"Das Wort 'Familienbande' hat", wie wir spätestens seit Karl Kraus wissen, "einen Beigeschmack von Wahrheit." Und doch: Wessen Bande zur Herkunftsfamilie schon im Kleinkindalter so radikal gekappt wurden, dass er alle Beziehungen zu seinen genealogischen Wurzeln verloren hat, dem wird seine Lebensgeschichte nicht selten zu einer kaum erträglichen psychischen Belastung.In einer Gesellschaft und Kultur, in der das Aufwachsen bei den leiblichen Eltern oder wenigstens einem Elternteil selbstverständlich erscheint, ist die Adoption kein Geschehen, das mit der Aufnahme in die neue Familie beendet wäre, sondern oft genug der Beginn eines lebenslangen Fragens und Zweifels, nicht zuletzt an sich selbst. Kenner der Materie wissen seit Langem, dass die Vermittlung eines aufgegebenen Kindes in eine neue Familie nur zu rechtfertigen ist, wenn alle Alternativen bedacht sind, aber auch dann eine Not-Lösung bleibt und nur als ultima ratio in Betracht kommt. Wenn, aus welchen Gründen auch immer, das Grundrecht eines Kindes auf Betreuung und Erziehung durch seine Herkunftsfamilie nicht zu realisieren ist, gilt es umso mehr, seinem verfassungsmäßig garantierten Recht auf Kenntnis seiner Abstammung entschieden Rechnung zu tragen. Nicht zufällig haben Adoptierte in Deutschland spätestens im Alter von sechzehn Jahren die gesetzlich festgeschriebene Möglichkeit, selber in ihre Vermittlungsakten Einsicht zu nehmen. Diese Akten sind, ganz gleich ob sie Adoptionen im Inland oder aus dem Ausland betreffen, sechzig Jahre lang aufzubewahren.
Anonyme Geburt - anonyme Adoption
Nicht diese gesetzlichen Regelungen, aber das hinter ihnen stehende Konzept geriet seit den Jahren 1999/2000 zunehmend in die Defensive. Immer häufiger nämlich tauchten damals in den Medien Nachrichten und Artikel auf, die über das keineswegs neue, aber bis dato selten thematisierte Phänomen der Tötung bzw. Aussetzung von Neugeborenen durch ihre Mütter berichteten und schon bald darauf hinwiesen, dass es nach Meinung erfahrener Fachkräfte aus dem Bereich der Schwangerenkonfliktberatung nur eine einzige Möglichkeit gebe, unerwünschte Neugeborene vor ihren potenziell tötungsbereiten Müttern zu retten: die diesen Frauen als ein Art übergesetzliches Notstandsrecht einzuräumende Möglichkeit nämlich, ihr Kind anonym zu gebären und ebenso anonym zur Adoption zu geben.
Seitdem sind institutionalisierte Angebote zur Ermöglichung der anonymen Kindesweglegung - die Babyklappe, die anonyme Geburt in einer Klinik sowie die direkte anonyme Übernahme eines Neugeborenen durch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter einer entsprechenden Einrichtung des Kinderschutzes - zu den bekanntesten und bestens beleumundeten Einrichtungen der Jugendhilfe avanciert. Von viel gutem Willen getragen, setzten sie eine Idee in die Tat um, die sich bis heute gegen fachliche und rechtliche Bedenken erfolgreich zu behaupten wusste und das, obwohl sie weder historisch fundiert, noch fachlich genügend durchdacht, geschweige denn in der notwendigen Breite diskutiert worden war. Mit anderen Worten: Diese neue Praxis lebte allein aus dem festen Glauben ihrer Verfechter, mit dem Anonymitätsprinzip endlich ein brauchbares Instrument zum Kampf gegen Kindstötung und Aussetzung in der Hand zu haben.
