Nochmals: Zulassung von wiederverheiratet Geschiedenen zu den Sakramenten?Ein dorniges und komplexes Problem

Die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten ist nicht nur den Betroffenen ein Anliegen. Im Vorfeld der Bischofssynode im Oktober äußert sich Walter Kardinal Kasper zu dieser schwierigen Frage und präzisiert frühere, innerkirchlich teils heftig kritisierte Vorschläge.

Die Frage der Zulassung der wiederverheiratet Geschiedenen zu den Sakramenten ist kein neues und kein nur deutsches Problem. Die Diskussion um diese Frage wird international seit Jahrzehnten geführt1. Papst Johannes Paul II. hat sie in dem Apostolischen Schreiben „Familiaris consortio“ im Jahr 1982 im Sinn der bisherigen kirchlichen Praxis entschieden (vgl. FC 84). Im Apostolischen Schreiben „Reconciliatio et paenitentia“ (1984) hat er diese Position ausdrücklich wiederholt (vgl. Nr. 34). Sie ist 1993 in den Katechismus der katholischen Kirche (KKK 1650) und in eine Entscheidung der Glaubenskongregation von 1994 eingegangen2. Papst Benedikt XVI. hat sie im Apostolischen Schreiben „Sacramentum caritatis“ von 2007 bestätigt (vgl. SC 29).

Papst Johannes Paul II. hat von einer schwierigen und kaum lösbaren Frage, Papst Benedikt XVI. von einem dornenreichen, schwierigen Problem gesprochen. So ist es nicht überraschend, dass die Frage seither nicht zur Ruhe gekommen ist. Sie betrifft nicht nur unmittelbar betroffene Christen, sondern auch viele praktizierende und engagierte Christen, welche fünfzig Jahre und mehr verheiratet sind, selber nie an Scheidung gedacht haben, nun aber das Problem bei ihren Kindern und Enkeln leidvoll erfahren. Deren Kinder wiederum können den Weg zu den Sakramenten meist nur schwer finden, wenn ihre Eltern ihn nicht vorleben können - kaum eine Familie, die nicht von diesen Problemen betroffen ist. So ist es verständlich, dass das Problem so vieler Gläubigen vielen Seelsorgern und Beichtvätern, Theologen und Bischöfen auf der Seele brennt.

Es war darum zu erwarten, dass die Frage im Vorfeld und während der Außerordentlichen Bischofssynode 2014 neu aufgeflammt ist und kontrovers diskutiert wurde3. Die Ordentliche Bischofssynode 2015 soll die Fragen abschließend beraten und sie dem Papst zur Entscheidung vorlegen. Dem kann und will ich nicht vorgreifen. Ich suche im Folgenden lediglich, die Problemstellung, soweit es mir möglich ist, zu klären und zu vertiefen.

Das Wort Jesu - verbindlich und stets neue Herausforderung

Grundlegend ist das Wort Jesu, dass der Mensch nicht trennen darf, was Gott verbunden hat. Es findet sich in allen drei synoptischen Evangelien (Mt 5,32; 19,9; Mk 10,9; Lk 16,18). Es wird auch vom Apostel Paulus bezeugt (1 Kor 7,10 f.)4. Es kann kein vernünftiger Zweifel bestehen, dass es in seiner Substanz auf Jesus selbst zurückgeht. In seiner unerhörten Radikalität ist dieses Wort Jesu nicht erst heute anstößig. Schon die ersten Jünger waren schockiert, und für die damalige hellenistisch-römische Umwelt war es vollends eine Provokation. So wenig wie damals dürfen wir heute das Wort Jesu durch Anpassung an die Situation entschärfen.

Jesus hat damit die auf Dtn 24,1 zurückgehende jüdische Kasuistik zurückgewiesen und damit auch jede andere kasuistische Auslegung und Ausnahmeregelung zum ursprünglichen Willen Gottes verworfen. So ist das Wort Jesu kein Rechtssatz, sondern ein Grundsatz, den die Kirche mit der ihr von Christus anvertrauten Vollmacht zu binden und zu lösen (Mt 16,19; 18,18; Joh 20,23) in den sich wandelnden kulturellen Situationen zur Geltung bringen muss.

