Nähe und Distanz in der Seelsorge

„Grüßt einander mit einem heiligen Kuss“ (2 Kor 13,12), schrieb der Apostel Paulus. Papst Franziskus spricht in „Evangelii gaudium“ von der „Revolution der zärtlichen Liebe“ (EG 288). Viele fragen aber: Können heute Priester und Seelsorger Schutzbefohlenen noch so unbefangen begegnen? Gleiches gilt genauso für alle Menschen, deren Berufe mit engem Personenkontakt verbunden sind.

Nach der Missbrauchsdebatte in der deutschen Kirche in den vergangenen Jahren stellen sich solche Fragen neu: Dürfen Seelsorgerinnnen und Seelsorger Nähe und Zuwendung körperlich ausdrücken? Dürfen sie Kinder und Jugendliche trösten, wenn sie weinen, sie auf den Schoß oder in den Arm nehmen, wenn sie traurig sind? In der Kirche herrscht mittlerweile eine „Null-Toleranz-Politik“: Berührungen, Streicheln, erst recht Zärtlichkeiten sind absolut tabu; man darf mit Kindern und Schutzbefohlenen nicht mehr allein in einem Zimmer sein.

Aber wenn Seelsorger nur die optimale Distanz suchen und die optimale Nähe vermeiden, droht einiges verloren zu gehen, das wertvoll ist. Nun hat die professionelle seelsorgliche Beziehung im Vergleich zu einer „abstinenten“ therapeutischen oder Lebensberatungs-Beziehung einige Besonderheiten: Der Rahmen, in dem Seelsorge stattfindet, ist meist nicht so klar abgesteckt. Hinzu kommt, dass die Unterschiede zwischen einer seelsorglichen Beziehung und guter Kollegialität und Freundschaft faktisch nicht so leicht zu ziehen sind und sich das eine aus dem anderen entwickeln kann. Das ist so lange kein Problem, wie Veränderungen in der Beziehung erkannt werden, besprechbar sind und bewusst vollzogen und gestaltet werden. Für die Gestaltung professioneller seelsorglicher Beziehungen wird es hilfreich sein, einiges zu beachten:

1. Sich und die Mitmenschen in erster Linie unter dem Aspekt der Bereicherung des Lebens sehen, nicht vorrangig unter dem Aspekt der Gefährdung. - Es macht einen Unterschied, ob ein Seelsorger sich eher als jemanden sieht, von dem eine Gefahr ausgeht, oder als jemanden, der das Leben anderer bereichert und dessen eigenes Leben durch andere bereichert wird. Statt ängstlich darauf zu achten, keine Fehler zu begehen, ist es besser, gelingende Beziehungen zu entwickeln und zu gestalten.

2. Entschieden die Versuchung vermeiden, ein „blutleerer Kirchenbeamter“ zu werden. - Priester und Seelsorger sollen einen menschenfreundlichen Gott verkünden, einen zugewandten Jesus repräsentieren und von einem lebenspendenden Heiligen Geist erfüllt sein. Die Kantigkeit von in ihrer Art sehr verschiedenen Menschen hilft dazu mehr als ein irgendeinem Ideal angenäherter Kirchenbeamten-Typ: immer ausgeglichen, matt und mittelmäßig vor lauter Balance, halbstarr und milde vor lauter Aggressionsbewusstheit, stets bemüht, bewusst echt und voller Verständnis für alles und jeden: Diese „Vision“ entspricht keiner Grundannahme des christlichen Menschenbildes.

3. Sich mit sich selbst auseinandersetzen mit dem Ziel, menschlich und geistlich zu wachsen, auch wenn das schmerzlich ist. - Das Ziel „menschliche Reifung“ hat in der Ausbildung zu seelsorglichen Berufen einen festen Platz. Es umzusetzen bedeutet den Versuch einer möglichst realistischen Klärung gerade der unbewussten Motive, Priester und Seelsorger werden zu wollen: Wo ist das „Herz“ des Seelsorgers festgemacht? Was will er im Tiefsten wirklich? Das heißt auch, dass angehende Seelsorger die Konflikte und Spannungen in ihrer eigenen Lebensgeschichte soweit bearbeitet haben, dass sie andere verantwortlich begleiten können.

4. Lebenslang dafür sorgen, immer mehr die Fähigkeit für Authentizität und Transzendenz zu entwickeln. - Dies bedeutet, eigene Fragen und Unsicherheiten nicht hinter einer vermeintlich professionellen Fassade zu verstecken. Gute Seelsorger machen anderen keine Angst. Sie schenken Vertrauen und achten sich und andere. Erfahrungen von Transzendenz wird es ohne regelmäßiges und gestaltetes Gebetsleben nicht geben. Gebet, Meditation, Kontemplation haben vor allen anderen Tätigkeiten hohe Priorität. Die Zeit dafür wird nicht verknappt oder für anderes verwendet.

5. Verzichtsfähigkeit entwickeln. - Ohne diese Fähigkeit gelingt ein Leben als Priester und Seelsorger nicht. Wer eine tragfähige und belastungsfähige Lebenskonzeption und -form gefunden und gewählt hat, wird sich also Situationen schaffen (müssen), in denen er seine Lebensform realisieren kann, und nicht Situationen, die ihr geradezu zuwiderlaufen. Dass das auch hart und schwierig sein kann, ist ganz klar zu sehen und nicht zu verschleiern oder zu leugnen.

6. Mutig und fantasievoll sein in der Gestaltung von Beziehungen und ihren Ausdrucksformen. - Die Vorsichtsmaßnahmen, die als Folge der Missbrauchsfälle inzwischen akzeptiert und etabliert sind, sind richtig und wichtig. Die Kirche darf nicht dahinter zurückfallen. Sie muss sich offene Augen bewahren. Die Herausforderung bleibt jedoch, die Kirche wieder als einen „Raum“ zu gestalten, in dem Zärtlichkeit und Sinnlichkeit einen guten Platz haben und ihren Platz finden. Wer mit jemandem in einem guten Kontakt steht, spürt, ob er ihm zu nahe kommt - und auch, ob er zu weit weg von ihm ist.

7. Die Kunst der Kommunikation pflegen und sich in Frage stellen lassen. - Das „Zauberwort“ in jedem menschlichen Umgang heißt Kommunikation. In einer Beziehung sowohl unter Gleichen wie unter Ungleichen wird der Seelsorger auch die schwierigen und heiklen Punkte klar ansprechen. Wenn es sein muss, wird er auch einem konstruktiven Streit nicht aus dem Weg gehen.

Paulus schreibt gerade nicht: „Grüßt einander mit dem heiligen Händeschütteln.“ Und der erste Petrusbrief endet mit: „Grüßt einander mit dem Kuss der Liebe“ (1 Petr 5,13). Dass - metaphorisch gesprochen - eine solche Herzlichkeit im Kontakt miteinander in der Kirche irgendwann wieder möglich und nicht auf Dauer verpönt sei oder unter Generalverdacht steht, ist zu hoffen und zu wünschen.

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