"Meine erste Beichte legte ich im Alter von fünf Jahren ab. Damals erschien mir die Möglichkeit einer persönlichen Beichte geheimnis- und verheißungsvoll, der Beichtstuhl als ein Ort, an dem alles gesagt und nichts verraten werden durfte, das aufgespannte Ohr Gottes. [...] Niemals wieder hat man mich dermaßen beim Wort genommen wie in den Beichtstühlen meiner Kindheit"1: Eine ungewöhnliche Erinnerung liest man in diesem Text der Georg-Büchner-Preisträgerin des Jahres 2012 Felicitas Hoppe (* 1960). Der Beichtstuhl als Ort von Geheimnis und Verheißung; als Raum der Erfahrung, ganz ernst, ganz beim Wort genommen zu werden; als "aufgespanntes Ohr Gottes"! Das ist schon überraschend, gilt doch gerade das Bußsakrament, im Blick auf den traditionell häufigsten Vollzug auch Beichte genannt, als das "vergessene Sakrament"2, das sich - wie kein anderes - in einer tiefen Krise befindet. Für die überwiegende Mehrheit selbst der katholischen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen bleiben sowohl die theoretische Bedeutung als auch der praktische Vollzug dieses Sakraments sperrig. Wenn Papst Franziskus nachdrücklich betonen muss: "Der Beichtstuhl ist kein Folterinstrument, sondern der Ort der Barmherzigkeit"3, weist dies auf die Dringlichkeit der Verbesserung einer unbefriedigenden Praxis hin.
Pastoral wird um Auswege aus dieser Krise gerungen. Wie aber spiegeln sich Erfahrungen im Raum der Gegenwartsliteratur? Wie schreiben Schriftstellerinnen und Schriftsteller unserer Zeit über Buße und Beichte? Unübersehbar zeigt sich in der Gegenwartsliteratur ein catholic turn4 - das Katholische dient zahlreichen Autorinnen und Autoren als sprachliche und inhaltliche Anregung zu literarischer Gestaltung, ohne dass sich darin eine konfessionelle Engführung oder oberflächliche Zuordnung finden würde. Das wird gleich beim ersten hier aufzurufenden Autor deutlich.
Albert Ostermaier - "ging ich nicht mehr zur Beichte"
Albert Ostermaier (* 1967) hat sich vor allem als Lyriker und Theaterautor einen Namen gemacht. In seinem zweiten, viel beachteten Roman "Schwarze Sonne scheine" (2011) entfaltet er ein abgründiges Spiel. Sebastian, 24-jähriger Ich-Erzähler und ehemaliger Schüler eines Klosterinternats, wird gezwungen, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Der Abt des Klosters konfrontiert ihn mit der Diagnose, dass er angesichts einer unheilbaren Krankheit nur noch ein halbes Jahr zu leben habe. Dieser Abt, sein "Lebensabschnittsvater" und geistlicher Mentor, stellt für ihn eine absolute Vertrauensfigur dar. Er sieht keinerlei Grund, am Befund zu zweifeln. Am Ende stellt sich die Diagnose als absichtliche Täuschung heraus, ohne dass deren Motive klar würden.
In diesem sprach- und bildmächtigen Roman voller Rückblenden, Erinnerungen und Gedankenströme, am Ende erkennbar als Niederschrift eines Narkosetraums, taucht Ostermaier tief ein in die Welt des Katholizismus in ihrer ganzen Faszination und Ambivalenz. So finden sich eindrückliche Schilderungen von Gottesdienstbesuchen: "Ich hatte die Osternächte geliebt, den Einzug der Mönche im uns umgebenden Dunkel, sie brachten das Licht, die Kerzen, die Hoffnung"5. Ästhetik und Botschaft durchdringen einander.
