Auf den ersten Blick scheinen Martin Luther (1483-1546) und Eugen Biser (1918-2014) zu unterschiedliche Persönlichkeiten zu sein, um sie miteinander in Beziehung zu setzen, geschweige denn, um sie ernsthaft vergleichen zu können; vom Problem der historischen Distanz ganz zu schweigen. Hier treffen nicht nur konträre Weltbilder aufeinander, auch die das Leben und Denken prägenden Grunderfahrungen beider Theologen sind äußerst verschieden.
Durchlebte der mittelalterliche Reformator seine religiöse Krise im strengen Kloster der Augustiner-Eremiten, so waren für den existenzialistischen Denker des 20. Jahrhunderts die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und Stalingrads entscheidend. Hinzu kommen natürlich die ganz ungleichen historischen Schauplätze, philosophischen Einflüsse und kirchengeschichtlichen Kontexte, die die theologische Arbeit beeinflussten. Lässt man es aber dennoch auf einen Versuch ankommen, Luther und Biser gegenüberzustellen, so erscheint im Horizont der Auseinandersetzung ein Gottesbild, das auf ein gemeinsames theologisches Grundanliegen verweist. Gerade in Anbetracht der anhaltenden Schwierigkeiten des ökumenischen Dialogs lohnt es sich, einmal der Frage nach dem Beitrag des Gottesbildes nachzugehen.
Ökumenischer Dialog in der Sackgasse
Der geschichtliche Erfolg des christlichen ökumenischen Dialogs und dessen Bedeutung für die Friedenskultur von morgen kann für unsere Gesellschaft überhaupt nicht zu hoch veranschlagt werden. Gerade deshalb müssen aber auch theologische Blockaden und sackgassenartige Methoden identifiziert und konstruktiv aufgearbeitet werden dürfen. Die kontroverse Rezeption verschiedener Dokumente der sogenannten Bilateralen Arbeitsgruppen unterstreicht diese Notwendigkeit.
So wurde der von der im Jahr 2000 veröffentlichten Schrift "Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen" intendierte "differenzierte Konsens" offensichtlich durch die als Antwort auf das Dokument erfolgten Stellungnahmen - besonders von evangelischer Seite - zumindest in Frage gestellt1. Der Rechtfertigungs-Debatte, die für die Frage nach dem Gottesbild eine besondere Bedeutung hat, wurde aber lediglich eine untergeordnete Beachtung geschenkt. Dafür stand sie im Zentrum der 1997 publizierten und in den Folgejahren bis in die Ortsgemeinden hinein lebhaft rezipierten "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre".
Ähnlich wie dies von evangelischer Seite aus geschah2, hatte sich auch Eugen Biser nur kurze Zeit nach Erscheinen der "Gemeinsamen Erklärung" zu Wort gemeldet und seine Kritik zum Ausdruck gebracht3. Der katholische Theologe stellte sowohl die sprachliche Darbietung der Rechtfertigungsdebatte, deren konzeptionelle Verhaftung wie auch die Fähigkeit, auf die tatsächlichen Fragen des heutigen Menschen einzugehen, in Frage.
Es ist in der Tat erstaunlich und der Sache abträglich, dass, obgleich die Theologie des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an sprachlichen und konzeptuellen Möglichkeiten entwickelt hat, der theologische Konflikt des 16. Jahrhunderts immer noch in "juridischen Kategorien" aufgearbeitet werden soll4. In enger Anlehnung daran formuliert Biser seinen theologiegeschichtlichen Einwand: Die "Krise des Rechtfertigungsgedankens" ist vor allem auch dadurch verursacht, dass sie an der religiösexistenziellen Frage des heutigen Menschen vorbeigeht. Sofern ihn die Religion überhaupt noch interessiert, fragt sich dieser nicht mehr, "wie bekomme ich einen gnädigen Gott", sondern was ist der "Sinn im Leben"? Aber weder ist Bisers Kritik wirklich neu, noch muss sie von protestantischer Seite als problematisch empfunden werden. Sie erinnert lediglich an das, was Paul Tillich schon fünfzig Jahre vorher erkannt und ausgesprochen hat:
"Der Protestantismus ist geboren aus dem Kampf um die Rechtfertigungslehre. Dem Menschen der Gegenwart und selbst dem kirchlichen Protestanten ist dieser Begriff fremd, so fremd, daß es, wie ich immer wieder festzustellen Gelegenheit hatte, fast keinen Weg gibt, ihn verständlich zu machen."5
Steht damit auch das reformatorische Anliegen, das sich durch die Rechtfertigungslehre seinen theologiegeschichtlichen Weg gebahnt hat, grundsätzlich in Frage? So zumindest will Biser dies feststellen. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich jedoch erst formulieren, wenn unser Gedankengang durch die Rechtfertigungslehre hindurch das dahinterstehende Gottesbild erreicht hat.