Aber, so fragten sich viele kritische Beobachter dieser Entwicklung schon damals: War das, was hier propagiert wurde, wirklich ein Fortschritt bei der Prävention der Tötung Neugeborener? Und war die damit verbundene Anonymisierung unerwünschter Kinder wirklich der Preis, der um der Rettung ihres Lebens willen nolens volens zu zahlen war?
Problem Babyklappe
Nein, das war nicht die Lösung - im Gegenteil! Es spricht vielmehr eine Vielzahl guter Gründe dafür, jedwede Regelung entschieden abzulehnen, die verlassenen Kindern die Möglichkeit nimmt, zu gegebener Zeit ihre leiblichen Eltern kennenzulernen oder sich wenigstens anhand einschlägiger Informationen mit den für sie wichtigen Herkunftsfragen gezielt auseinandersetzen zu können. Die wichtigsten dieser Gründe seien hier kurz zusammengefasst:
1. Nach wie vor werden in Deutschland Jahr für Jahr zwanzig bis vierzig Neugeborene tot oder zum Leben ausgesetzt aufgefunden1. Das entspricht genau jenen Zahlen, die auch für die Zeit vor der ersten direkten anonymen Übergabe eines Kindes bzw. vor der Eröffnung der ersten Babyklappe genannt werden. Mit anderen Worten: Die Zahl der Neugeborenentötungen bzw. der Aussetzungen zum Leben sind trotz einer Vielzahl von Angeboten, die die Anonymität der Weglegung eines unerwünschten Kindes problemlos ermöglichen, nicht zurückgegangen. Wichtiger noch: Neonatizide bzw. Aussetzungen zum Leben sind Jahr für Jahr auch in Städten und Ortschaften zu verzeichnen, wo (mindestens) eine Babyklappe oder/und (mindestens) ein Krankenhaus mit anonymer Geburt vergleichsweise leicht erreichbar gewesen wären2.
2. Befunde aus der gynäkologischen Psychosomatik und forensischen Psychiatrie zeigen: Frauen, die ihre Neugeborenen töten, gehören aufgrund der hier waltenden spezifischen Psychodynamik zu einer anderen Klientel als die, die interessiert und fähig sind, die Weggabe ihres gerade geborenen Kindes langfristig zu planen und unter Anonymitätsbedingungen in die Tat umzusetzen3.
3. Nach allem, was wir historisch und aktuell wissen, schafft auch im Fall von Babyklappe und anonymer Geburt das Angebot die Nachfrage: Babyklappe und anonyme Geburt verhindern nicht Tötungen und Aussetzungen, sondern tragen dazu bei, die Zahl anonym weggelegter Kinder zu erhöhen.
4. Das Angebot der Babyklappen richtet sich vornehmlich an Frauen, die allein, das heißt ohne medizinische Vorbereitung und Assistenz, geboren haben. Die hier angebotene Hilfe ist mehr als problematisch. Denn soll die Geburt anonym bleiben, bedarf es der baldigen Übergabe des Neugeborenen an die Klappe. Damit geraten die Mütter unmittelbar nach der Niederkunft unter enormen Zeit- und Entscheidungsdruck. Haben sie das Kind in der Klappe abgelegt, ist ihr Problem keineswegs gelöst: Ohne psychosoziale Beratung und Begleitung allein auf sich gestellt, kehren sie in genau jene Situationen zurück, die erst dazu geführt haben, dass sie ein Kind geboren haben, das sie nicht haben wollten oder nicht haben durften.
5. Schon bald nach der Eröffnung der ersten Babyklappen waren die mit diesem Konzept verbundenen medizinischen Gefahren für Mutter und Kind nicht mehr zu übersehen, weswegen eine zunehmende Zahl von Kliniken Angebote zur anonymen Geburt auflegte und nicht selten auch intensiv bewarb. Trotzdem blieb die Existenz von Babyklappen unangetastet. Begründet wurde dies mit der unausgewiesenen Behauptung, es gebe Frauen, für deren Not-Situation der Anonymitätsschutz der anonymen Geburt im Krankenhaus nicht ausreiche, denen vielmehr auch weiterhin einzig und allein mit der Babyklappe zu helfen sei.
