Eine barmherzige Kirche für eine verwundete Welt

Dieser Text geht - wie das erste ausführliche Interview mit Papst Franziskus im August 2013, das am 19. September 2013 zeitgleich auf den Websites der europäischen Jesuitenzeitschriften freigeschaltet wurde - auf eine Initiative der Konferenz dieser Kulturzeitschriften zurück. Das englische Original stammt von Daniel Izuzquiza SJ (Madrid) und Andreas R. Batlogg SJ (München). Der Text erscheint in „Anoichtoi Horizontes“ (Athen), „Brotéria“ (Lissabon), „Choisir“ (Genf), „La Civilità Cattolica“ (Rom), „Études“ (Paris), „Razón y Fe“ (Madrid), „Signum“ (Uppsala), „Stimmen der Zeit“ (München), „A Szív“ (Budapest) und „Thinking Faith“ (London).

An drei Begebenheiten bei Papst Franziskus möchten wir erinnern, kleine Hinweise, die uns helfen, Überlegungen zum beginnenden Heiligen Jahr der Barmherzigkeit anzustellen. Am 17. März 2013, beim ersten Angelusgebet nach seiner Wahl zum Papst, zitierte Jorge Mario Bergoglio Kardinal Kaspers Buch „Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums - Schlüssel christlichen Lebens“1, von dem er sagte, es „hat mir sehr gutgetan“2. Nicht viele konnten damals absehen, wie wichtig dieses Thema für sein Pontifikat werden sollte.

Ähnlich war es zu diesem Zeitpunkt mit der Bedeutung seines Wahlspruchs, Miserando atque eligendo, den Franziskus dann im Interview mit Antonio Spadaro SJ selbst erklärte, das er den Jesuitenzeitschriften gab, die jetzt dieses gemeinsame Editorial veröffentlichen. Der Papst sagte: „Das lateinische Gerundium miserando scheint mir sowohl ins Italienische wie ins Spanische unübersetzbar zu sein. Ich würde es am liebsten mit einem anderen Gerundium übersetzen, das es gar nicht gibt: misericordiando.“3 Das dritte Beispiel stammt aus demselben Interview, in dem Papst Franziskus ziemlich klar äußert, „dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen - Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht.“4

Ein barmherziges Herz

Wenn man sich diese Einsichten vor Augen hält, kann die Rolle nicht überraschen, die Barmherzigkeit im ordentlichen Lehramt von Papst Franziskus und bei seiner Ankündigung des Heiligen Jahrs der Barmherzigkeit spielt. Natürlich gehört Barmherzigkeit zum Innersten der biblischen Offenbarung, denn sie gehört zum Innersten des Herzens unseres Dreifaltigen Gottes. Aus theo-anthropologischer Sicht hält der heilige Thomas von Aquin Barmherzigkeit gegenüber unseren Nächsten in Not für die höchste Tugend des Menschen (vgl. „Summa Theologiae“, II-II, q. 30, a. 4), und weist darauf hin, dass Barmherzigkeit sowohl eine affektive als auch eine effektive Komponente hat.

Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit wird am 8. Dezember beginnen; der Termin wurde gewählt, „weil er eine große Bedeutung in der jüngsten Kirchengeschichte hat.“ („Misericordiae Vultus“, Nr. 4) Es soll mit der Öffnung der Heiligen Pforte beginnen, „genau fünfzig Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils“ (ebd.), eines Konzils, das dem Aufruf Papst Johannes' XXIII. gefolgt ist, die Fenster der Kirche zu öffnen und frische Luft des Geistes durchwehen zu lassen. In „Evangelii gaudium“ lesen wir eine weitere päpstliche Einladung, eine offene Kirche zu sein, denn: „Eine Kirche ,im Aufbruch‘ ist eine Kirche mit offenen Türen.“ (EG 46). Das eigene Herz und Leben zu öffnen ist ein Weg, Barmherzigkeit zu zeigen.