Bisers kritische und widersprüchliche Luther-Rezeption
Der katholische Theologe befasst sich in seinen Schriften zwar nur punktuell mit Luther, dies jedoch geschieht über den gesamten Verlauf seines Wirkens6. Luther erscheint gewissermassen im fernen Horizont von Bisers Theologie, ohne für diese entscheidend zu werden.
Vor allem die Glaubenskonstitution des Reformators und damit dessen reformatorische Grundeinsicht werden von Biser kritisch auf das dahinterstehende Gottesbild untersucht. Dabei kommt der katholische Denker zu der Schlussfolgerung, dass, von der Frage nach einem "gnädigen Gott" bedrängt, Luther doch in längst überwundenen Gottesvorstellungen verhaftet blieb. In besonderer Weise sei es der von ihm entwickelte "Fiduzialglaube", mit dem man Gott in den "drohend erhobenen Arm falle", der lediglich als ein Akt der Verzweiflung zu verstehen sei7.
Zwar habe Luther das Drohende und Richtende an Gott wahrgenommen und sich mit jenem "düsteren Gott" überworfen, ihn aber durch seinen Fiduzialglauben nicht wirklich überwunden, sondern geradezu als solchen sanktioniert. Der Gottesschrecken, den Luther nie wirklich losgeworden ist, sei schuld daran, dass, anstatt die christliche Tradition in ihrem Zentrum, dem Gottesbild, zu erneuern, nur der "Nebenkrater" der Rechtfertigungslehre entstanden sei8. Dieser kritischen Rezeption des Reformators stehen allerdings Darlegungen gegenüber, in denen Biser Luthers Ringen mit Gott und die in seiner Theologie gegebene Antwort durchaus positiv bewertet und sie sogar in eine gewisse Nähe zu seiner eigenen These des bedingungslos liebenden Gottes stellt.
Luther habe es gewagt, an die "Außenwände" des Glaubens zu schlagen9. Biser konstatiert also doch eine klare Bewegung zum Zentrum. Zwar bediene Luther sich noch Vorstellungen, die mittels "Blitz- und Donnerschlägen" von Gott sprechen, aber damit werde Gott wenigstens ernst genommen, und es entstehe die Möglichkeit einer Selbstbefragung des Menschen, die in der Lage sei, den "düsteren Gott" zu überwinden10. Biser steigert diese positive Bewertung noch und kann im Zusammenhang der Angstüberwindung sogar von einem "Durchbruch" Luthers bei seiner Römerbrief-Lektüre sprechen11. Resümierend vermittelt sich jedoch der Eindruck, als könne Biser sich nicht entscheiden, wie Luthers Gottesbild letztlich bewertet werden muss. Entscheidend bleibt zunächst: Die grundsätzliche Kritik an Luthers Glaubensverständnis begründet Biser mit dem Verhaftetsein in einem ambivalenten und von Jesus bereits überwundenen Gottesbild.
Erstaunliche Gemeinsamkeiten
Als erstes fällt das Augenmerk auf die ausgeprägte und klar artikulierte Reformabsicht beider theologischen Gesamtkonzeptionen. Luther entwickelte diese bekanntlich aus seinen Erfahrungen in der seelsorgerischen Praxis, wo der Ablassmissbrauch sich besonders negativ niederschlug. Die in seiner Zeit weit verbreiteten reformatorischen Bemühungen aufnehmend12 und ausgehend von seiner eigenen theologischen Entdeckung, schuf er ein Reformprogramm, das er 1520 in drei Hauptschriften der Öffentlichkeit nicht nur vorstellte, sondern für das er diese auch in die Pflicht zu nehmen versuchte.
Auch Biser entwickelt bewusst einen reformatorischen Anspruch, wenn dieser auch von anderer Natur ist. Als Ausgangspunkt seines Denkens ist die Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche und dem Atheismus von besonderer Bedeutung. Vor allem seine fundamentaltheologische Tätigkeit während seiner Zeit auf dem Guardini-Lehrstuhl (1974-1986) versteht er als "vorgeschobenen Beobachtungsposten" und entwickelt, von einer tiefen Sorge um die Möglichkeit des Glaubens für den modernen Menschen bewegt, sein theologisches Werk ständig weiter. Die theologisch komplex angelegten Überlegungen laufen schließlich in für jeden Leser nachvollziehbare konkrete theologische und spirituelle Reformvorschläge zusammen. Neben thesenhaften Formulierungen über das Wesen des Christentums13 und die Glaubenskonstitution14 ist es vor allem das Bild des unbedingt liebenden Gottes, das als Zentrum von Bisers Denken hervorzuheben ist15.