6. Von Anfang an war es in Deutschland ganz und gar dem Zufall überlassen, wer wann und wo eine Babyklappe eröffnete bzw. die Möglichkeit zur anonymen Geburt in einer Klink anbot. Das führte dazu, dass die geografische Verteilung solcher Einrichtungen in Deutschland sehr ungleichgewichtig ist. Auch seitens der großen Anbieter gibt es bis heute keinerlei Hinweise dazu, wie viele solcher Angebote nötig wären, um jeder gerade niedergekommenen Mutter, egal wo sie lebt, die Erreichbarkeit einer entsprechenden Einrichtung innerhalb eines der Situation angemessenen Zeitraumes zu ermöglichen.
7. Die Babyklappe - und mit Abstrichen gilt das auch für die anonyme Geburt im Krankenhaus - steht nicht nur den immer wieder apostrophierten "Müttern in höchster Not" offen, sondern jedem und jeder, die oder der glaubt, diese Einrichtungen seien seinen bzw. ihren Interessen nützlich. Mit anderen Worten: Ist es wirklich immer die besagte "Mutter ohne Ausweg", die ihr Kind in einer Babyklappe ablegt? Und wenn ja - tut sie es tatsächlich freiwillig oder wird sie zu diesem Schritt gezwungen? Von wem? Von ihrem Ehemann, ihrem Lover, ihrem Zuhälter, ihrem Vater, ihrer Mutter? Aus welchen Gründen? Um einen Seitensprung zu vertuschen? Um die Folgen eines Inzestes unsichtbar zu machen? Um verspätete Familienplanung zu betreiben? Um die Zahl der Erben nicht zu groß werden zu lassen? Um den Unannehmlichkeiten einer geregelten Adoptionsfreigabe aus dem Weg zu gehen? Um ein schwer behindertes Kind zu "entsorgen"? Anders gefragt: Wie anonym sind sogenannte anonyme Geburten und Kindesweglegungen eigentlich?
8. Babyklappe und anonyme Geburt sind potenzielle Einfallstore des Kinderhandels. Anonymität begünstigt Korruption, das heißt den Missbrauch von anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil. Denn warum sollte man glauben, dass in der Klappe X des Anbieters Y im Jahr 200Z drei Babys abgegeben wurden, aber nicht auch ein viertes, das für gutes Geld "schnell und unbürokratisch" ein kinderloses Paar zu neuen Eltern gemacht hat - oder möglicherweise auch einem Pädophilenring zum Opfer gefallen ist4? Was ist mit den circa 190 im Lauf von zehn bis zwölf Jahren anonym abgegebenen Babys, über deren Verbleib es nach Aussage des Deutschen Jugendinstituts von 2011 bei den Anbietern und Trägern keinerlei Informationen Gibt5?
9. Es gibt - darauf ist zurückzukommen - so gut wie keinerlei gesetzliche Regelungen, die bestimmen, wer eine Babyklappe eröffnen darf, welche Qualifikationen dazu notwendig sind, welche Ausbildung und Erfahrung das dort beschäftigte Personal vorweisen muss und wie mit den abgegebenen bzw. zurückgelassenen Neugeborenen zu verfahren ist oder mit denen, die von ihren (angeblichen) Müttern zurückgefordert werden. Analoges ließe sich über die klinikgestützten Angebote zur anonymen Geburt sagen. Verbindliche Qualitätsstandards gibt es nicht6!
