Die Erinnerung an die mit dem Namen Martin Luther (1483-1546) verbundenen Ereignisse, die man zusammenfassend als Reformation der Kirche bezeichnet, läuft bereits auf hohen Touren und wird auch nicht erschöpft sein, wenn sich im Herbst des kommenden Jahres - am 31. Oktober 2017 - der symbolische Akt der Veröffentlichung der Thesen zur Ablasspraxis zum 500. Mal jährt.
Was in dieser Hinsicht in den Gemeinden, in ökumenischen Gesprächskreisen und auch im persönlichen Studieren und Reflektieren der Interessierten geschieht, ist im Einzelnen nicht greifbar. Man kann nur hoffen, dass sich da Neues und Lebendiges ereignet und neue Brücken hin und her gebaut werden und die sichtbare Einheit zwischen evangelischen und katholischen Christen wächst. Die Bereitschaft, dazu beizutragen, dass die Wunden, die aus der Spaltung in der abendländischen Kirche entstanden sind, nach und nach heilen, ist auf beiden Seiten unübersehbar und hat in den vergangenen Jahren schon zu neuen Begegnungen und zukunftsweisenden Annäherungen geführt. Aber der Prozess des Aufeinanderzuwachsens ist noch längst nicht an sein Ende gekommen. Es bleibt noch viel zu tun.
Zu den unentbehrlichen Bemühungen im Vorfeld des Reformationsgedenkens gehört der ökumenische Dialog, den die Theologen, gefordert und gefördert durch die Kirchenleitungen, führen. Er hat schon eine lange Geschichte, die bald nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils an Intensität zunahm. Nun rückt das Reformationsgedenken näher. Das hat schon jetzt dazu geführt, dass das ökumenische Gespräch erneut an Intensität zugenommen hat. In einer Reihe von inzwischen veröffentlichten Dokumenten kommt zur Sprache, wie sich die Kirchen jetzt ökumenisch auf neue Wege begeben wollen und können.
Besonders wichtig sind die beiden Texte, die in seit Langem bestehenden, dialogerfahrenen Kommissionen erarbeitet wurden. Der eine trägt den Titel „Reformation 1517-2017. Ökumenische Perspektiven“. Er geht auf die Arbeit im „Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen“ (früher: Jäger-Stählin-Kreis) zurück (Freiburg/Göttingen 2014). Der andere läuft unter der Überschrift „Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017“. Die lutherisch/römisch-katholische Kommission für die Einheit hat ihn erstellt (Leipzig/Paderborn 2013). Zu diesen beiden Texten kommen noch zwei weitere, die vorwiegend der ökumenisch relevanten Selbstvergewisserung der Kirchen dienen. Der eine - „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017“ - ist ein „Grundlagentext des Rates der EKD“ (Gütersloh 2014). Der andere erinnert an die nach wie vor aktuellen Impulse des Zweiten Vatikanums und trägt den Titel „Ökumenisch weiter gehen“ (hg. v. Michael Kappes u. Johannes Oeldemann, Leipzig/Paderborn 2014). Dieser Text wurde im Auftrag der katholischen Ökumene- Referenten-Konferenz erarbeitet. Er trägt in ausdrücklicher Weise der Tatsache Rechnung, dass sich die ökumenischen Bemühungen in einem dreipoligen Spannungsfeld bewegen: die vielen Christen in den Gemeinden mit ihren eigenen Erfahrungen und Erwartungen, sodann die kirchenleitenden Personen und Institutionen, die die fälligen Entscheidungen zu treffen haben, schließlich die Theologen, die die Gründe für die einzuschlagenden Wege zu erörtern haben.
Alle genannten Texte bringen zur Sprache, wie sich die Kirchen derzeit ökumenisch verorten und auf ihrem Weg in die Zukunft ausrichten. Dazu gehört an wichtiger Stelle ein neuer, nun weitgehend gemeinsam möglicher Blick auf die geschichtlichen Entwicklungen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Sie bildeten den Kontext der damaligen Vorgänge. Eine aufrichtige Überprüfung der eingespielten, bisweilen konfessionell verengten Muster ihrer Wahrnehmung hat dies ebenso ermöglicht wie eine unvoreingenommene Auswertung der profan- und kirchengeschichtlichen Quellen. Dazu kommt, dass viele von den Kirchen vertretenen theologischen Positionen heute näher beieinander liegen als in früheren Zeiten - in der Rechtfertigungslehre, im Eucharistieverständnis, in der Erschließung der Rolle des kirchlichen Amtes, in der Bestimmung der öffentlichen Verantwortung der Kirchen. Und es besteht ein klarer Konsens in der Erkenntnis, dass Martin Luther - ähnlich wie seine Weggefährten - nicht eine Spaltung der Kirche im Sinn hatte, sondern ihre Reform. Dabei lenkten ihn Überzeugungen, die er als Mönch in augustinischer Tradition, als Erbe mittelalterlicher Mystik und als Lehrer der Bibelexegese gewonnen hatte.
Ein Thema, das auch ökumenisch als höchst dringlich zu gelten hat, bleibt allerdings in den genannten Dokumenten auch weiterhin eher unentfaltet und in dem, was dazu ausgeführt wird, eher blass und folgenlos: die Kirche. Immerhin wird in dem Text „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ an ein früheres lutherisch-katholisches Dokument erinnert, das erkennen lässt, in welcher Richtung hier zu denken wäre: „Kirche und Rechtfertigung“ (1994). Soll es zu neuen Annäherungen zwischen der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche kommen, so werden sie jedenfalls auch in weitergehenden Übereinkünften im Verständnis der Kirche begründet sein müssen. Sollte es im Übrigen nicht möglich sein, die in den hier erwähnten Texten mehrfach herausgestellten „solus/sola“-Bestimmungen - solo Christo, sola fide, sola gratia, sola scriptura, solo verbo - gemeinsam so zu konzipieren, dass sie eine biblisch erschlossene und eine sakramental und also nicht nur funktional verstandene Kirchlichkeit implizieren?
Die Rolle der Kirche erschöpft sich nämlich nicht darin, dass sie für die Verkündigung des Wortes Sorge trägt, das von Jesus Christus herkommt und zu ihm hinführt, sondern sie ist ja Gottes Volk, der „Leib Christi“ und der „Tempel des Heiligen Geistes“. Der Mensch wird ein lebendiges Glied dieser Kirche durch die Taufe, durch deren Empfang er seinen Glauben an das Wort Gottes besiegelt. So lebt er sein Ja zu Gottes Ja zu ihm.