In der Arbeitswelt zählt, was jemand kann. Die persönliche Lebensführung bleibt weithin außen vor. Bestimmten Organisationen kommt jedoch um ihrer Bedeutung willen die Freiheit zu, an ihre Mitarbeiter besondere Anforderungen zu stellen. Gesetzgebung und Rechtsprechung - auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - anerkennen das Recht der Kirche, grundsätzlich das Verhalten außerhalb des Dienstes zu berücksichtigen. Noch kürzlich hat eine Entscheidung des Karlsruher Verfassungsgerichts den Kirchen die Freiheit bestätigt, spezifische Erwartungen an die Mitarbeiterschaft heranzutragen: „Loyalitätsobliegenheiten“. Diese Freiheit kennt man in anderen Staaten nicht. Freilich hat das Gericht nicht gesagt, es müsse bei den immer selben Loyalitätserwartungen bleiben. Zudem hat es hervorgehoben, dass im Streitfall immer eine Abwägung mit den berechtigten Interessen des Beschäftigten stattfinden muss.
Die deutschen Ortsbischöfe haben Ende April als kirchlicher Ordnungsgeber mit sehr großer Mehrheit die neue Fassung der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ verabschiedet. Sie legt den arbeitsrechtlichen Rahmen fest, innerhalb dessen die kirchlichen Einrichtungen ihren Sendungsauftrag verwirklichen. Die Novelle wird allerdings in einem Bistum erst dann geltendes Recht, wenn sie vom Bischof in Kraft gesetzt wird. Sie ist aus drei Gründen ein echter Fortschritt.
Es geht erstens um eine bessere Beachtung der gelebten Rechtspraxis. Die geltende Rechtslage suggeriert bisweilen eine Rigidität, die seit Jahren nicht der Praxis entspricht. Die Novelle ist damit ein Gebot der Wahrhaftigkeit. Zum zweiten will der kirchliche Gesetzgeber bestimmte Verhaltensweisen im privaten Lebensbereich arbeitsrechtlich differenzierter bewerten. Die Bedingungen, nach denen eine Kündigung - als ultima ratio verstanden - in Betracht kommen soll, werden enger gefasst, aber nicht abgeschafft. Der Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe steht nicht zur Disposition. Kirchenrechtlich ungültige Eheschließungen und das Eingehen von eingetragenen Lebenspartnerschaften sind mit der katholischen Sittenlehre nicht vereinbar. Sie bleiben weiterhin Loyalitätsverstöße. In Zukunft wird die arbeitsrechtliche Ahndung dieser Handlungen jedoch auf gravierende Fälle beschränkt.
Bei der Bewertung solcher Verstöße wird stärker als bisher auf die berufliche Stellung und Aufgabe des Dienstnehmers geachtet. Personen, die pastoral, katechetisch oder aufgrund einer besonderen bischöflichen Beauftragung tätig sind, unterliegen einer gesteigerten Loyalitätsbindung. Denn die private Lebensführung dieser Mitarbeiter lässt sich vom beruflichen Auftrag kaum trennen oder einer isolierten Privatsphäre zuweisen. Sie werden aufgrund ihrer beruflichen Aufgaben bzw. des Charakters der Einrichtung, in der sie tätig sind, besonders eng mit der Kirche und ihrem Sendungsauftrag identifiziert. Hier wiegen Pflichtenverstöße besonders schwer, eine Weiterbeschäftigung wird nur in Ausnahmefällen infrage kommen.
Bei den anderen Beschäftigten, die von ihrer beruflichen Aufgabenstellung her nicht als Garanten für die kirchliche Lehre von Ehe und Familie fungieren (z. B. Ärzte, Krankenschwestern, Altenpfleger, Erzieherinnen oder Verwaltungskräfte), liegt künftig ein schwerwiegender Loyalitätsverstoß dann vor, wenn die Handlung nach den konkreten Umständen objektiv geeignet ist, ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis zu erregen und die Glaubwürdigkeit der Kirche zu beeinträchtigen. Ließe es die Kirche ausnahmslos zu, dass ihre Arbeitnehmer gegen tragende Positionen der kirchlichen Sittenlehre verstoßen, liefe sie Gefahr, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Kirche selbst messe ihren Wertvorstellungen keine große Bedeutung mehr bei.
Drittens bezweckt die Novelle auch eine Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen nicht nur allgemein in der Gesellschaft, sondern auch in der staatlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit eines Aggiornamento auf arbeitsrechtlichem Gebiet ist im „Dialogprozess“, den die deutschen Bischöfe angestoßen haben, viel gesprochen worden. Exemplarisch zu nennen ist hinsichtlich eines neuen Regelungsbedarfs auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Streikverbot. Mit den Änderungen, die in der neuen Grundordnung vorgesehen sind, rezipiert der kirchliche Gesetzgeber zentrale Forderungen der staatlichen Gerichtsbarkeit und justiert damit eigenverantwortlich das komplexe Verhältnis zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und der gewerkschaftlichen Koalitionsfreiheit neu.
Die Entscheidung zur Grundordnungsänderung fiel nicht einstimmig. Das hat unterschiedliche Gründe, zu denen wohl auch die Einschätzung gehört, dass die Novelle die kirchliche Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe und die Missbilligung der Verpartnerung schwächen könnte und so ein negativer Beitrag zum Prozess der Überprüfung der kirchlichen Praxis wäre, der in den beiden römischen Familiensynoden stattfindet.
Die Entscheidung löste eine Reihe polarisierender Kommentare in den Medien aus, auch international. Einmal mehr intonierten einige - bisweilen ohne jegliches Bemühen um Fairness - das Lied vom Anfang des Niedergangs der Kirche, den die deutschen Bischöfe angeblich herbeiführen. Ist das ein zutreffendes Urteil über eine Änderung, die einen seit über zwanzig Jahren nahezu unveränderten Gesetzestext maßvoll fortschreibt? Die Bischöfe haben eine fünfjährige Evaluierungsphase beschlossen - mit der Möglichkeit von Nachjustierungen. Überhaupt haben sie sich vorgenommen, im Arbeitsrecht künftig noch stärker von der Kirche und ihren Institutionen her zu denken als vorrangig von der Lebensführung der Mitarbeiterschaft. Die Entwicklungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und die kirchliche Reflexion seiner Grundlagen sind keineswegs abgeschlossen.