10. Auch die Frage, wie lange Mütter (bzw. deren Hintermänner), die ein Anonymität versprechendes Angebot genutzt haben, ihre Kinder zurückfordern können, hat bis heute keine gesetzliche Regelung erfahren. Mangels einer verbindlichen Vorgabe griff man in Kreisen der Betreiber zu der Auskunft, Mütter könnten ihre Kinder nur innerhalb der ersten acht Wochen nach der Abgabe zu sich zurückholen. Das bedeutete in der Praxis: Aus § 1747 BGB, nach dem die Adoptionsfreigabe eines Kindes durch die Eltern frühestens (!) acht Wochen nach seiner Geburt erteilt werden kann, aus einer Vorschrift zum Schutz von Mutter und Kind also, wurde ein Repressionsinstrument, das vor allem dazu taugte, den an anonymen Abgaben interessierten Einrichtungen Planungssicherheit zu geben. Wie viele Kinder aufgrund dieser "Fristenlüge" endgültig anonymisiert worden sind, ist nicht bekannt.
Zusammengefasst: Selbst wenn man die gesundheitlichen Gefahren medizinisch unbegleiteter Geburten für Mutter und Kind außer Acht lässt, darf man mit gutem Grund behaupten: Babyklappen und anonyme Geburt sind nutzlos und überflüssig, sie sind kinder- und frauenfeindlich, und sie sind - das hier eher nebenbei - auch juristisch nicht zu rechtfertigen7.
Grundrechtekollision?
Bekanntlich hat es zwischen Oktober 2000 und dem Frühjahr 2004 auf Bundesebene vier Versuche gegeben, Babyklappe und anonyme Geburt zu legalisieren. Alle sind gescheitert oder wurden bald zurückgezogen. Und dies völlig zu Recht: Denn die Behauptung einer angeblichen Grundrechtekollision - "Grundrecht des Kindes auf Leben" hier versus "Grundrecht des Kindes auf Kenntnis seiner biologischen Abstammung" dort, einer Kollision, die nur durch entschiedene Priorisierung des Lebensrechtes aufzuheben sei - hat sich als haltlos erwiesen. Der verfassungsrechtlich notwendige empirische Nachweis, dass die strikte Anonymisierung von unerwünschten Neugeborenen zum Schutz des Lebensrechtes dieser Kinder erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist, lässt sich nicht führen.
Angesichts dieses Befundes greift man seitens der Betreiber der in Frage stehenden Einrichtungen gern zu dem vermeintlich finalen Argument, all das, was man hier tue, sei selbst dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn auch nur ein einziges Kind dadurch gerettet würde! Der Einwand ist auf den ersten Blick verständlich, hält einer näheren Betrachtung aber nicht stand. Denn schon die Hoffnung auf die Babyklappe kann fatale Folgen haben8: Im Park einer Großstadt wird ein totes Baby gefunden. Die Mutter hatte zu Hause alleine entbunden, um, wie sie in einem anonymen Brief an die Polizei bekennt, das Kind nachher in eine Babyklappe zu bringen und ihm so den Weg in eine bessere Zukunft zu eröffnen. Doch nach einem extrem langen und komplizierten Geburtsvorgang war sie erschöpft eingeschlafen. Als sie erwachte, war ihr Kind tot.
Ähnliches gilt für die anonyme Geburt im Krankenhaus: Eine Schwangere plant die anonyme Geburt ihres dritten, ungewollten Kindes im Krankenhaus der Nachbarstadt, wo sie niemand kennt. Als die Wehen einsetzen, weiß sie, dass sie den Weg dorthin nicht mehr schaffen wird. Sie entbindet allein in der Hoffnung, das Kind später in einer Babyklappe abgeben zu können. Auch sie schläft nach den Geburtsstrapazen ein. Als sie wach wird, gibt das Kind kein Lebenszeichen mehr von sich. Sie versteckt den Leichnam in ihrer Kühltruhe, wo er später gefunden wird.
Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen …
Ruft man sich die erregten Debatten um die Bedeutung und Konsequenzen der verschiedenen Formen von anonymer Kindesweglegung in Erinnerung - wie sie vor allem in den ersten Jahren nach der Einführung dieser Einrichtungen geführt wurden -, so ist kaum zu verstehen, warum es die zuständigen staatlichen Behörden hierzulande über mehr als ein Jahrzehnt unterließen, der Praxis von Babyklappe und anonymer Geburt genauer nachzugehen und ihre Hintergründe, Versprechungen und tatsächlichen Konsequenzen zu überprüfen. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG mit dem einschlägigen Hinweis auf das "Wächteramt des Staates" schien, wenn es um Babyklappen und anonyme Geburt bzw. anonyme Übergabe ging, schlichtweg inexistent zu sein.
Denn man muss sich, um die entsprechenden Versäumnisse richtig einzuschätzen, nur vor Augen halten: 1. Zu den "Fällen" von Neonatiziden / tot aufgefundenen Neugeborenen und Aussetzungen zum Leben, die in den letzten fünfzehn Jahren in Deutschland zu verzeichnen waren, gibt es keine amtliche Statistik.
2. Wie viele Babyklappen und Angebote zur anonymen Geburt in Deutschland zu finden sind und wie sie arbeiten - auch dazu finden sich keine amtlichen statistischen Daten und Beschreibungen.
3. Wie viele Kinder seit 1999/2000 in Babyklappen abgelegt, anonym geboren oder anonym übergeben worden sind - selbst dazu existieren nur unbefriedigend bleibende Schätzungen.
4. Auch über die Anzahl der Kinder, die zunächst in einer Babyklappe abgelegt bzw. anonym geboren wurden, dann aber von ihren leiblichen Müttern/Eltern nach einer gewissen Zeit zurückgeholt wurden, liegen keine amtlichen Erkenntnisse vor.
5. Ob es Mütter/Eltern gibt, die, weil die oben genannte Frist von acht Wochen verstrichen war, vergeblich versucht haben, ihre Kinder zurückzuerhalten, ist unbekannt.
Obwohl seit Jahren von verschiedenen Seiten angemahnt, haben es die zuständigen Behörden aalzu lange versäumt, die längst bestehenden alternativen Hilfen für Schwangere und junge Familien offensiv zu bewerben und in hinreichendem Maß bekannt zu machen. Selbst eine seit langem von allen Fachleuten als absolut notwendig erachtete Notrufnummer, die bundesweit und rund um die Uhr zu erreichen ist, gibt es erst seit wenigen Monaten. Und das Erschreckendste: Was in Babyklappen wirklich passiert, was bei der anonymen Übergabe oder bei der anonymen Geburt tatsächlich geschieht, das wissen wir - wenn überhaupt - nur vonseiten derer, die diese Einrichtungen betreiben. Staatliche Kontrolle findet nicht statt!
"Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen" - das scheint, was Babyklappe, anonyme Geburten und Übergaben angeht, allzu lange die Maxime gewesen zu sein, von der sich die eigentlich zuständige Bürokratie und die Politik haben leiten lassen. Erklärbar ist das, gerade im Blick auf die ersten Jahre, wohl nur aus dem Gerücht von der lebensrettenden Macht anonymer Angebote. Nicht zuletzt aufgrund flächendeckender medialer Unterstützung konnte es eine enorme Suggestionskraft entfalten, die auch an den Mitgliedern des Deutschen Bundestages nicht spurlos vorübergegangen sein dürfte. Wohl nicht ganz zufällig gab es in den vergangenen Jahren nur einzelne Berliner Abgeordnete, insbesondere Frauen, die sich in die Materie eingearbeitet hatten und den Mut aufbrachten, sich öffentlich gegen Babyklappen und anonyme Abgabe im Krankenhaus auszusprechen.
Solchen Mut brauchte man schon deshalb, weil auch diese Politikerinnen - genannt seien stellvertretend Andrea Fischer (Die Grünen), Beatrix Philipp (CDU) oder Margot von Renesse (SPD) - nicht davor gefeit waren, dass demnächst auch in ihrem Wahlbezirk die Leiche eines neugeborenen Babys gefunden würde.