Das Wort Jesu darf darum nicht fundamentalistisch ausgelegt werden. Es gilt seine Grenze wie die Weite auszuloten, es im Ganzen der Botschaft Jesu zu verstehen und ihm treu zu bleiben, ohne es zu überdehnen5. Solche vollmächtige Auslegung finden wir bereits in neutestamentlicher Zeit: in den bekannten Ehebruchklauseln für die jüdische Gemeinde des Matthaus (5,32; 19,9), dann wieder bei Paulus, der im neuen heidenchristlichen Kontext mit apostolischer Vollmacht für die christliche Freiheit entscheidet, dass die Ehe mit einem Ungläubigen, der mit dem christlichen Partner nicht in gebührender Weise zusammenleben will (1 Kor 7, 12-16), getrennt werden kann. Daraus hat sich später das „Privilegium Paulinum“ und nochmals später das „Privilegium Petrinum“ sowie die Möglichkeit entwickelt, eine gültig geschlossene sakramentale, aber nicht vollzogene Ehe aufgrund der Binde- und Lösegewalt der Kirche zu lösen.

In diesem Zusammenhang ist die flexible pastorale Praxis mancher Ortsgemeinden der frühen Kirche zu verstehen. Die Auslegung der entsprechenden Texte ist unter den Fachleuten umstritten6. Auf keine dieser Hypothesen kann man eine heutige kirchliche Lösung bauen. Es ist jedoch von Interesse, dass den Konzilsvätern von Trient das Problem bewusst war. Sie haben zwar gegen Luther gelehrt, dass die Kirche nicht irrt, wenn sie eine zweite Ehe nicht akzeptiert (DH 1807); sie haben aber die davon verschiedene orthodoxe Praxis bewusst nicht verurteilt7. Damit haben sie die Unauflöslichkeit der gültig geschlossenen Ehe gelehrt (DH 1797 f.; vgl. 794; 3710 f.), sie aber nicht formell definiert8. Sie ist dennoch verbindliche Glaubenslehre, die bleibend denkwürdig und eine stets neue Herausforderung ist.

Die Ehe - ein gebrochenes Bundeszeichen

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Herausforderung angenommen. Es hat das im Anschluss an das römische Recht entwickelte Verständnis der Ehe als Vertrag übergangen und die Ehe wie schon Thomas von Aquin9 in Analogie zur biblischen Bundestheologie als innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe verstanden, in dem sich die Eheleute gegenseitig schenken und annehmen (vgl. Gaudium et spes 47). Mit diesem ganzheitlichen personalen Verständnis wird die Ehe im Anschluss an Eph 5,25 als sakramentales Abbild des Bundesverhältnisses von Christus und der Kirche gedeutet. Entsprechend soll sich das Verhältnis von Mann und Frau am Verhältnis von Christus und Kirche orientieren.

Für die kirchliche Lehre und für die neuere Theologie ist die im biblischen Bundesverständnis grundgelegte Ehelehre des Konzils maßgebend geworden. Aus ihm ergibt sich eine tiefere Begründung für die Unauflöslichkeit der Ehe. Wie der Bund Gottes in Jesus Christus mit der Kirche endgültig und unauflöslich ist, so auch der Ehebund als Realsymbol dieses Bundes10.

Das ist eine großartige und überzeugende Konzeption. Sie darf jedoch nicht zu einer lebensfremden Idealisierung fuhren. Im Epheserbrief heißt es, dass Christus die Kirche geliebt, sich für sie dahingegeben hat und sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig macht, so dass sie herrlich und ohne Flecken und Runzeln, heilig und makellos dasteht (5, 24-27). Das ist keine Zustandsbeschreibung, sondern eine eschatologische Verheißungsaussage, zu der die Kirche stets erst unterwegs ist. Auf ihrem irdischen Pilgerweg kann die Kirche das, was sie ist, nämlich die heilige Kirche, nur gebrochen realisieren. Sie ist als die heilige Kirche auch die Kirche der Sünder, die manchmal wie eine treulose Dirne dasteht und die immer den Weg der Umkehr, der Erneuerung und der Reform gehen muss (vgl. Lumen gentium 8; Unitatis redintegratio 4).

Das gilt auch von der christlichen Ehe. Sie ist ein großes Geheimnis (mysterion) in Bezug auf Christus und die Kirche (Eph 5,32). Aber sie kann dieses Geheimnis im Leben nie ganz, sondern immer nur gebrochen verwirklichen. In diesem Sinn ist sie ein vielfach gebrochenes Bundeszeichen. Eheleute bleiben auf dem Weg und stehen unter dem Gesetz der Gradualitat (vgl. FC 9, 34). Sie bedürfen ständig der Umkehr und der Versöhnung und sind immer wieder neu auf den Gott angewiesen, der reich ist an Erbarmen (Eph 2,4; vgl. FC 38).