Barmherzigkeit, ad intra

Die Dogmatische Konstitution des Konzils über die Kirche, „Lumen gentium“, erklärt verbindlich:

„Christus wurde vom Vater gesandt, ‚den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind‘ (Lk 4,18), ‚zu suchen und zu retten, was verloren war‘ (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.“ (LG 8)

Dieses Kriterium gibt einen Leitfaden für den Einsatz und das Verhalten der Kirche in einer Reihe von Situationen. Tatsächlich ist die Kirche aufgerufen, daran erinnert uns die päpstliche Verkündigungsbulle, „Oasen der Barmherzigkeit“ zu bieten; nicht nur die Kirche allgemein, sondern in „unseren Pfarreien, Gemeinschaften, Vereinigungen und Bewegungen, d. h. überall wo Christen sind“ (MV 12).

Wir führen zwei weitere Beispiele an, wie dieses Prinzip praktisch umgesetzt werden kann - beide schwierig und wichtig. Das erste bezieht sich auf Abtreibung. Wie mittlerweile bekannt ist, hat Papst Franziskus entschieden, „für das Jubiläumsjahr allen Priestern die Vollmacht zu gewähren, von der Sünde der Abtreibung jene loszusprechen, die sie vorgenommen haben und reuigen Herzens dafür um Vergebung bitten.“ (Brief an Erzbischof Rino Fisichella vom 1. September 2015) Natürlich leugnet dies nicht die Tragödie der Abtreibung, die „zutiefst ungerecht“ ist. Aber die Priester, fährt der Papst fort, sollen „Worte der echten Annahme mit einer Reflexion zu verbinden wissen, die hilft, die begangene Sünde zu begreifen. Ebenso sollen sie auf einen Weg echter Umkehr verweisen, um die wahrhaftige und großherzige Vergebung des Vaters verstehen zu können, der durch seine Gegenwart alles erneuert.“5 Gottes Liebe ist weder rigoros noch permissiv. Dies gilt auch für die barmherzige Praxis der Kirche.

Ähnlich ist es beim zweiten Beispiel, das sich auf die komplexe Wirklichkeit der Familien bezieht, mit ihrem Scheitern, Leiden, Gebrochenheiten und Sackgassen. Die Kirche - als Mutter - erkennt das Bedürfnis einer barmherzigen Seelsorge in vielfältigen Situationen, darunter: Paare, die zivil verheiratet sind oder zusammenleben; verwundete Familien, etwa alleinerziehende Eltern; Menschen, die sich getrennt haben oder geschieden sind - ob wiederverheiratet oder nicht; und Menschen mit homosexueller Orientierung. Gottes Barmherzigkeit muss in der Kirche Christi Gestalt annehmen und auf konkrete und überzeugende Art Menschen in all diesen Situationen „caritas in veritate“ erweisen.

Barmherzigkeit, ad extra

Während „Lumen gentium“ sich auf die Kirche selbst bezieht, gewissermaßen nach innen sieht, lenkt ein anderes großartiges Dokument des Konzils, die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, die Aufmerksamkeit auf die Kirche in der Welt, also in ihrer Ausrichtung nach außen. Barmherzigkeit gehört zur innersten Identität der Kirche, ihrer Beziehungen und ihres Lebens. Barmherzigkeit ist aber auch im Mittelpunkt des missionarischen Handels der Kirche, da alle menschliche Wirklichkeit, und die Gesellschaft als ganze, von Gottes Herz und auf es zu geführt werden:

„Der Herr ist das Ziel der menschlichen Geschichte, der Punkt, auf den hin alle Bestrebungen der Geschichte und der Kultur konvergieren, der Mittelpunkt der Menschheit, die Freude aller Herzen und die Erfüllung ihrer Sehnsüchte“ (GS 45).

Die oft zitierten Eingangsworte von „Gaudium et spes“ haben sich in unsere Erinnerung und in unser Herz eingeschrieben:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (GS 1)

Wie lässt sich nun diese Botschaft in die heutige Welt tragen? Widerhall ließe sich in einer ganzen Reihe schwieriger Situationen finden, besonders in der „Kultur der Ausgrenzung“, in der wir leben. Es gibt sicherlich viele relevante Themen, aber aus Platzgründen wollen wir nur eines besonders in den Blick nehmen.