Eine weitere Gemeinsamkeit kann im Blick auf das methodische Vorgehen bzw. die Sprachtheorie, die Erkenntnistheorie und die Hermeneutik von Luther und Biser festgestellt werden. In einer seiner Hauptthesen stellt Biser bekanntlich fest, dass "das Christentum keine primäre, sondern eine sekundäre Schriftreligion ist"16. Der christliche Glaube sei keine Buchreligion, sondern lebe aus der Verkündigung als einem lebendigen Sprachereignis. Dem stünden Luthers Bewusstsein für das Defizitäre des verschrifteten Wortes, seine Differenzierung zwischen Wort und Schrift und das Verständnis des Gotteswortes als einem lebendigen Verkündigungsgeschehen sehr nahe.
Dieser Betonung des Performativen in der Kommunikation des Evangeliums entspricht der Gedanke der Intuition in der Epistemologie. Der Denker des 20. Jahrhunderts macht den ehemaligen Mönch zwar für die Rationalisierung des Evangeliums mitverantwortlich, findet aber in der "assoziativen Kraft seines Gedächtnisses" seine eigene "neue Lesart" und Erkenntnistheorie vorgebildet17. Vor allem Luthers "Turmerlebnis", das von Biser in der legendenhaften Erzählform als das eines einzigen entscheidenden Momentes festgehalten wird, kommt seiner eigenen "Frage nach dem Erkenntnisfortschritt" entgegen18.
Auch die hermeneutischen Optionen beider Denker weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf. So rezipiert Biser etwa für seine eigene Arbeit die historisch-kritische Methode und hält sie grundsätzlich für nicht hintergehbar, macht aber zugleich auf ihre Defizite und Grenzen aufmerksam. Ihre große Stärke, die historische Rekonstruktion, ist zugleich ihre Schwäche, denn sie bleibe im Gewesenen stecken und biete keine Möglichkeit, den garstigen historischen Graben zu überwinden. Soll das Christentum auf seine Mitte hin erneuert werden, dann muss Jesus Christus als das "authentische Interpretament, das allein verbindliche Auslegungsprinzip aller normativen Texte des Christentums, auch des Neuen Testaments"19 wiedergewonnen werden.
Jeder protestantische Leser wird dabei augenblicklich an das lutherische "was Christum treibet" (Vorrede auf das Neue Testament, 1522) erinnert. Natürlich lässt sich weder Bisers Methode noch die lutherisch-evangelische Bibelauslegung auf diese schlichte Formel reduzieren, beide sind wesentlich komplexer. Dennoch fällt auf, dass sowohl Luther als auch Biser Jesus Christus als hermeneutisches Zentrum außergewöhnlich stark hervorheben und als notwendige Ergänzung zu den in ihrer Zeit jeweils vorherrschenden exegetischen und hermeneutischen Schulen zu behaupten versuchen.
Entsprechend dieser hermeneutischen Option ist auch im Hinblick auf die Offenbarungstheologie die Nähe beider Theologen nicht zu übersehen. Ohne die vorhandenen Unterschiede unterschlagen zu wollen20, ist für beide theologische Ansätze eine theologia crucis maßgeblich. Nach dieser wird das Gottesverständnis der christlichen Religion zentral vom Kreuz Jesu Christi her verstanden. Luther hat damit vor allem die scholastische Methode seiner Zeit überwinden und die nicht appropriierbare Verborgenheit Gottes (deus absconditus) herausstellen wollen. Biser seinerseits verbindet die Kreuzestheologie erneut mit dem Thema des Gottesbildes. Die Passion Jesu kann als eine Art universales ikonoklastisches Moment der Religionsgeschichte, als "Akt der Entbildung", verstanden werden, in dem alle bis dahin überlieferten Gottesbilder einer Korrektur unterworfen werden. Wer und was Gott ist, könne demnach nur in dem am Kreuz durchgehaltenen und sich in der Auferstehung definitiv bestätigenden Gott der bedingungslosen Liebe sichtbar werden. Spätestens hier fällt das erste Mal deutlich auf, dass Luthers und Bisers theologisches Anliegen gemeinsame Bezugspunkte hat.