Die Dramatik kann bis dahin gehen, dass auch Christen in ihrer Ehe scheitern können. Solches Scheitern ist jeweils eine menschliche Katastrophe, in der ein Lebensprojekt mit allen seinen Hoffnungen enttäuscht wird und zerbricht. Solches Scheitern gehört auch zur biblischen Theologie des Bundes. Am dramatischsten wird dies beim Propheten Hosea deutlich. Zunächst stellt er heraus: Israel ist zur Hure geworden; Gott hat den Bund endgültig aufgekündigt (Hos 1,9; 2, 4-15). Doch dann macht der gerechte Zorn Gottes der Barmherzigkeit Platz. Er schenkt seinem Volk einen neuen Anfang (11,8 f.; vgl. 2, 16-25). Angesichts der Botschaft Jesu versagt sich das Volk in seiner Gesamtheit aufs Neue. Die Kritik Jesu an dieser Hartherzigkeit ist deutlich. Doch dann stiftet Jesus durch Kreuz und Auferstehung stellvertretend für uns den Neuen Bund. Er schenkt das von den Propheten verheißene neue Herz (Ez 36,6 f.; vgl. Jer 31,33; Ps 51,12). Aber die Hartherzigkeit (Mt 19,8) dauert in der Sündhaftigkeit der Christen fort. Dennoch: Gott bleibt treu, auch wenn wir untreu sind. Seine Barmherzigkeit ist ohne Grenzen.

Eine realistische Theologie der Ehe muss dieses Scheitern ebenso wie die Möglichkeit der Vergebung bedenken11. Auch im menschlichen Scheitern bleibt die Verheißung der Treue und des Erbarmens Gottes bestehen. In diesem Sinn wird die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe neu aktuell. Sie ist kein bloßes Ideal. Gottes Ja-Wort bleibt bestehen, auch wenn das menschliche Ja-Wort schwach oder gar gebrochen wird. Es gehört bleibend zur Freiheitsgeschichte der Partner. Das von Gott selbst geknüpfte Eheband zerbricht nicht, auch wenn die menschliche Liebe schwächer wird oder gar ganz erlischt. Doch auch in einer Situation des menschlichen Scheiterns in der Ehe ist die Situation nie aussichts- und hoffnungslos. Gott kann auch in Situationen, in denen wir keinen Ausweg mehr wissen, einen neuen Weg eröffnen. Auf Gottes Barmherzigkeit ist Verlass, wenn nur wir uns auf sie verlassen12.

Eine solche realistische, sozusagen krisenfeste Bundestheologie stellt die Kirche vor die Frage: Wie kann sie, die sich als Sakrament der Barmherzigkeit Gottes versteht, Menschen, die in ihrer Ehe schmerzlich gescheitert sind, auf einem neuen Weg begleiten und ihnen neue Hoffnung schenken?

Die geistliche Kommunion - ein Ausweg?

Die Kirche steht angesichts der Situation einer gescheiterten Ehe, auch angesichts von wiederverheiratet Geschiedenen nicht vor einem pastoralen Nichts. Die neueren kirchlichen Dokumente fordern eindringlich, sich Menschen in solchen leidvollen Situationen besonders zuzuwenden und sie zur Teilnahme am Leben der Kirche einzuladen (vgl. FC 83 f., SC 29). Oft sucht man ihnen unter dem Stichwort der geistlichen Kommunion einen Weg mit Christus, ja in Christus zu eröffnen.

Mit dem Begriff der geistlichen Kommunion greift man neuerdings einen leider etwas in Vergessenheit geratenen traditionsreichen Begriff wieder auf13. In den Dokumenten des Zweiten Vatikanums und im Katechismus der katholischen Kirche wird er leider nicht erwähnt. Erst in jüngeren lehramtlichen Dokumenten wird er wieder aufgegriffen14 und oft als Ausweg verstanden, um in der dornenreichen Frage der wiederverheiratet Geschiedenen weiterzukommen15.