"Die Poesie berührte mich in einer dieser Nächte, wie noch nie zuvor mich etwas berührt hatte, sie weckte mich, gab der unbestimmten Sehnsucht ein Ziel, und ich gab ein Versprechen, das auf meiner Zunge lag, ohne dass ich es gewusst hätte."6
Doch das waren Kindheitserfahrungen, abgelöst von äußerer Distanz bei gleichbleibender innerer Verbundenheit:
"Ich war seit meiner frühen Jugend fast nie mehr in die Kirche gegangen", erinnert sich der Erzähler, "doch der Glaube hatte mich nie verlassen, genauso wenig wie ich ihn."7
Und die Beichte? Er blickt zurück:
"Immer hatte ich vor der Beichte geschwitzt, vor der Dunkelheit, dem gelöcherten Gitter in der Trennwand zwischen Sündern und dem Freisprecher von allen Sünden. Ich mochte mich niemand anvertrauen."8
Ostermaier fasst eine Erfahrung zusammen, die viele Katholiken früherer Generationen - keineswegs alle - so erlebt haben und schildern. Die Ohrenbeichte im Beichtstuhl wurde als Zwang empfunden, als angstbesetzt, als Pflicht, die nur durch Zwang oder Gewohnheit aufrechterhalten wurde. Ohne diesen Zwang, ohne die Routine brach dieser Brauch in kurzer Zeit in sich zusammen, weil er nicht als sinnvoll, als lebenserleichternd, als aktive Gestaltung der Gottesbeziehung empfunden wurde. So auch hier. Lapidar erzählt Ostermaier weiter: "Irgendwann mussten wir nicht mehr beichten, beichtete ich nur vor mir hin, ging ich nicht mehr zur Beichte"9. Konsequenz: Das Motiv Beichte verschwindet aus dem Bereich der Lebensbedeutsamkeit und deshalb auch aus dem weiteren Verlauf des Romans.
Eine solche Erfahrung im Umgang mit Beichte unterstreicht eindrücklich, warum dieses Sakrament in der Krise ist. Vergleichbare Erfahrungen werden zuhauf erzählt, sei es in persönlichen Lebensrückblicken, sei es in der Literatur. Es gibt freilich literarische Zeichnungen, die andere Schwerpunkte setzen.
Christoph Peters - "mein Herz ist kalt"
Der 1966 im niederrheinischen Kalkar geborene, seit dem Jahr 2000 in Berlin lebende Christoph Peters wuchs in einem traditionellen, noch ganz volksreligiös bestimmten rheinischen Katholizismus auf. Geradezu ein "katholischer Fundamentalist" sei er als Jugendlicher gewesen, wird er später berichten. Seine Beschäftigung mit Religion blieb aber nicht der binnenchristlichen Perspektive verhaftet. Faszinierend sind für ihn in gleicher Weise die beiden religiösen Gegenpole des japanischen Buddhismus und des Islam. Von dieser Faszination ist in Christoph Peters? literarischem Werk immer wieder die Rede10.
Der Katholizismus wird literarisch am fruchtbarsten in Peters? Roman "Wir in Kahlenberg" (2012), wo er in fiktionaler Verkleidung und Ausgestaltung die eigenen jahrelangen Erfahrungen als Schüler in einem bischöflichen Jungeninternat aufgreift. Carl Pacher, schon in den Anfangsbuchstaben erkennbar als literarisches alter ego des Autors, erlebt als 14- bis 16-Jähriger im "Collegium Gregorium Kahlenbeck" alle Mühen der Pubertät, gleichzeitig aber auch die Veränderungen eines katholischen Milieus auf dem Weg in die Postmoderne. Erotische Verwirrungen gehen Hand in Hand mit religiösen Zweifeln, Aufbrüchen, Anfechtungen. Am Ende - nach dem Abschied von einem älteren Freund, der versuchte, ihn nicht nur in eine homoerotische Beziehung, sondern auch in ultrakonservative Kreise der katholischen Kirche hineinzuziehen - steht das eine Wort, das den Neuaufbruch kennzeichnet: "Erleichterung"11.
Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Mosaikartig führt uns Peters in einzelne Gespräche, Begegnungen und Gedanken seines jugendlichen Protagonisten, dessen Perspektive erzählerisch nie verlassen wird. Der Roman ist voller religiöser Motive. Wir begegnen Pfarrern, Mönchen, biblischen Anspielungen, Schilderungen liturgischer Abläufe und theologischen Reflexionen. Kurz vor den Schlussprüfungen und damit der Entlassung aus dem Internat versucht Carl eine Lebensbeichte abzulegen. Doch nicht seine sexuellen Abenteuer, nicht seine Lügen und Boshaftigkeiten plagen seine Seele, sondern etwas ganz Grundsätzliches. Aber kann man das beichten?