Das Vorurteil von der Macht der anonymen Angebote, Mütter von der Tötung ihrer Neugeborenen abzuhalten, wird heute kaum noch (öffentlich) vertreten, lebt in anderer Form aber weiter. Jetzt allerdings geht es, wenn die Notwendigkeit der Anonymitätszusage beschworen wird, zumeist nicht mehr darum, die Anonymität der Geburt als conditio sine qua non der Rettung von Neugeborenen vor ihren tötungsbereiten Müttern zu rechtfertigen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen aktuell vielmehr diese Mütter selbst, das heißt Frauen, die, weil sie ein ihrem sozialen Umfeld unerwünschtes Kind geboren hätten, in einem Grade gefährdet seien, dass ihnen nur durch Beseitigung aller Spuren von Schwangerschaft, Geburt und Kindesweglegung zu helfen sei. Die Gefahren, denen Leib und Leben solcher Mütter ausgesetzt seien, sie seien es, in denen die verschiedenen anonymen Angebote nach wie vor ihre Rechtfertigung fänden!
Nicht dass solche Konstellationen gänzlich auszuschließen wären; jedoch sind Zweifel angebracht, ob die Anonymitätsgarantie hier wirklich Hilfe bringt oder ob es nicht ganz anderer Mittel, zum Beispiel der Mitwirkung von Staatsanwaltschaft und Polizei, bedarf, um der hier behaupteten Gefahr krimineller Übergriffe gegenüber Müttern und ihren neugeborenen Kindern Herr zu werden.
Das Ringen der Parteien und des Gesetzgebers
Nennenswertes regierungsamtliches Engagement war erstmals 2009 zu verzeichnen, als das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beim Deutschen Jugendinstitut eine Studie zum Thema "Anonyme Geburt und Babyklappen in Deutschland - Fallzahlen, Angebote, Kontexte"9 in Auftrag gab. Sie wurde zwischen Juli 2009 und Oktober 2011 durchgeführt und hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die deutsche Politik sich nach fünfzehn Jahren untätigen Wegschauens endlich an das Projekt "Vertrauliche Geburt" heranwagte. Schon im November 2009 hatte der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme "Das Problem der anonymen Kindesabgabe" vorgelegt und statt der "anonymen" die Einführung der "vertraulichen" Geburt empfohlen10. Gemeint war damit ein ausgefeiltes Verfahren, das dem Wunsch der Schwangeren, ihre Identität geheim zu halten, ebenso zu entsprechen sucht wie dem Recht des Kindes, zu gegebener Zeit seine Herkunft in Erfahrung zu bringen. Der betroffenen Frau mutet es zu, ihre persönlichen Daten zu offenbaren, verbindet diese Forderung aber mit der Zusage, sie bis zum 16. Lebensjahr des Kindes so zu verwahren, dass sie vor dem Zugriff Dritter sicher sind.
Die Überlegungen des Ethikrates sind nach wie vor aktuell, ja sie dürfen in vielen Passagen als die wohl wichtigste Vorlage des am 28. August 2013 verabschiedeten und am 1. Mai 2014 in Kraft getretenen neuen "Gesetzes zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt" gelesen werden11. Wo das neue Gesetz von den Empfehlungen des Ethikrates abweicht, fällt es zumeist hinter dessen Problemwahrnehmung zurück.
Das wird im Blick auf das wohl wichtigste Problem dieses neuen Gesetzes unmittelbar einsichtig: Der Ethikrat hatte als Konsequenz aus seinen vorausgehenden Analysen empfohlen:
"Die vorhandenen Babyklappen und bisherigen Angebote zur anonymen Geburt sollten aufgegeben werden."12
Was von dieser Empfehlung im vorliegenden Gesetzestext übriggeblieben ist, findet sich in Art. 8, wo es heißt:
"Die Bundesregierung legt drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt [also im Sommer 2017, B. W.] einen Bericht zu den Auswirkungen aller Maßnahmen und Hilfsangebote vor, die auf Grund dieses Gesetzes ergriffen wurden. Auf Grundlage dieses Berichts überprüft die Bundesregierung auch, ob weitere Berichte zu den Auswirkungen des Gesetzes erforderlich sind."