Die Tradition der geistlichen Kommunion wird schon in der großen Brotrede im 6. Kapitel des Johannesevangeliums und dann in dessen Auslegung durch Augustinus grundgelegt. Dort ist vom Brot des Lebens, das Jesus Christus ist, an dem wir im Glauben Anteil haben, die Rede16. Im hohen Mittelalter findet sich die Lehre von der geistlichen Kommunion besonders bei Thomas von Aquin17. Das Tridentinum hat ihn lehramtlich aufgegriffen (vgl. DH 1648, 1747). Daraus ergibt sich eine dreifache Bedeutung: das Verlangen nach der sakramentalen Kommunion (Kommunion in voto oder cum desiderio), der geistliche Empfang der sakramentalen Kommunion (manducatio spiritualis) im Unterschied zum unwürdigen bloß äußeren Empfang (manducatio mere sacramentalis) und schließlich die aneignende Fruchtbarmachung der sakramentalen Kommunion in Akten persönlicher Frömmigkeit, besonders in der eucharistischen Anbetung.

Die recht verstandene geistliche Kommunion ist keine alternative Form zur sakramentalen Kommunion, sondern wesentlich auf die sakramentale Kommunion bezogen. So wird die Anwendung auf die Situation der wiederverheiratet Geschiedenen problematisch. Soll damit ein alternativer Weg zur sakramentalen Kommunion empfohlen werden? Wohl kaum. Denn das wurde dem sakramentalen Selbstverständnis der katholischen Kirche als sichtbares Sakrament, das heißt als Zeichen und Werkzeug der Gnade widersprechen. Dazu kommt: Wer die geistliche Kommunion empfangt und im Glauben eins mit Christus ist, kann nicht gleichzeitig im Stand der schweren Sünde sein. Warum kann er dann nicht auch an der sakramentalen Kommunion teilnehmen? So führt die Anwendung der geistlichen Kommunion für das Problem der wiederverheiratet Geschiedenen, wenn man von derem traditionellen Verständnis ausgeht, in eine theologische Sackgasse18.

Möglich ist dieser Weg dagegen, wenn man der geistlichen Kommunion stillschweigend einen neuen Sinn unterlegt. In diesem neuen Sinn meint sie nicht das aus dem Eins-Sein mit Christus im Glauben entspringende Verlangen nach der sakramentalen Kommunion, sondern ein Verlangen, in dem der in einer irregulären Situation lebende Christ sich seiner Trennung von Christus inne wird und sich bewusst wird, dass sein Verlangen - solange er seine gegenwärtige Situation nicht grundsätzlich ändert - nicht erfüllt werden kann. Die so verstandene geistliche Kommunion kann zum heilsamen Impuls, zur Metanoia (Umkehr), werden. Ein solches neues Verständnis ist darum sachlich möglich. Es bringt aber unweigerlich terminologische Missverständnisse mit sich. Die Tradition der Kirche kann uns einen unmissverständlicheren Weg empfehlen.

Für eine Erneuerung der via paenitentialis

Die Alte Kirche hat in der Zeit der Verfolgung schon früh schmerzlich erfahren, dass Christen scheitern können. In der Zeit der Verfolgung sind viele Christen schwach geworden und haben ihre Taufe verleugnet. Das führte nach der Zeit der Verfolgung zu einer lebhaften Diskussion, wie die Kirche mit dieser Situation umgehen soll. Kirchenväter in Ost und West vertraten gegen den Rigorismus eines Novatian († um 258), der das Ideal der Kirche als der reinen Jungfrau hochhielt, das Bild der Kirche als einer barmherzigen Mutter, deren Türen dem umkehrwilligen Sünder allezeit offenstehen. Sie entwickelten die kanonische Buße, die sie als eine zweite Taufe nicht im Wasser, sondern in den Tränen der Reue und der Buße verstanden. So nahm die Kirche ihre Vollmacht zur Vergebung der Sünden und ihren Dienst der Versöhnung ernst (2 Kor 5,20). Durch das Sakrament der Versöhnung gewährte sie nach dem Schiffbruch der Sunde keine zweite Taufe, sondern sozusagen eine rettende Planke, die vor dem Ertrinken rettet und das Überleben möglich macht19.