"Er muss es sagen, sonst ist die Beichte ungültig und er exkommuniziert sich selbst. Vielleicht kann er es aber auf eine Weise formulieren, dass nur Gott weiß, wovon er spricht, ohne dass er im eigentlichen Sinne lügt oder etwas verschweigt: 'Es lässt sich gar nicht so konkret an einer bestimmten Handlung festmachen, deshalb meinte ich ja auch das mit der Sünde wider den heiligen Geist, es ist eher eine grundsätzlich innere Verweigerung Gott gegenüber, glaube ich, und daraus erwächst dann all das andere, was ich vorher genannt habe, die Brutalität gegenüber Schwächeren, der Missbrauch des eigenen Körpers. - Ich liebe nicht. Niemanden. Keinen Menschen und auch nicht Gott. Mein Herz ist kalt.'"12
Zwar erteilt ihm der Priester die Absolution, Carl aber weiß, dass ihm - dem Lieblosen, dem Zweifler - damit nicht geholfen ist. "Es ist alles noch aussichtsloser."13 Carl lässt die Welt des Internats, die Welt des vorkonziliaren Katholizismus, die Welt seiner Jugend letztlich erleichtert hinter sich auf dem Weg zu neuen Herausforderungen, die das Buch nicht mehr schildert. Christoph Peters, den Autor, werden seine Aufbrüche in die Welten anderer Hochreligionen führen, ohne dass er seine eigene katholische Beheimatung aufgeben wird. Darin ähnelt er dem nächsten Autor.
Ralf Rothmann - "Gebeichtet wird am Samstag"
Auch Ralf Rothmann - im Dezember 2014 zu seiner eigenen Überraschung ausgezeichnet mit dem "Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken" - gehört zu jenen Schriftstellern, in deren Werk den Spiegelungen der katholischen Kirche eine besondere Rolle zukommt. 1953 in Schleswig geboren, verbrachte Rothmann die ihn prägende Jugend in Oberhausen. Er schloss nach der Volksschule eine Maurerlehre ab, versuchte sich danach in mehreren Berufen. Seit 1976 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin, bleibt dem Trubel des Literaturbetriebs möglichst fern. Bekannt wurde Rothmann zunächst vor allem als Erzähler, der eben dieses Aufwachsen im kleinbürgerlichen oder proletarischen Milieu des Ruhrgebiets der 1960er und 1970er Jahre schildert. Dass er religiöse Motive verwenden würde, war zunächst kaum denkbar.
Seit der Publikation des Gedichtbandes "Gebet in Ruinen" (2000) kommt dem Nachspüren einer religiösen Tiefendimension jedoch eine neue Bedeutung zu. In der Verleihungsurkunde zum Wilhelm-Raabe-Literaturpreis (2005) etwa wird Rothmann bescheinigt, seine "brillante soziale Feinzeichnung" sei "einmalig in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur". Einmalig gerade dadurch, dass sie sich "meist untergründig, manchmal auch ins Symbolische gesteigert" mit religiösen Motiven "berühre und durchdringe", so dass noch "das kleinste Detail […] eine nahezu sakrale Würde"14 gewinne. Das Religiöse wird also bei Rothmann nicht nur zum Themenfeld, sondern geradezu zu einem literarischen Stilprinzip.
Hier ist nicht der Raum, um Rothmanns Spiegelungen von Religion, Katholizismus und Gottesfrage detailliert zu entfalten15. Konzentrieren wir uns mit "Junges Licht"(2004) auf den zentralen Schlüsselroman. Hier schildert der Ich-Erzähler Julian die Phase seines Aufwachsens an der Grenze von Kindheit zu Jugend. Zur Kirche zu gehen, an den Sakramenten teilzunehmen, Messdiener zu sein - all das war für den katholischen Jungen im Ruhrgebiet eine Selbstverständlichkeit. Im Vergleich zu vorherigen Schilderungen der katholischen Lebenswelt bei Rothmannn wird hier ein anderer Ton deutlich, eine genaue Wiedergabe von Beobachtung, die der satirischen Distanz, der nachträglichen Abwertung nicht mehr bedarf. Hier geht es um die Schilderungen aus der Sicht des noch weitgehend kindlichen Zwölfjährigen, die als solche bestehen dürfen.