In logischer Weiterführung dieser Gedanken, und um einen letzten Vergleichspunkt zu bemühen, sind auch die Parallelen in Bezug auf die jeweilige Glaubenskonstitution bemerkenswert. Hier wird der Blick frei, der von der Rechtfertigungsfrage zum dahinterliegenden Gottesbild führt. Biser erwähnt und bestätigt zwar die Kirche als "Sakrament des Heils" (LG 48), hat aber in der konkreten Entfaltung der Glaubenskonstitution vor allem den einzelnen Menschen mit seiner inneren Zerrissenheit, Angst und Verzweiflung im Blick. Die entscheidenden Elemente, die Glauben heute ermöglichen, bestehen für den Denker aus Oberbergen in einer dialoghaften Entfaltung der Gottesbeziehung, bei der das Individuum sich als "Freund Gottes" angesprochen weiß.
Der Glaube ist ein mystisches, damit vorrangig innerliches Erleben, in welchem der Weg Jesu im Sinn des kierkegaardschen Gleichzeitigkeitserlebnisses nachvollzogen wird. Nur so könne der Glaube sein ursprüngliches therapeutisches, angstüberwindendes und befreiendes Potenzial entfalten. Auffällig ist dabei, dass Biser keine mit dem Glaubensprozess verbundene "Funktionalisierung" duldet. Weder der Tod Jesu noch menschliche Leistungen dürfen entgegen ihrem wahren Wesen, das heißt als freie, durch Liebe motivierte Akte, im Rahmen des Heilsgeschehens funktionalisiert werden.
Spätestens hier wird der Leser Bisers an Luthers Haltung gegenüber den Werken erinnert. Dem Entwurf Bisers erstaunlich ähnlich, zielt auch der Glaubensbegriff des ehemaligen Augustiners auf eine jede kasuistische Absicherung überwindende, existenzielle Erfahrung der Liebe Gottes. Biser ähnlich, entwirft auch Luther eine zwischen promissio und fides apprehensiva Christi sich entfaltende Glaubenserfahrung, die grundsätzlich dialogisch und relational angelegt ist21.
Es wird deutlich: Als Bedingung der Glaubenskonstitution tritt bei beiden Theologen das Bild eines Gottes der unbedingten Liebe hervor. Bei Luther äußert sich dies in der Verbindung der Elemente Liebe und Glaube22, ebenso wie bei Biser das Gottesbild und die Glaubenskonstitution engstens aufeinander bezogen sind. Das Motiv der "Bedingungslosigkeit" der Liebe Gottes, das Bisers Werk wie ein roter Faden durchzieht, erinnert unweigerlich an die reformatorische Betonung "ohne Werke". Des Weiteren ist zu bemerken, dass der in Jesus Christus sich offenbarende Gott beide Theologen dazu bewogen hat, einen auch die Glaubensgewissheit konsolidierenden Differenzierungsprozess durchzuführen, der zwangsläufig ein Licht auf das Gottesbild wirft. Während Luther dies vor allem durch die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium erreicht, demontiert Biser ein ambivalentes Gottesbild, aus dem er jeden Schatten eines verdammenden und rachsüchtigen Gottes tilgt.
Der Horizont eines gemeinsamen theologischen Anliegens
Um diese Gedanken noch zu vertiefen, muss Bisers Luther-Deutung im Licht des Ausgeführten ergänzt werden. Vor allem seine Kritik der Rechtfertigungslehre bedarf einer Korrektur, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die den Blick auf das gemeinsame theologische Anliegen versperren könnten.
Aus Bisers Luther-Rezeption im Allgemeinen und seiner Reaktion auf die "Gemeinsame Erklärung" im Besonderen ist der Eindruck entstanden, dass scheinbar zusammen mit dem juridischen Sprachgebrauch und der fehlenden Aktualität der Rechtfertigungslehre auch das reformatorische Anliegen grundsätzlich in Frage gestellt werden müsse. Würde sich dies bestätigen, dann wäre der Gedanke eines gemeinsamen Anliegens allerdings eine ökumenische Utopie. Ich bin der Auffassung, dass der neue Wein von Luthers theologischem Anliegen vom Gefäß der Rechtfertigungslehre differenziert werden kann. So wie auch die katholische Theologie sich nicht mehr gezwungen fühlt, das Geheimnis der Wandlung in der Eucharistie ausschließlich mit einer nicht mehr zeitgemäßen Transsubstantiationslehre zu erklären, ist es durchaus möglich, auch Luthers reformatorisches Anliegen zu aktualisieren. Der Reformator selbst bietet, neben dem natürlich zentralen Rekurs auf die Rechtfertigungslehre, eine Reihe von Instrumenten und Metaphern dazu an23. Als einer der gelungensten Aktualisierungsversuche der jüngsten Zeit darf Ulrich Barths "Aufgeklärter Protestantismus"24 gelten.