Einzelne Väter haben ein ähnliches Verfahren auch auf Christen angewandt, die ihre Ehe gebrochen haben, in einer zweiten Verbindung leben und auf dem Weg der Buße wieder mit der Kirche versöhnt und zur Kommunion zugelassen wurden20. Die Ostkirche ist auf diesem Weg weitergegangen21. Sie hat im Rahmen einer Bußliturgie eine zweite und auch eine dritte Eheschließung ermöglicht, die sie - obwohl das Zeichen der „Krönung“ gleich ist - nicht als Sakrament, sondern als Segnung versteht. Dabei hat sie aus dem byzantinisch-kaiserlichen Recht Uber die Unzuchtsklauseln bei Matthäus hinaus weitere Gründe für die Ehescheidung übernommen. Maßgebend für diese Praxis ist für sie das Prinzip der Oikonomia, das sich am barmherzigen Handeln Gottes in der Heilsgeschichte orientiert. Die westliche Kirche hat diese Praxis nicht übernommen, sondern ein vom byzantinischen Reichsrecht unabhängiges eigenes Eherecht entwickelt.

Oft wird darüber diskutiert, ob sich die westliche Kirche die orthodoxe Praxis zu eigen machen soll. Sicher kann sie vom orthodoxen Verständnis der Oikonomia lernen. Doch eine Weiterentwicklung ihres Eherechts wird eher auf der Linie ihrer eigenen Rechtstradition geschehen müssen, das eine liturgische Form einer zweiten Ehe nicht kennt. Dagegen entspricht der östlichen Ökonomie in der westlichen Tradition in mancher Hinsicht das Prinzip der Epikie22. Sie ist im Sinn des Thomas von Aquin kein Ausnahmerecht und keine Außerkraftsetzung des Rechts, sondern die höhere Gerechtigkeit, die in komplexen Situationen, in denen die wortwörtliche Rechtsauslegung unbillig wäre, das Recht in barmherziger Weise „recht und billig“ zur Geltung bringt23.

Die Billigkeit wurde in der mittelalterlichen Kanonistik als iustitia dulcore misericordiae temperata verstanden, etwas frei übersetzt: Gerechtigkeit, welche durch die Zärtlichkeit der Barmherzigkeit mit Augenmaß konkrete Anwendung findet. In diesem Sinn konnte die Kirche in menschlich schwierigen Situationen barmherzig von der Vollmacht zu binden und zu lösen Gebrauch machen. Es geht dabei nicht um Ausnahmen vom Recht, sondern um eine angemessene und barmherzige Anwendung des Rechts.

Gemeint ist keine billige Pseudobarmherzigkeit. Denn selbstverständlich gilt im Sinn von 1 Kor 11,28: Wer hartnäckig, das heißt ohne Willen zur Umkehr in schwerer Sünde verharrt, kann die Absolution nicht erhalten und zum Empfang der Kommunion nicht zugelassen werden (CIC/1983, c. 915). Dieser Grundsatz ist in sich evident und unbestreitbar. Die konkrete Frage, wer sich tatsächlich hartnäckig in einer solchen heillosen Situation befindet, ist damit aber noch nicht entschieden. Um sie zu beantworten, gilt es, die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden und jede einzelne Situation verständnisvoll, diskret und taktvoll zu prüfen (vgl. FC 4, 84). Man kann nicht von einer objektiven Situation der Sünde sprechen, ohne die Situation des Sünders in seiner je einmaligen personalen Würde zu bedenken. Aus diesem Grund kann es keine allgemeine Lösung des Problems, sondern nur Einzellösungen geben.

Das ergibt sich auch aus dem Begriff der schweren Sünde. Zur schweren Sünde gehört nicht nur die materia gravis, die Zuwiderhandlung zum Gebot Gottes in einer schwerwiegenden Sache; dazu gehört auch das Urteil des persönlichen Gewissens, die Zustimmung des Willens - für Thomas ist die Intention des Willens sogar ganz entscheidend; schließlich ist die Berücksichtigung der konkreten Umstande bedeutsam24. Über all das kann nicht generell entschieden werden. Deshalb kennt die Weisheit der Kirche neben dem rechtlichen äußeren Forum das innere Forum des Bußsakraments.

Damit stehen wir bei via paenitentialis. Sie ist keine neumodische Erfindung, sondern liegt, wie neuerdings gezeigt wurde, ganz auf der Linie des Eheverständnisses des Thomas von Aquin und der von ihm bestimmten Tradition, besonders des Trienter Konzils25. Gemeint ist nicht die Ableistung von Bußauflagen, sondern der schmerzliche, aber heilsame Prozess der Klärung und der Neuausrichtung nach der Katastrophe einer Scheidung, der in einem geduldig hinhörenden und klärenden Gesprächsprozess von einem erfahrenen Beichtvater begleitet wird. Dieser Prozess soll bei dem Betroffenen zu einem ehrlichen Urteil über seine persönliche Situation führen, in dem auch der Beichtvater zu einem geistlichen Urteil kommt, um von der Vollmacht zu binden und zu lösen in einer der jeweiligen Situation angemessenen Weise Gebrauch machen zu können. Das geschieht in schwerwiegenden Fragen nach alter kirchlicher Praxis unter der Autorität des Bischofs.