Diese Perspektive wird besonders deutlich in einer außergewöhnlichen Szene des Romans, in der eine Beichte in den Mittelpunkt rückt. Julian, der Ich-Erzähler, will stellvertretend für seinen Vater beichten, um eine von dessen sexuellen Verfehlungen zu sühnen. Eine wunderbar erzählte, literarisch gebrochene, aus Erinnerung nacherzählte Szene, die hier nur in wenigen Auszügen dokumentiert werden kann:
"Pfarrer Stürwald sah auf die Uhr, als ich in die Kirche kam. Das Kreuz aus Glas, das an zwei Drahtseilen von der Kuppel hing, gleißte regenbogenfarben in dem frühen Licht. 'Was ist denn mit dir los?' Er faltete seine Schärpe zusammen. 'Kein Zuhause? Es ist zehn vor sieben. Außerdem hast du gar keinen Dienst, oder?' 'Nein. Erst Sonntag wieder. Aber ich möchte beichten.' 'Heute? Gebeichtet wird am Samstag, Junge.' 'Aber vor der Frühmesse doch auch!' 'Manchmal. Wenn Leute da sind. Doch du siehst ja: alles leer.' 'Wieso? Ich bin da!' Er schloss einmal kurz die Augen, seufzte. Dann öffnete er die Tür des halbrunden Beichtstuhls; die Gummidichtung machte ein saugendes Geräusch, als wäre ein Vakuum dahinter. 'Also gut, dann komm. Mach schnell.'"16
Eher pflichtschuldig und routiniert werden die üblichen Fragen und potenziellen Versündigungsgebiete beleuchtet, bis Julian zum eigentlichen Anlass seiner Beichtbitte kommt:
"Ich räusperte mich. 'Herr Stürwald?' 'Ich höre, Junge. Ich höre.' 'Ich hätte eine Frage. Oder eher eine Bitte. Ich meine, wo ich doch jetzt meine Sünden bekannt habe - könnte ich nicht auch noch für jemand anderen beichten?' 'Du willst was? Für wen?' 'Das kann ich nicht sagen.' 'Wieso willst du für jemanden beichten? Das tut er doch am besten selbst, oder?' 'Er geht aber nicht in die Kirche. Nie.' Der Pfarrer schüttelte den Kopf. 'Und du meinst, du kannst so einfach [...]. Was hat er denn getan? Kennst du seine Sünden?' 'Ja. Ich glaube.'"
Der Pfarrer ist verwirrt: Da will jemand für einen anderen eine Beichte ablegen. Kann er das zulassen?
"Er zupfte sich am Ohr. 'Also, hör mal zu, mein Junge. Um es kurz zu machen: Kein Mensch kann für einen anderen beichten. Das muss er schon selbst tun. Denn zum Beichten gehört die Reue, wie du weißt. Sonst wäre es ja sinnlos. Und du kannst nicht die Verfehlungen eines anderen bereuen. […] Du kannst für den Betreffenden beten, dass Gott ihm vergibt, ihn auf den rechten Weg führt und so weiter. Aber du kannst nicht seine Sünden bekennen und bereuen. Und ich kann ihm nicht die Absolution erteilen, indem ich dir eine Buße auferlege. Das ist doch absurd! Verstehst du das nicht?' Ich überlegte kurz. Dann schüttelte ich den Kopf. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare."
Doch Julian lässt nicht locker. Er beharrt auf seinem Anliegen. Was ist wichtiger: Die liturgisch-kirchenrechtliche Vorschrift oder die augenscheinliche seelsorgliche Not?
"'Julian, hör auf jetzt! Ich darf es nicht!' Ein Speicheltröpfchen flog von seiner Lippe, und ich sah das Blitzen der Brille hinter den Maschen. 'Du kannst hier doch nicht den ganzen Betrieb aufhalten!' Er hob zwei Finger, machte das Kreuzzeichen. 'Ego te absolvo. Zwei Vaterunser und ein Ave-Maria.' 'Dank sei Gott!' flüsterte ich und stand auf. […] Dann ging ich hinaus."17
In dieser Szene wird ein Zeitgefühl, eine biografische Phase geschildert, in der die konfessionelle Glaubenspraxis selbstverständliches Element des Alltagslebens ist. Die Beschreibung kommt ohne nachträgliche (Ab-)Wertung aus, lebt aus ihrer Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit, ihrem impliziten Humor. Gewiss ist damit nichts über die heutige Bedeutung der literarisch aufgerufenen Erinnerung ausgesagt. Umgekehrt behält das Beschriebene seinen Wert. Beichte erscheint als selbstverständlicher Teil des katholisch geprägten Alltags. Der Junge im Übergang zum Jugendlichen vertraut der Wirkkraft des Sakramentes noch so sehr, dass er es - ganz gegen die Intention - sogar stellvertretend für den Vater vollziehen möchte. Ob damit eine "gültige" Beichte vollzogen wurde, kann letztlich offenbleiben.