Da sich dieser Passus bereits im Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vom 19. März sowie in dem der Bundesregierung vom 15. April 2013 findet, darf auch die dort gegebene Begründung zu Art. 8 herangezogen werden. Darin heißt es unter anderem:
"Durch die Evaluierung soll […] geprüft werden, inwieweit durch das neu eingeführte Modell Verbesserungen im Hilfesystem erreicht werden und welche Auswirkungen diese auf die Angebote der anonymen Kindesabgabe haben. In die Evaluierung sollen deshalb auch Informationen über die Nutzung von Babyklappen, die Einhaltung der Standards für den Betrieb von Babyklappen und den Verbleib der dort abgelegten Kinder einfließen."
An anderer Stelle des Entwurfs ist der Evaluierungsauftrag genauer gefasst. Dort heißt es, es sollten nicht nur die Babyklappen, sondern auch die Angebote der anonymen Geburt und der anonymen Übergabe untersucht werden13.
Das klingt zunächst gut - bringt aber nichts wirklich Neues. Denn als in Reaktion auf die medizinischen Gefahren und psychosozialen Mängel der Babyklappen eine zunehmende Zahl von Kliniken ab 2001 Angebote zur anonymen Geburt auflegte, da wurden diese nicht als Ersatz, sondern als Erweiterung des damaligen Angebotes zur anonymen Weglegung von Neugeborenen verstanden. Dementsprechend blieben die Existenz der Babyklappen und die Praxis der anonymen Übergabe unangetastet. Nicht anders ist es heute: Die auf Anonymität setzenden Angebote können vorerst weiterarbeiten - und dies trotz der Tatsache, dass sich der Gesetzgeber der schwerwiegenden juristischen, psychosozialen und medizinischen Problematik der anonymen Kindesweglegung durchaus bewusst ist. So hieß es in der Begründung des Gesetzentwurfs vom März bzw. April 2013 zu § 26 Absatz 2, der mit dem Text des neuen Gesetzes identisch ist:
"Absatz 2 sichert das Recht des vertraulich geborenen Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft. Eine Regelung, die auf eine Prüfung der Richtigkeit der abzugebenden Daten verzichtet, stellt es letztlich in das Belieben der Schwangeren, ob sie ihre Daten abgibt. Damit würden die betroffenen Grundrechte des Kindes vollständig von der Haltung der Mutter abhängen. Bei einer unkontrollierten Abgabe ihrer Daten in einem verschlossenen Umschlag wäre nicht sichergestellt, dass der Umschlag die zutreffenden Daten enthält. Für ein interessengerechtes Verfahren ist daher eine kontrollierte Datenabgabe unverzichtbar."14
Wenn aber schon die Nicht-Kontrolle der von der Mutter beim Gespräch in einer Beratungsstelle genannten Daten die Interessengerechtigkeit des Verfahrens gefährdet und die Grundrechte des Kindes tangiert - wie ist es dann erst um Babyklappe, die anonyme Geburt und die anonyme Übergabe bestellt? Wenn irgendwo, dann hängen doch gerade hier die betroffenen Grundrechte des Kindes vollständig und ausschließlich von der Entscheidung der Mutter ab oder, schlimmer noch, vom Druck, den ihr soziales Umfeld auf sie ausübt.
Es ist darum nicht das neue Gesetz als solches, das Kritik verdient, sondern es ist die mit diesem Gesetz verbundene Absicht, für mindestens weitere drei Jahre an den bisherigen Formen anonymer Kindesabgabe festzuhalten. Ungeachtet aller dagegenstehenden Argumente und Fakten soll es auch künftig möglich sein, grundlegende Rechte und Interessen des Kindes als nicht existent zu betrachten. Wenn man wenigstens Babyklappen und die anonyme Übergabe verboten und damit der für Kinder sicher gefährlichsten Art der Abgabe einen Riegel vorgeschoben hätte! Doch nicht einmal dazu konnte der Gesetzgeber sich durchringen.