Es bleibt für mich ein Rätsel, wie gegen diesen Vorschlag eingewandt werden konnte, er bedeute eine Vergebung ohne Umkehr. Das wäre in der Tat theologischer Unsinn. Selbstverständlich schließt das Bußsakrament auf Seiten des Pönitenten Reue und den Willen ein, in der neuen Situation nach besten Kräften gemäß dem Evangelium zu leben26. Gerechtfertigt wird in der Lossprechung nicht die Sünde, sondern der umkehrwillige Sünder. Die sakramentale Kommunion, zu der die Lossprechung wieder berechtigt, soll dem Menschen in einer schwierigen Situation die Kraft geben, um auf dem neuen Weg durchzuhalten. Gerade Christen in schwierigen Situationen sind auf diese Kraftquelle angewiesen, welche ihnen das Brot des Lebens bedeutet.

Eine solche Erneuerung der kirchlichen Bußpraxis konnte über den Bereich der wiederverheiratet Geschiedenen hinaus Signalwirkung haben für die notwendige Erneuerung der in der gegenwärtigen Kirche in beklagenswerter Weise so darniederliegenden kirchlichen Bußpraxis. Es wäre ja zutiefst pharisäisch zu meinen, dies alles gelte nur von den wiederverheiratet geschiedenen Christen. Aus Anlass des Gedenkens an den Thesenanschlag Luthers, der vor 500 Jahren Ausgangspunkt der Reformation wurde, haben katholische wie evangelische Christen allen Grund, sich von der ersten These Luthers sagen zu lassen, das ganze Leben eines Christen solle eine Buße sein.

Eine Hermeneutik der Kontinuität

Abschließend die Frage: Wäre eine solche Weiterentwicklung der kirchlichen Bußpraxis ein Bruch mit der Lehre und Praxis der Kirche - oder nicht eher im Sinn der Hermeneutik der Kontinuität zu verstehen? Denn die recht verstandene Hermeneutik der Kontinuität schließt in dem Sinn, wie Papst Benedikt sie in der bekannten Rede beim Weihnachtsempfang 2005 dargelegt hat, praktische Reformen und damit ein Moment der Diskontinuität nicht aus, sondern ein27.

Die Offenbarungswahrheit ist ja kein in Stein gemeißeltes starres System, sondern ein durch den Geist des lebendigen Gottes in die Herzen von Fleisch geschriebener Liebesbrief Gottes (vgl. 2 Kor 3,3). Gott ist durch seinen Geist ohne Unterlass im Gespräch mit der Kirche, der Braut seines Sohnes, um sie immer wieder neu in die ganze Wahrheit einzuführen (Joh 16,13) und das Evangelium, das immer dasselbe ist, in seiner ewigen Neuheit zu erschliesen28.

Die Barmherzigkeit ist diese ewige Neuheit. In ihr scheint die Souveranität Gottes auf, mit der er sich seinem Wesen, das Liebe ist (1 Joh 4,8), wie seinem Bund immer wieder aufs Neue treu ist. Die Barmherzigkeit ist die Offenbarung der Treue und der Identität Gottes mit sich selbst und damit zugleich Ausweis der christlichen Identität29. Darum hebt die Barmherzigkeit die christliche Wahrheit nicht auf. Sie ist ja selbst eine geoffenbarte Wahrheit, welche mit den grundlegenden Wahrheiten des Glaubens, mit der Menschwerdung, dem Tod und der Auferstehung Christi in unlösbarem Zusammenhang steht und ohne diese ins Nichts fallen wurde. Umgekehrt wurden alle diese Wahrheiten ohne die Zärtlichkeit der Barmherzigkeit zu einem starren und kalten System. Die Barmherzigkeit lässt sie immer wieder überraschend neu aufleuchten und verleiht dem Glauben immer wieder neu Strahlkraft. Nur so kann neue Evangelisierung gelingen.

Die Mahnung, „in der Wahrheit Christi zu bleiben“, schließt die andere, „in der Liebe Christi zu bleiben“ (Joh 15,9), ein. Es gilt, die Wahrheit in Liebe zu tun (vgl. Eph 4,15).

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