Wir haben gar keine Wahl: Sexualmoral und das Nachdenken über sie, die Sexualethik, kann es nicht nicht geben. Jedenfalls lehrt das die historisch-anthropologische Klugheit. Lieben und Sollen waren von jeher gemeinsam unterwegs durch die Menschheitsgeschichte. Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt schreibt in seinem Buch über die Treulosen in der Literatur:
„Die Spannung zwischen der Sexualität als einer biologischen Wirklichkeit und den vielfachen gesellschaftlichen Regeln, welche sie lenken, gestatten und verbieten, ist vorhanden, wie immer die jeweilige Gesellschaft oder Schicht, Gruppe oder Randgruppe, ihre einschlägigen Gesetze formuliert“1.
Noch das äußerste an Libertinage, das überhaupt vorstellbar sei, das Treiben auf den abgelegenen Schlössern eines Marquis de Sade, sei, so von Matt, auf seine Weise Regeln und Vorschriften unterworfen gewesen. Aus Sicht der Historischen Anthropologie ist Sex immer nur im Doppelpack mit der Kontrolle des Sex zu haben. Wenn das aber stimmt, dann kommt eben niemand von uns an irgendeiner Art von Sexualethik vorbei, sie ist kein Monopol einer in erotischen Fragen angeblich so miesepetrigen Moraltheologie, sie hat schlicht anthropologische Tiefenplausibilität. Dass die christliche Sexualethik gleichwohl unter vielfachen Erblasten steht, muss hier nicht noch einmal wiederholt werden. Die augustinische Waagetheorie, wonach der Sex eine monogame, unauflösliche und auf Kinder ausgerichtete Ehe brauche, um moralisch in Ordnung zu gehen, wurde schon hinreichend kritisiert, nicht zuletzt von so prominenten Zeitgenossen wie Joseph Ratzinger2. Hubertus Lutterbach hat gezeigt, wie stark eine – letztlich unjesuanische – Reinheits- und Unreinheitssemantik den christlichen Sexualitätsdiskurs spätestens seit dem Frühmittelalter prägte3. Und die (neu-)scholastischen Ordnungsvorstellungen vom guten, weil naturgemäßen Sex4 wurden von Bruno Schüller SJ und vielen anderen seziert5.
Dessen ungeachtet ist Sexualmoral Gott sei Dank ein Alltagsphänomen. Oft reicht ihr der ebenso schlichte wie klug anmutende Grundsatz der Einvernehmlichkeit. Was kann eine christliche Sexualethik über die Konsensmoral hinaus eigentlich noch wollen?
In diesem Beitrag komme ich zunächst auf ein paar Fallstricke einer rein konsensuellen Sexualmoral zu sprechen, um zu zeigen: Mit dem Einvernehmen der Beteiligten ist beim Sex nicht zwangsläufig der moralische Letzthorizont erreicht. Aus meiner Sicht gilt es, sich der Frage zu stellen, die Eberhard Schockenhoff vor ein paar Jahren aufgeworfen hat: Ist die Theologie noch fähig zu anthropologisch plausiblen Bestimmungsaussagen über die menschliche Sexualität, „die im Hinblick auf eine gesamtmenschliche personale Integration des sexuellen Triebverhaltens maßgeblich bleiben“6? Und sind diese Bestimmungsaussagen wiederum plausibel genug, um vielleicht sogar über die Gruppe der Gläubigen hinaus „Relevanz [zu] erzeugen“7? Darum wird es im zweiten Abschnitt dieses Textes gehen, ehe im dritten die sexualethischen Konkretionen folgen.
Sexualethik der Einvernehmlichkeit
„Erlaubt ist, was im Einvernehmen passiert“: Moralische Faustregeln wie diese gehören zu den Nutzungsbedingungen von Dating-Apps, mit ihr kann man sich durch eine Serie monogamer Beziehungen schlagen, und natürlich werden auch glücklich Verheiratete nicht gegen sie verstoßen. Tatsächlich scheint dieser schlanke Imperativ den Respekt vor der Freiheit der Beteiligten mit der Freizügigkeit sexuellen Erlebens aufs Schönste zu versöhnen: Nichts gehört von vornherein in die „No-Go“-Zone sexueller Tabus und nichts steht von vornherein als geboten, richtig und einzig praktikabel fest. Die Labels „gut“ und „schlecht“, „akzeptabel“ und „inakzeptabel“ stammen gar nicht aus der Sexualität selbst, sie werden an ein Verfahren der Konsensfindung gebunden. An dem allerdings kommen sie unter keinen Umständen vorbei. Mehr Moral braucht kein Sex. Oder?