Auch wenn es - weit über diesen Roman und über diese Szene hinaus - im Werk Ralf Rothmanns zahlreiche religiös, ja: konfessionell getränkte Szenen, Motive und Sprachformen gibt, darf nicht übersehen werden: Den expliziten Antworten der Religion gegenüber bleibt der Autor skeptisch. Ungebrochene Affirmation oder Unterordnung unter institutionelle Vorgaben sind nicht seine Sache, vielmehr setzt sich die von ihm fast durchgängig gewählte Spannung von Nähe und Distanz durch. "Als Christ bezeichnen" würde er sich durchaus, so Rothmann in einem Gespräch mit der Zeitschrift "Der Westen" aus dem Jahr 2012. Vor allem Jesus Christus sei "eine Figur, die mir umso näher geht, je älter ich werde"18. Dennoch: Festlegbar in Sachen Religion ist er nicht. Schließlich sind die aufgezeigten Motivstränge, Stilmittel und Erzähldimensionen nur einige der viel umfassenderen Elemente des literarischen Werks Rothmanns. Zudem verbinden sich bei ihm im Kontext Religion die unterschiedlichen Traditionsstränge christlicher, buddhistischer und esoterischer Herkunft. Gerade diese Mischung macht jedoch den Reiz einer spezifisch theologisch-literarischen Lektüre seines Werks aus.
Daniel Kehlmann - "aber ich spürte ihn nicht"
Seit dem Welterfolg des Romans "Die Vermessung der Welt" (2005) gilt Daniel Kehlmann (* 1975) als der herausragende deutschsprachige Autor seiner Generation. Im 2013 erschienenen Roman "F" - das unter anderem für "Fatum. Das große F."19 steht - erzählt er die Geschichte dreier (Halb-)Brüder, die auf je eigene Weise Fälscher, Betrüger und Heuchler sind. Dabei durchzieht eine Spur satanischer Abgründigkeit den Roman. Kehlmann, dessen Großeltern während der Nazi-Diktatur vom Judentum zum Katholizismus übertraten, hatte bis dahin nur vereinzelt explizit religiöse Motive in seine Werke einfließen lassen. Anders hier! Vor allem über einen der Brüder kommt die religiöse Dimension zu Wort: über Martin Friedland, katholischer Pfarrer, übergewichtig, der Esslust verfallen, sich nach Glauben sehnend, aber glaubenslos. Aus seiner Sicht werden die Abläufe der Liturgie geschildert, Gottesdienste, Taufgespräche, theologische Dispute.
"Gott gibt es nicht. [...] Das ist der Fehler", hatte der sich seiner Familie entziehende Vater seinen Söhnen gleich in der Anfangsszene des Romans mit auf den Lebensweg gegeben. Martin wird sich nicht an diese Mahnung halten. Unsicher über seine Bestimmung, hofft er darauf, dass die Faszination für die ästhetische Welt des Katholizismus, für die Theologie in Verbindung mit seiner grundsätzlichen Menschenliebe reichen würde, um sich zum Priester weihen zu lassen. Aber ist er auch ein gläubiger Mensch? Nun, die "Sache mit Gott würde ich auch noch hinbekommen. Das dachte ich. So schwer konnte es doch nicht sein. Wenn man sich nur ein wenig Mühe gab, musste es zu schaffen sein"20, reflektiert Martin später. Da weiß er längst, dass es ihm nicht gelungen ist. So gut er die Handgriffe, Verhaltensmuster und Sprachspiele eines Pfarrers beherrscht, er glaubt nicht an Gott. "Gott spürte ich nicht. Ich wartete, betete, wartete und betete. Aber ich spürte ihn nicht."21
Einer der Brüder ein glaubensloser Pfarrer, ein weiterer ein Kunstexperte und -fälscher, der dritte ein zunächst überaus erfolgreicher, dann ruinierter Finanzberater: Lüge und Wahrheit, Schein und Realität, Selbstbild und Täuschung - um diese Dimensionen dreht sich der vielschichtige Roman, der Kehlmann tief in religiöse und theologische Welten vordringen lässt.
In einer Szene wird erzählt, wie Martin seine Beichten abnimmt. Als ihm ein Mann von seinem Leben zwischen verschiedenen Frauen erzählt, die er ständig betrügt, konfrontiert ihn der Pfarrer mit seiner Sicht der Dinge. Er sei nicht sein Therapeut, gibt er zu verstehen. "Ich bin auch nicht ihr Freund. Sehen Sie der Wahrheit ins Gesicht. Sie werden nie glücklich sein."22 Obwohl sein Gegenüber bei aller rhetorischen Gewieftheit keinen Zweifel daran lässt, dass er sein Leben nicht ändern und auch die ihm auferlegte Bußleistung nicht befolgen wird, schlägt Martin schließlich das Kreuzzeichen und spricht ihn von den Sünden frei.
