Tutiorismus des Wagnisses - jetzt!

„Wir brauchen einen ganz anderen Mut“: Das ist nicht Kardinal Reinhard Marx oder Karl Rahner SJ - der Sache nach vielleicht schon, aber nicht dem Wortlaut nach. Es geht, im Blick auf die am 4. Oktober beginnende Synode über „Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“, längst nicht mehr um das beste Zitat oder die originellste Pointe, ja nicht einmal, so ist zu befürchten, um die besseren Argumente.

Um „einen ganz anderen Mut“ warb der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, der sich 1942 im Exil in Brasilien zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben nahm, angewidert durch die „Dämonen“ in Europa. Seinem Freund Paul Zech schrieb er am 5. Juni 1941: „Mein Lieber, es wäre dumm und verlogen, Dir sagen zu wollen: sei guten Muts, wir werden siegen, es wird alles besser werden. Wir brauchen einen ganz anderen Mut, nicht den eines künstlichen Optimismus, den Mut des ,dennoch‘ und ,trotzdem‘. Ich glaube, wir haben die Pflicht, aus uns herauszuholen, was in uns steckt, auch wenn wir nicht sichtbar sehen, was daraus wird […].“

Wochenlang bin ich auf dem Weg in die Redaktion mit dem Rad am Literaturhaus München vorbeigefahren, ich habe das Plakat mit Stefan Zweig gesehen, den Satz zur Kenntnis genommen - aber „geklickt“ hat es erst nach einem Studientag in Rom, bei dem mir klar wurde: Nur die bekannten Positionen zu wiederholen, diese - von der Realität der Menschen abstrahierend - zu verteidigen, zu insinuieren, jede Weiterentwicklung sei ein „Verrat“ am Wort Jesu oder eine „Verwässerung“ der Tradition - das geht an dem vorbei, wofür der Pontifikat von Papst Franziskus und im Letzten auch die Kirche stehen.

Stellen wir mit Jesus von Nazareth, der menschgewordenen Liebe Gottes, den Menschen - vor allem den verwundeten, den enttäuschten, den marginalisierten, den gebrochenen, den gescheiterten, den diskriminierten, den (von der Kirche oder anderen Institutionen) verletzten Menschen - in den Mittelpunkt allen Suchens und Bemühens? Oder geht es darum, theologische Positionen, das Kirchenrecht, das „Image“ zu retten: mit einer oft recht fragwürdigen Berufung auf „die Tradition“, „die Lehre Jesu“, so als seien diese so eindeutig und so unmissverständlich, wie behauptet wird - auf die Gefahr hin, Menschen zu klassifizieren und abzuurteilen? Es steht einiges auf dem Spiel!

Papst Johannes XXIII. hat in seiner Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils eindringlich vor „Unglückspropheten“ gewarnt, die „immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehen würde.“ Nicht zufällig hat Papst Franziskus genau diese Stelle in seiner Bulle „Misericordiae vultus“ (Nr. 4) vom 11. April 2015 zur Eröffnung des Heiligen Jahres zitiert.

In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, sich an den Tutiorismus zu erinnern: die in der Moraltheologie (neben dem Probabilismus) entwickelte Lehre, zwischen zwei Möglichkeiten immer das Sicherere zu wählen. In Konfliktsituationen kann das gewiss ein sinnvoller Rat sein. Wenn er aber dazu führt, dass kirchliche Autoritäten in einer Art Überängstlichkeit eher „auf Nummer sicher“ gehen wollen, dann besteht die Gefahr, dass auf brennende Herausforderungen die nötigen Antworten verpasst werden. Wohl gerade darum hat Karl Rahner einen „Tutiorismus des Wagnisses“ ins Feld geführt - erstmals in einer Festrede, die er auf Einladung des Wiener Erzbischofs, Kardinal Franz König, am 1. Juni 1962 beim Österreichischen Katholikentag in Salzburg hielt. Der Titel der Rede war dem ersten Brief an die Thessalonicher (5,19) entnommen: „Löscht den Geist nicht aus!“

Rahner sprach von einem gebotenen „Mut zum Wagnis“: „Wir leben in einer Zeit, wo es einfach notwendig ist, im Mut zum Neuen und Unerprobten bis zur äußersten Grenze zu gehen, bis dorthin, wo für eine christliche Lehre und ein christliches Gewissen eindeutig und indiskutabel eine Möglichkeit, noch weiter zu gehen, einfach nicht mehr sichtbar ist.“ Und dann, die entscheidende Stelle: „Der einzige heute im praktischen Leben der Kirche erlaubte Tutiorismus ist der Tutiorismus des Wagnisses. Wir dürfen heute eigentlich nicht bei der Lösung von echten Problemen fragen: Wie weit muss ich gehen, weil es einfach von der Situation erzwungen wird, wenigstens so weit zu gehen, sondern wir müssten fragen: Wie weit darf man unter Ausnützung aller theologischen und pastoralen Möglichkeiten gehen, weil die Lage des Reiches Gottes sicher so ist, daß wir das Äußerste wagen müssen, um so zu bestehen, wie Gott es von uns verlangt.“

Als konkretes Beispiel ist die Ökumene erwähnt: „Wenn in diesen und vielen anderen Fragen dieser Tutiorismus angewendet würde, d. h. wenn man von der Überzeugung als Imperativ für unsere Stunde (nicht als immer gültiges Prinzip für alle Zeiten) ausginge, dass das Sicherste heute das Wagemutigste sei und die beste Chance, alles oder einiges zu gewinnen, nicht die Vorsicht, sondern der kühnste Wagemut sei, dann würde sich doch wohl manche Überlegung in der Kirche anders gestalten.“

Beherzigt man diese Gedanken, die Rahner später immer wieder vorbrachte: Wieviel Zögerlichkeiten und Reserven in den verschiedensten kirchlichen Bereichen würden dann vielleicht beiseite geräumt oder mindestens relativiert werden können?

Franziskus betont in „Misericordiae vultus“: „Der Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt, ist die Barmherzigkeit. Ihr gesamtes pastorales Handeln sollte umgeben sein von der Zärtlichkeit, mit der sie sich an die Gläubigen wendet; ihre Verkündigung und ihr Zeugnis gegenüber der Welt können nicht ohne Barmherzigkeit geschehen. Die Glaubwürdigkeit der Kirche führt über den Weg der barmherzigen und mitleidenden Liebe.“ (Nr. 10) Offensive Treue zur Tradition bewahrt vor Traditionalismus ebenso wie vor Fundamentalismus. Sie befähigt, sich gegen defensive Weisen des „Verteidigens“ zu wenden, denen es nur mehr um Paragraphen, aber nicht um den Geist Jesu geht. Mit Johann Baptist Metz: „Wer retten will, muss wagen.“

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