Engstens mit der Rechtfertigungslehre verbunden und deshalb auch für das Gottesbild relevant, ist die Schuldfrage. Zu schwer wiegt Nietzsches Einfluss und dessen Kritik der durch die christliche Religion suggerierten "Sklaven-Moral" und des "Gefühls der Schuld", als dass Biser in der protestantischen Rechtfertigungslehre etwas anderes als den Eintritt in das "moralische Stadium" des Christentums erkennen könnte. Auch das reformatorische Axiom "simul iustus et peccator" bestätige - so Biser - lediglich das ambivalente Menschenbild des Protestantismus, das auf einen "vorjesuanischen Gott" zurückgehe25. Diese Bewertung übersieht jedoch, dass das gesamte Wirken, vor allem des frühen Luther, bemüht war, die Angst aus dem Bußprozess herauszuhalten und die durch einen neu verstandenen Gnadenbegriff vermittelte Gewissheit als eigentliches Ziel der Buße wiederzugewinnen26.
Die Kritik Bisers wird aber vorwiegend vom Hauptanliegen seiner Theologie genährt: das Bild des unbedingt liebenden Gottes als zentrale Lebensleistung Jesu. Wir haben gesehen, dass Biser sich unsicher ist, inwiefern auch Luther diesen Gott meinte und in seiner Theologie zur Darstellung brachte. Vereinzelte positive Anklänge ändern nichts an dem Gesamtbild, Luthers Gott sei "der Gesetzgeber, der die Welt mit einem Zorngericht bedroht", und entspreche damit der periodisch wiederkehrenden "Verdüsterung des Gottesbildes" im Spätmittelalter27. Hier hat Biser zu viel von Luther erwartet.
Als Figur des Übergangs gebraucht Luther selbstverständlich eine Sprache und Vorstellungen, die dem Weltbild des Mittelalters angehören. Diese Feststellung allein sagt aber noch nichts über das innovative Potenzial seiner Theologie aus. Um Luther gerecht zu werden, müsste Bisers erkenntnistheoretische Würdigung des Turmerlebnisses nun auch theologisch durchgehalten werden. Auch wenn Luther sprachlich und konzeptuell noch im Denken des Mittelalters befangen war, so ist seiner reformatorischen Einsicht ein "Umsturz in Gott vom Zorn zur Liebe" nicht abzusprechen28. In dem ihm möglichen Maß war auch der Reformator innovativ im Blick auf das Gottesbild. Luther begann zweifellos beim "düsteren Gott" und erlitt in eigener Person die tiefen Ambivalenzgefühle, die dieses Gottesbild vermittelt29. Und dennoch: Er schuf sich durch seine Theologie einen "Übergang des Gewissens von Gericht in Gnade"30.
An diesem Punkt der Begegnung zwischen Luther und Biser angekommen, scheint es angemessen, die Schlussfolgerung eines gemeinsamen theologischen Anliegens zu postulieren. Es ist zwar deutlich geworden, dass die Gemeinsamkeiten weniger im Sprachlichen und Konzeptionellen zu finden sind31. Wagt man jedoch deren Überschreitung und fragt nach dem eigentlichen theologischen Anliegen, dann leuchtet im Horizont beider Denker ein gemeinsames Gottesbild auf: der Vater Jesu Christi, der Gott der unbedingten Liebe.
Beide Entwürfe fokussieren ihr Gottesbild auf die uneingeschränkte Zuwendung Gottes zum Menschen, die eine neue Qualität der Glaubenskonstitution impliziert. Der Gott der unbedingten Liebe ist unbestritten das Zentrum, um das sich das gesamte Werk vor allem des späten Biser bewegt. Er stellt aber auch den Erfahrungshintergrund von Luthers Turmerlebnis und der darin zum Ausdruck kommenden reformatorischen Grunderkenntnis dar. Heute stellt das Gottesbild fundamental theologisch ein emergierendes Thema dar, das aber bislang vorwiegend binnentheologisch erörtert wurde. Die Gegenüberstellung von Martin Luther und Eugen Biser zeigt, dass eine ökumenische Erschließung sinnvoll ist und damit neue Perspektiven des Dialogs eröffnet werden können.