Zunächst einmal ist zu fragen, ob sexuelle Bedürfnisse wirklich „in einem gleichberechtigten Miteinander verhandelt werden“8 können, so wie man mit einem Autohändler über die Sonderausstattung des Neuwagens spricht. Wie frei sind wir überhaupt, wenn Erotik im Spiel ist? Ist nicht der Partner, der weniger hingezogen ist als der andere, stets der freiere von beiden in dieser Beziehung? Kann nicht er die „Konsens-Bedingungen“ stellen, denen der andere dann genügen muss? Nicht der Konsens macht die Moral, sondern die Moral von Freiheitswesen führt zum Konsens unter ihnen. Und wo wir nicht frei sind, büßt der Konsens seinen moralischen Nimbus ein.
Auch an die Konsensmoral als solche müssen Anfragen erlaubt sein. Wie wird eigentlich Konsens erzeugt? Durch „den eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“9, heißt es bekanntlich bei Jürgen Habermas. Allein dass in diesem Zusammenhang von Zwang die Rede ist, sollte hellhörig machen. Wo ein Zwang existiert – und sei es der „zwanglose“ des besseren Arguments – ist auch Macht im Spiel. Der Diskursethik war diese Machtdimension lange Zeit nicht klar genug. Sie glaubte, es reiche, dass das diskursive Verhandeln „herrschaftsfrei“ sei, also keine diskursfremde Hierarchie im Diskurs eine Rolle spiele. Aber dass derjenige handfeste Macht hat, der das bessere Argument vorzubringen weiß, und dass diese Macht moralisch nicht neutral ist, sollte eine eigene Erörterung wert sein10. Plakativ gefragt: Hat der, der besser reden kann, nicht nur mehr Extras im Auto, sondern auch den besseren Sex? Vielleicht ist dem so. Aber dann sollte man zumindest nicht vorgeben, eine Konsensmoral bringe die Sexualpartner stets fair auf Augenhöhe zusammen. Konsens allein reicht nicht. Ganz ohne inhaltliche Bestimmung wird die Sexualethik den Menschen, um die es geht, nicht gerecht.
Eine sparsame anthropologische Umschreibung von Sexualität, die in der Mitte des christlichen Glaubens gründet, soll nun versucht werden. In einer Akzentverschiebung dessen, was vor mir schon Papst Johannes Paul II., Giorgio Agamben und Erik Peterson sagten, werde ich das von der Moraltheologie bisher meines Erachtens zu wenig gewürdigte anthropologische Grundmotiv der Nacktheit ansprechen. Von hier aus soll eine christliche Sexualethik als Ethik der Nacktheit in drei Dimensionen skizziert werden.
Theologie verletzlicher Nacktheit
Beginnen wir mit einer kurzen sexualtheologischen Deutung der Sündenfallerzählung aus der zweiten Schöpfungsgeschichte:
„Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz. Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens. Gott, der Herr, rief Adam zu sich und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin.“ (Gen 3, 7-10; Hervorhebungen R. S.)
Dass es hier um Sex geht, sieht der Laie nicht gleich. Es hat zu tun mit der schillernden Bedeutung des hebräischen Wortes jadá, das in Gen 3,7 vorkommt: Es kann erkennen, kennen lernen, erfahren, Bescheid wissen und Ähnliches heißen, aber eben auch intim kennen bzw. Sex haben11. In diesem letzten Sinn jedenfalls müssen wir es verstehen, wenn wir ein paar Verse später lesen: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger“ (Gen 4,1a).
Doch auch im „erkennen“ von Gen 3,7 schwingt eine sexuelle Konnotation mit. Dass Adam und Eva einfach so anfangen, ihre Geschlechtsteile zu bedecken, ist unplausibel. Nackt waren sie von jeher. Es ist der Ausbruch aus selbstverständlicher Nacktheit, ein plötzlich erwachtes erotisches „Erkennen“ des Andern, das zu Scham und sei es der „zwanglose“ des besseren Arguments – ist auch Macht im Spiel. Der Diskursethik war diese Machtdimension lange Zeit nicht klar genug. Sie glaubte, es reiche, dass das diskursive Verhandeln „herrschaftsfrei“ sei, also keine diskursfremde Hierarchie im Diskurs eine Rolle spiele. Aber dass derjenige handfeste Macht hat, der das bessere Argument vorzubringen weiß, und dass diese Macht moralisch nicht neutral ist, sollte eine eigene Erörterung wert sein10. Plakativ gefragt: Hat der, der besser reden kann, nicht nur mehr Extras im Auto, sondern auch den besseren Sex? Vielleicht ist dem so. Aber dann sollte man zumindest nicht vorgeben, eine Konsensmoral bringe die Sexualpartner stets fair auf Augenhöhe zusammen. Konsens allein reicht nicht. Ganz ohne inhaltliche Bestimmung wird die Sexualethik den Menschen, um die es geht, nicht gerecht.
