auf Landkarten die Westfront mit einem Faden markierten. Ich war als Pennäler einer von den Buben, die dem Freiburger Soldatenrat 1918 helfen mussten, Magazine zu räumen und ähnliche Dinge. Ich erinnere mich also noch ganz gut, und das hat natürlich für mich doch eine gewisse Bedeutung dafür gehabt, wie sehr schnell die Herrlichkeiten dieser Welt zu Ende gehen können."
Und die Kirche? Papst Benedikt XV. mag persönlich Frankreich nahegestanden haben, doch er wahrte strikte Neutralität und ging als "Friedenspapst" in die Geschichte ein. Und die "Stimmen der Zeit"? Es ist heute kaum nachvollziehbar: Aber deutsche wie französische Jesuiten waren damals vor allem Patrioten. Beide mussten gegenüber ihrer Regierung nach Erfahrungen der Vertreibung und des permanenten Verdachts, ferngesteuerte Marionetten Roms zu sein, ihre Vaterlandstreue unter Beweis stellen. Was in den Études von Paul Dudon SJ, Léonce du Grandmaison SJ oder Jules Lebreton SJ zu lesen stand, aufseiten der Stimmen der Zeit von Peter Lippert SJ, Constantin Noppel SJ oder Robert von Nostiz-Rieneck SJ, strotzt vor Nationalismus (Frankreich) oder Patriotismus (Deutschland). Der Krieg, den Lippert im Oktober 1914 noch einen "Europäischen Krieg" nennen konnte, wurde sakralisiert: Von einem "gerechten Krieg", einer "heiligen Sache" kann man lesen. Jeder wähnte Gott auf seiner Seite. (Manche Passagen in den Études blieben leer - Militärzensur.) Ressentiments wirkten jahrzehntelang nach, diesseits wie jenseits des Rheins. Der jüdische Dramatiker und Publizist Ernst Toller schrieb: "Ein toter Mensch. Nicht: ein toter Franzose. Nicht: ein toter Deutscher."
René Marlé SJ hat 1964 in den Études "La Grande Guerre" in den beiden Schwesterzeitschriften analysiert. Fünf Jahrzehnte später finden sich in unserer aktuellen Ausgabe zwei Artikel zum Ersten Weltkrieg - aus französischer wie aus deutscher Perspektive. Die Beiträge von Frédéric Gugelot (Reims) und Jörn Leonhard (Freiburg) erscheinen auch in der Oktober-Ausgabe der Études, auf deren Website früher. Mein Kollege François Euvé SJ in Paris und ich wollen damit ein Zeichen setzen - angesichts des Dramas nach den EU-Wahlen von 2014 und der Schwierigkeiten, sich auf einen Kommissionspräsidenten zu einigen, gewiss nichts Weltbewegendes. Aber auch Jesuiten leben und denken 2014 anders als 1914. Respekt voreinander, Wertschätzung und Zusammenarbeit sind möglich.