Einem weiteren Beichtenden, einem Alkoholiker, versagt er die Absolution, weil dieser nicht einmal vorgibt, sich auf neue Wege begeben zu wollen. "Ich kann Sie nur lossprechen, wenn Sie den ehrlichen Wunsch haben, sich zu ändern."23 Dieser Beichtvater spult eher lakonisch und routiniert sein Programm ab, liest nebenbei in einem Roman, verzehrt Schokoriegel. Dass weder er selbst noch das Sakrament viel am Leben der Beichtenden ändern werden, ist ihm bewusst. Gleichwohl hält er sich an die ihm anvertraute Rolle, ohne sie zu hinterfragen. Ihm, dem glaubenslosen Glaubenssucher, bleiben so die letzten ironisch inszenierten Worte des Romans vorbehalten, gesprochen bei der Zeremonie zur Totenfeier für einen der beiden anderen Brüder: "Und jetzt [...] das Bekenntnis des Glaubens."24
Markus Feldenkirchen - "ohne sich zu bekreuzigen"
Ebenfalls zu den jüngeren Schriftstellern gehört Markus Feldenkirchen (* 1975). In seinem zweiten Roman "Keine Experimente" (2013) blickt er auf das Leben des katholischen sauerländischen Bundestagsabgeordneten Frederik Kallenberg. Ganz und gar erfüllt von der Vision eines aufrichtigen, an den Prinzipien des Glaubens ausgerichteten Lebensentwurfs bringt ihn die Begegnung mit einer selbstbewussten jungen Berlinerin aus dem Gleichgewicht. War seine ganze Welt, seine Ehe, sein Glaube an ein Politikerdasein jenseits von Korruption und Fremdbestimmung nur Illusion?
Als "tief katholisch"25 wird der Politiker charakterisiert. An "jedem Sonntag" sei er als Kind ganz selbstverständlich, wie die meisten Menschen in seinem Dorf auch, "in die Messe gegangen"26. Schilderungen dieser konfessionell getränkten Lebenswelt, Gottesdienstbesuche, der Austausch mit dem eng befreundeten, verständnisvollen, positiv gezeichneten Pfarrer - all diese Bestandteile werden in großer Selbstverständlichkeit als Illustration des geschilderten Milieus in den Roman hineingeschrieben. Diese Welt wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Gleichwohl wird deutlich, dass Kallenberg letztlich allein die Verantwortung dafür trägt, welchen Weg er künftig für sich einschlägt. Das wird in der Schluss-Szene des Romans deutlich, die - kaum zufällig - in einem Beichtstuhl spielt. Der Pfarrer und Freund ermuntert den ihm zunächst unbekannt Bleibenden auf der anderen Seite des Gitters mit einer oft gesprochenen pastoralen Floskel: "Lass dir Zeit [...] Der Herr ist nicht nur ein gütiger, sondern auch ein geduldiger Gott"27.
Das Gespräch, das sich dann entwickelt, läuft jedoch aus dem Ruder. Nicht mehr Sünder und von der Sünde-Frei-Sprechender sprechen zueinander, sondern vielfältig miteinander Verbundene, im Leben miteinander Verstrickte. So hatte der Politiker seine Frau betrogen, während der Pfarrer sich zur gleichen Zeit in diese Frau verliebte. "Ich habe dir immer erzählt, was mich belastet"28, hält Kallenberg dem Freund entgegen. Dessen Geständnis, in seine Frau verliebt zu sein, sprengt nicht nur die Beziehung von Pfarrer und Gemeindemitglied, sondern auch die der Freundschaft: "Du kannst mir das nicht antun"29! Wie zur Verdeutlichung der Veränderungen des Beziehungsgefüges heißt es über den Pfarrer: Er "öffnete die Tür des Beichtstuhls einen Spalt und lugte vorsichtig hinaus"30.
Dass der Pfarrer das Beichtgeheimnis in allen schwierigen Situationen in dieser Konstellation nie verletzte, stimmt Kallenberg versöhnlich. Gleichwohl ist ihm klar, dass er nun seinen eigenen Weg allein gehen muss. Die Beichte, die zum Austausch von Geständnissen wurde, wird für ihn zum Aufbruch in das neue, endlich ganz und gar selbstbestimmte Leben. Ohne Absolution verlässt er den Beichtstuhl:
"Ohne sich zu bekreuzigen, lief er auf den Ausgang zu, ließ selbst das Weihwasser links liegen und hörte bald die schwere Tür hinter sich ins Schloss fallen."31
Hanns-Josef Ortheil - "Befreiungserfahrung"
"Langsam wird er wieder katholisch": Eine überraschende Passage konnte man 1996 in den tagebuchartigen Aufzeichnungen "Blauer Weg" lesen. Da bekannte ein 45-jähriger Schriftsteller offen, sich seiner Kindheitsreligion wieder anzunähern, nachdem er sich gedanklich "von seiner Kindheitsreligion seit Jahrzehnten entfernt"32 hatte. Hanns-Josef Ortheil - 1951 in Köln geboren, aufgewachsen in Mainz und Wuppertal, promovierter Germanist und gleichzeitig hochrangiger Konzertpianist - lebt seit vielen Jahren als freier Schriftsteller in Stuttgart. Seit 2003 hat er zudem eine Professur für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim inne.