Eine sparsame anthropologische Umschreibung von Sexualität, die in der Mitte des christlichen Glaubens gründet, soll nun versucht werden. In einer Akzentverschiebung dessen, was vor mir schon Papst Johannes Paul II., Giorgio Agamben und Erik Peterson sagten, werde ich das von der Moraltheologie bisher meines Erachtens zu wenig gewürdigte anthropologische Grundmotiv der Nacktheit ansprechen. Von hier aus soll eine christliche Sexualethik als Ethik der Nacktheit in drei Dimensionen skizziert werden.
Theologie verletzlicher Nacktheit
Beginnen wir mit einer kurzen sexualtheologischen Deutung der Sündenfallerzählung aus der zweiten Schöpfungsgeschichte:
„Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz. Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens. Gott, der Herr, rief Adam zu sich und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin.“ (Gen 3, 7-10; Hervorhebungen R. S.)
Dass es hier um Sex geht, sieht der Laie nicht gleich. Es hat zu tun mit der schillernden Bedeutung des hebräischen Wortes jadá, das in Gen 3,7 vorkommt: Es kann erkennen, kennen lernen, erfahren, Bescheid wissen und Ähnliches heißen, aber eben auch intim kennen bzw. Sex haben11. In diesem letzten Sinn jedenfalls müssen wir es verstehen, wenn wir ein paar Verse später lesen: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger“ (Gen 4,1a).
Doch auch im „erkennen“ von Gen 3,7 schwingt eine sexuelle Konnotation mit. Dass Adam und Eva einfach so anfangen, ihre Geschlechtsteile zu bedecken, ist unplausibel. Nackt waren sie von jeher. Es ist der Ausbruch aus selbstverständlicher Nacktheit, ein plötzlich erwachtes erotisches „Erkennen“ des Andern, das zu Scham und Feigenblatt-Montur führt. Es geht hier also um nichts weniger als um einen originären Zusammenhang von Nacktheit, Sexualität und Scham12; und zwar noch ehe der Leser vom Zusammenhang Sexualität und Kinderzeugung erfährt. Folgen wir dem biblischen Erzählfluss, so haben wir die Verwiesenheit von Nacktheit, Sexualität und Scham für ursprünglicher zu halten als die Verbindung von Sexualität und Nachkommenschaft.
Genau das scheint mir Thema der sogenannten Mittwochskatechesen von Johannes
Paul II. zur „Theologie des Leibes“ zu sein. Im Blick auf Gen 3,7 ff. sagt er:
„Im Erlebnis der Scham erfährt der Mensch die Scheu gegenüber dem anderen Ich (so zum Beispiel die Frau gegenüber dem Mann), und sie ist wesentlich Furcht für das eigene Ich. Mit der Scham bekundet der Mensch gleichsam instinktiv die Notwendigkeit der Bestätigung und Annahme dieses Ichs entsprechend seinem wahren Wert. Das erfährt er zugleich sowohl in sich selber als auch nach außen hin gegenüber dem anderen. Man kann also sagen, daß die Scham auch in dem Sinn eine komplexe Erfahrung ist, daß sie zwar einen Menschen gewissermaßen vom anderen (die Frau vom Mann) fernhält, zugleich aber ihre persönliche Annäherung sucht und dafür eine geeignete Grundlage schafft.“13
Johannes Paul II. sieht unsere Sexualität im ursprünglichen Konnex von Nacktheit, interpersonaler Anziehung und Angst vor Verletzung, ein Konnex, der über die Scham vermittelt wird und zu einer Dynamik des Annäherns und des Entziehens, des Schützens und des Verwundens, des Verbergens und des Offenbarens im sexuellen Erleben führt. Dies bringt mich zu meiner sexualanthropologischen Zentralthese: Die Nacktheit und die mit ihr gesetzte Verletzlichkeit sind aus biblischer Sicht die eigentlich relevanten anthropologischen Bezugsgrößen der Sexualität, noch vor ihrer reproduktiven Dimension.