Dieses Editorial erscheint im Namen einiger europäischer Jesuitenzeitschriften. Es ist offensichtlich, dass Europa gegenwärtig einige herausfordernde Krisen erlebt - eine Flüchtlingskrise, eine humanitäre Krise, eine politische Krise. Was bedeutet Barmherzigkeit in dieser Situation? Bei verschiedenen Gelegenheiten hat der Papst selbst einige Punkte näher beleuchtet, etwa in seiner Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings vom 12. September 2015, bei der er die Antwort der Barmherzigkeit auf diese drängende Herausforderung anbietet. Wenn wir uns selbst und der Wirklichkeit gegenüber ehrlich sind, werden wir erkennen, dass

„das Evangelium der Barmherzigkeit heute die Gewissen der Menschen wach[rüttelt], es verhindert, dass man sich an das Leid des anderen gewöhnt, und zeigt Antwortmöglichkeiten auf, die in den theologalen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe wurzeln und sich in den Werken der geistigen und leiblichen Barmherzigkeit ausdrücken.“6

Wie also können wir aus der Perspektive des Evangeliums der aktuellen Flüchtlingskrise begegnen?

Einerseits anerkennen wir voll und ganz die prompte und großzügige Antwort einer bedeutenden Anzahl von Personen, Familien, Gemeinschaften und Bürgerbewegungen der Zivilgesellschaft. Solidarität entspringt einem barmherzigen Herzen. Statt aus Angst oder Eigennutz heraus zu handeln, hat die Mehrheit der europäischen Gesellschaften aus dem Herzen heraus gehandelt und so ihre christlichen Wurzeln zum Vorschein gebracht, die manchmal übersehen oder verworfen werden. Andererseits müssen wir sagen, dass diese persönliche Antwort, so notwendig sie ist, nicht ausreicht. Christliche Nächstenliebe hat eine politische Dimension. Und Barmherzigkeit muss auch in Form von Gesetzen Gestalt annehmen. Besonders wenn es um Flüchtlinge geht, wie in diesem Fall, muss internationales Recht angewandt werden, unter Berücksichtigung der bindenden Wirkung der Verträge für alle Staaten. Die Sorge für Menschen, die vor Krieg flüchten, ist keine optionale Entscheidung einzelner Politiker, es ist eine Forderung internationaler Abkommen und der Menschenrechte. Schließlich ist festzuhalten, dass humanitäre Notfallpläne nicht den Bedarf langfristiger Integrationsprogramme in den Aufnahmeländern und eines ernsthaften Bemühens um Friedensprozesse zur Beendigung der Kriege in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verdecken dürfen.

Fazit

„Misericordiae Vultus“ ist eine Einladung, barmherzig zu sein „wie der Vater“. Genau wie der Vater im Gleichnis im Lukasevangelium ständig nach seinem Sohn Ausschau hielt (vgl. Lk 15,20), sind wir eingeladen, ein Auge auf unsere Brüder und Schwestern zu haben, ihren Situationen und Bedürfnissen Aufmerksamkeit zu schenken, ihre Gesichter zu entdecken, eine gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen. Wie der litauisch-französische Philosoph Emmanuel Lévinas betont hat, bewirkt das Antlitz eines Anderen (vultus) eine ethische Verpflichtung: „Das Antlitz spricht mit mir und fordert mich dadurch zu einer Beziehung auf“7 - „Das Antlitz öffnet die ursprüngliche Rede, deren erstes Wort Verpflichtung ist“8. Aus ethischer und christlicher Sicht antworten wir auf diesen Ruf, indem wir dem Anderen in seiner Not beistehen. Wie der heilige Ignatius von Loyola betont hat, muss die Liebe „mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden.“ (Geistliche Übungen 230) Die Werke der Barmherzigkeit sind unsere Antwort auf den Schrei unserer verwundeten Welt.

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