Damit aber wird das neue Gesetz grundsätzlich entwertet. Seine eigentliche Errungenschaft - der sinnvolle und juristisch saubere Kompromiss zwischen den Geheimhaltungs- und Schutzinteressen der Mutter auf der einen und dem Grundrecht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft auf der anderen Seite - wird verspielt, weil die vertrauliche Geburt nur als ein mögliches Angebot unter anderen begegnet, als eine Option, die man wie die Babyklappe oder die anonyme Geburt je nach Gusto wahrnehmen kann oder eben auch nicht. Warum also im Zweifelsfall die "vertrauliche Geburt" wählen, wenn es auch anders und anders vermeintlich leichter geht?
Die hier zum Ausdruck kommende de-facto-Gleichstellung aller Formen der Kindesweglegung und Adoptionsfreigabe ist die erste Beobachtung, die darauf hinweist, dass mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes allein noch kaum etwas erreicht ist. Eine zweite kommt hinzu: Als Ziel der Evaluation des neuen Gesetzes wird angegeben, sie habe zu prüfen, inwieweit "Verbesserungen im Hilfesystem erreicht wurden und welche Auswirkungen diese auf die Angebote der anonymen Kindesabgabe hatten". Dieser Prüfungsauftrag setzt unausgesprochen und wie selbstverständlich voraus, dass es trotz des von den Anbietern beanspruchten Anonymitätsschutzes möglich sei, valide Daten zu Babyklappen, anonymer Krankenhausgeburt und anonymer Übergabe zu erheben. Ist das wirklich realistisch? Zwar ist darauf zu verweisen, dass vergleichsweise viele Anbieter und Träger zur erwähnten Studie des Deutschen Jugendinstituts beigetragen haben. Doch was ist mit den circa 25 Prozent dieser Einrichtungen, die Auskünfte verweigerten? Und wie steht es ganz generell mit der Glaubwürdigkeit von Daten und Zahlen, die prinzipiell der Nachprüfung entzogen bleiben sollen?
Drittens ist schließlich auch die Frage nicht zu umgehen, in welchem Falle denn sich der Gesetzgeber gezwungen sehen könnte, Babyklappen, anonyme Geburt und anonyme Übergabe auch weiterhin zuzulassen bzw. sie zu verbieten. Aufgrund welcher Zahlen, Entwicklungen oder Vorfälle wäre ein prinzipielles Verbot bzw. eine weitere Betriebserlaubnis gerechtfertigt? Die Umgehung dieser Frage erweckt den unguten Verdacht, hier habe der Gesetzgeber vor allem an das (koalitions-) politisch Durchsetzbare gedacht, die Rechte und Bedarfe der schwächsten Glieder dieser Gesellschaft aber völlig aus den Augen verloren.
Die Verantwortung der Kirchen
Die beiden großen Kirchen sind an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Durch die auch von ihnen schon früh vorgehaltenen Angebote haben sie von Anfang an erheblich dazu beigetragen, die anonyme Kindesweglegung als unverzichtbaren Beitrag zur Neonatizid-Prävention und Stärkung von Frauenrechten erscheinen zu lassen. Auch wenn in den hier gemeinten Verbänden, Einrichtungen und Projekten die Diskussion um die bisherige Praxis langsam Einzug zu halten beginnt, ist das Bewusstsein, dass ein Ja zur vertraulichen Geburt mit dem Betrieb von Klappe, anonymer Geburt oder Übergabe nicht zu vereinbaren ist, noch wenig ausgeprägt. Man darf gespannt sein, wie lange es dauern wird, bis die letzte kirchlich alimentierte Möglichkeit der freiwilligen oder erzwungenen anonymen Entsorgung unerwünschter Neugeborener in Deutschland der Vergangenheit angehört.