In der literarischen Welt Ortheils kam Religion, kam der Besinnung auf die katholische Prägung lange Zeit nur eine Nebenrolle zu. In seinen neueren Romanen rücken diese Dimensionen immer mehr in den Mittelpunkt.
"Das tragende Fundament dieses Lebens war der christliche Glaube, über dessen starken Einfluss auf meine eigene Geschichte ich in den letzten Jahren immer häufiger nachdenke",
schreibt Ortheil in einem bemerkenswerten autopoetologischen Essay unter der Überschrift "Die Schönheit des Glaubens"33. Er bezeichnet hier Glauben als "eine Urerfahrung", den Glauben an Gott als
"eine Art von Ur-Vertrauen darauf, dass ich in diesem gewaltigen Universum in einem elementaren Sinn geborgen und trotz aller Fremdheit staunend, bejahend zu Hause bin."34
Dieses Nachdenken hinterließ in den neueren Werken Ortheils deutliche Spuren. Immer wieder geht er dabei erzählerisch zurück in die eigene Kindheit. Der Roman "Das Kind, das nicht fragte" (2012) erzählt in Rückblenden die Lebensgeschichte von Benjamin Merz, noch ganz im rheinischen Milieukatholizismus und seinen Selbstverständlichkeiten beheimatet. In einer ausführlichen Szene wird eine Kindheitserinnerung an die erste Beichte eingespielt, ein Ereignis, das für dieses Kind - anders als für Albert Ostermaier und so viele andere in dieser Zeit - keineswegs bedrückend, angstbesetzt, einengend war, sondern eine "Rettung"35. Nach anfänglicher Angst und Unsicherheit wurde für ihn die Aufforderung, von seinem Leben zu erzählen, zur Befreiungserfahrung von Zurücksetzung und Sprachhemmung. Er "habe diesen Moment als einen der schönsten meines Lebens in Erinnerung"36. Endlich kommt der ständig unterdrückte und übersehene Junge dazu, von sich zu reden, und jemand hört ihm bedingungslos zu: "auf das Hören kam es an"37. Er lernt, dass er Gott auch Fragen stellen darf. Und er lernt, dass es eine Stille gibt, in der man in die Tiefen seiner Existenz absinken kann. Schon in dem Roman "Die Erfindung des Lebens" (2009) hatte Ortheil eine ähnliche Erfahrung beschrieben: Dem ebenfalls noch kindlichen Helden dieses Romans war es bei der Anbetung eines Marienstandbildes an der Seite der Mutter,
"als würde ich von ihm in eine Hypnose der Stille versetzt. In dieser Hypnose begann ich zu beten, aber nicht so, dass ich mir bestimmte Worte ausgedacht hätte, sondern eher, indem ich zunächst zuhörte, wie das Beten in mir von selbst begann."38
Doch ein weiterer Grundzug kommt hinzu: Angeregt von den nur zu gern im Fernsehen angeschauten humorvollen Don-Camillo-Filmen kommt es Benjamin Merz vor, als ob der Herr Jesus auch ihm mit jener leisen Stimme antworte, wie es in diesen Filmen dem italienischen Priester widerfährt. Dass es weder "die Stimme des wahren Herr Jesus"39 ist, noch die aus dem Film erinnerte, ist dem Jungen klar. In diesem Beichtgespräch mit dem Pfarrer, in dieser "Geburtsstunde meiner Frage-Antwortspiele"40, findet er jedoch zu einer eigenen Sprache, die auch das imaginäre Gespräch mit Jesus41 einschließt. Derartige Gespräche finden sich quer über den Roman verstreut immer wieder. Ein solches Gespräch beendet das Buch. Nachdem sich alles perfekt für Benjamin Merz gefügt hat, betritt er ein letztes Mal den so oft aufgesuchten Dom. Das Gespräch mit Jesus - "er weiß ja eh, was vor sich geht"42 - zeigt dem Protagonisten und uns Lesenden, wie es weitergehen wird mit dem erzählten Leben. Ein Dankgebet schließt das ungewöhnlich affirmativ über die katholische Prägung erzählende Buch ab: "Ich danke Dir, Herr. Gelobt und bedankt sei der Herr!"43
Michael Köhlmeier - "das strengste Gebot"
Wenden wir uns abschließend dem Vorarlberger Erzähler Michael Köhlmeier (* 1949) zu, der sich immer wieder intensiv und auf ganz unterschiedliche Weise mit Religion befasst hat, mal hintergründig, mal unmittelbar. In dem skurril-pikaresken Schelmenroman "Die Abenteuer des Joel Spazierer" aus dem Jahr 2013 erzählt er die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Titelhelden. Der in der Nachkriegszeit in Budapest geborene, später durch die Welt reisende österreichische Protagonist ist ein Meister der Verkleidung, der multiplen Identitäten, des Täuschens und Tricksens, zugleich ein vielfacher Mörder und ein religiöser Sinnsucher. Um Schuld und Sinn kreisen denn auch die grundlegenden thematischen Linien des Romans.
Die Welt des Hochstaplers Joel Spazierer ist in der Tat religiös durchtränkt, verbringt er doch längere Zeit in einem Priesterseminar der 1970er Jahre. Die erste Beichte legte der noch jugendliche Joel zu einem Zeitpunkt ab, an dem er noch "überhaupt keine Ahnung von Religion" hatte. Dennoch: "Ich betrat den Beichtstuhl, kniete mich in die Bank, schwieg und wartete. [...] Ich solle endlich beginnen, sagte eine Stimme, er habe nicht ewig Zeit." Der Pater versichert ihm, seine Geständnisse würden bei ihm auf absolute Verschwiegenheit stoßen: "ich dürfe alles sagen, alles, alles, alles, es werde niemand erfahren, es bleibe ein ewiges Geheimnis"44. Joel vertraut dieser Versicherung, legt dem Priester sein schon jetzt mit schwersten Verfehlungen belastetes Leben vor - nur um sich später bewusst zu werden, dass dieser das Versprechen und damit "das strengste Gebot, das ihm von seinem Gott auferlegt worden war"45, gebrochen hatte. Damit ist sein Vertrauen zur Kirche bleibend erschüttert.
Als Joel Spazierer sich später mit dem Pfarrer Rudi Jungwirth anfreundet, der eine John-Lennon-artige Brille aus Fensterglas trägt und am liebsten mit Jeans, T-Shirt und Freunden durch Österreich fährt, aussehend wie "bolivianische Revolutionäre"46, kommt das Gespräch erneut auf das Bußsakrament: "Erzähl mir, was geschieht bei der Beichte!" Die Antwort ist unbefriedigend, er hakt nach: "Und wenn einer stirbt und nicht gebeichtet hat, was wird aus dem? Angenommen, er hat etwas Böses getan?"47 Die Schilderungen des Pfarrers bleiben jedoch in klassischen Bildern verhaftet. Joel Spazierer, der Lügner, Verräter und mehrfache Mörder, wird sich weder der Kirche zuwenden noch von seinen Verbrechen ablassen. Stattdessen erlebt er am Ende in alptraumartigen Bildern ein Inferno, in dem Köhlmeier für seinen Helden ein Fegefeuer eigener Art erschreibt. Die eigentliche Beichte wird sein Buch. Aus der liturgischen Beichte wird eine literarische.
Ausblick
Schon die hier aufgerufenen Beispiele weisen auf den erstaunlichen Befund: Beichtszenen finden sich in der Gegenwartsliteratur zuhauf. Gerade dieses Sakrament, in dem einerseits der Sprache eine besondere Rolle zukommt und in dem sich andererseits das Ritual zu dichten Handlungssträngen zusammenfügt, reizt ganz offensichtlich zur literarischen Anknüpfung und Ausgestaltung.
Auffällig: Sehr häufig wird der Beichte als Geschehen in der Kindheit thematisiert, als Ritual der Vergangenheit. Dass und wie Beichte für Erwachsene eine Bedeutung zukommt, wird ungleich seltener betrachtet. Beichte ist also literarisch eher ein Phänomen der Erinnerung als der Gegenwart. Der Ton dieser Erinnerung kann dabei - wie geschildert - völlig unterschiedliche Färbungen erhalten.
Pastorale Verständigungen darüber, was das Bußsakrament heute bedeuten könnte und wie es gestaltet sein müsste, um Menschen wirklich zu erreichen, sollten vor dem aufgespannten Panorama erfolgen. Der Blick auf die Literatur belegt nachdrücklich: Dass und wie Beichte das Sakrament des Neuanfangs ist und als solches ein "mächtiges Instrument zum Trost, zur Versöhnung und zur Ermutigung"48, bedarf neuer Plausibilisierung.