Nacktheit ist freilich nicht gleich Nacktheit. Tagtäglich sehen wir, dass es Nacktheiten gibt, die gar nicht nackt und verletzlich machen, dass man gleichsam auf eine höchst angezogene, ja verpanzerte Weise nackt sein kann. Dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben fiel diese nicht nackte Nacktheit besonders in den Arbeiten des Fotografen Helmut Newton auf. In dessen Diptychon „They are coming“ zum Beispiel sind auf der linken Seite bis auf ihre Highheels völlig nackte 80er-Jahre-Schönheiten zu sehen,
„die kalt und hochnäsig wie Models bei einer Modenschau vorwärtsschreiten. Die gegenüberliegende, rechte Seite zeigte dieselben Models in identischer Haltung, allerdings perfekt und elegant gekleidet. Sonderbarerweise hat man jedoch den Eindruck, dass sich die beiden Bilder im Grunde gleichen. Die Models tragen ihre Nacktheit so, wie sie auf der benachbarten Seite ihre Kleider tragen“14.
Adam und Eva à la Helmut Newton erkennen nicht, dass sie nackt sind, weil sie nicht nackt sind. Sie müssen sich nicht hektisch ein paar Blätter zusammensuchen für improvisierte Lendenschurze, sie sind ja schon angezogen. Hochglanz-Erotik bekleidet sie. Von dieser umhüllt, können sie sicher Manches erleben, nicht aber sich selbst in ihrer verletzlichen Nacktheit. Unsere Körper erlauben uns solche Distanzierungen. Wir können unsere Verletzlichkeit aus ihnen abziehen und sie gewissermaßen handhaben wie eine Sportausrüstung. Und wir machen uns damit tatsächlich weniger verletzlich in unserer Sexualität. Aber sind das dann noch wir? Wenn wir nicht endgültig der Sportausrüstung weichen wollen, wenn wir das Spiel erotischer Objektivierungen und subjektiver Bewegtheit nicht einseitig zulasten unserer Subjektivität beenden wollen, müssen wir unsere Nacktheit und mithin unsere Verletzlichkeit bewahren.
Erik Peterson, einer der eigenwilligsten katholischen Denker des 20. Jahrhunderts, weist darauf hin, dass wir heute dem Paradies nie näher sind als in unserer Nacktheit. Der Patristiker Peterson15 folgt Irenäus, Ambrosius und anderen, die das paradiesische Urmenschenpaar gar nicht für nackt hielten, sondern für bekleidet „mit der Glorie Gottes“, mit Unschuld oder der „stola sanctitatis“16, wie es bei Irenäus heißt. Dieses Kleid kam den Menschen erst durch ihren Ungehorsam abhanden. Als sie gegen Gottes Gebot verstoßen hatten17, wurden sie nackt und erkannten ihre bekleidungsbedürftige Verletzlichkeit.
Seither unternahmen wir auf der Suche nach dem verlorenen Paradies allerlei alberne Versuche, uns anzuziehen. Statt der Gloriole Gottes behalfen wir uns erst mit Feigenblättern, dann mit toten Tieren (vgl. Gen 3,21), schließlich mit „Status“ oder der Mode, deren ständige Neuerungen wir „bereitwillig auf uns nehmen, weil sie uns einen neuen Ansatz zu einem Verständnis unserer selbst verheißt, doch nur die Hoffnung nach dem verlorenen Kleide weckt“18, so Peterson. Eigentlich sind wir aber nur als Nackte ganz bei uns – und ganz nah am Paradies, von dem her noch unser Erschrecken und unsere Scham über die Nacktheit stammen. Behutsam bewahrte Nacktheit ist natürlich kein Ersatz fürs Paradies, aber doch das Beste, was uns jenseits von Eden passieren kann.
Echte Nacktheit bedeutet Verletzlichkeit, und Verletzlichkeit ist in den letzten Jahren in der Theologie häufiger zum Thema gemacht geworden. Die Arbeiten der Würzburger Fundamentaltheologin Hildegund Keul stehen exemplarisch dafür19.
Aber auch jenseits der Theologie ist die sogenannte „Vulnerabilität“ heute ein „Fachbegriff, bemerkenswerterweise sowohl in Geistes- als auch in Naturwissenschaften. Mit großer Selbstverständlichkeit wird er in der Klimaforschung, in der Bekämpfung von Krankheit und Armut, in philosophischer Ethik und Anthropologie, in Stadtentwicklungsund Migrationsdebatten sowie in den Forschungen zu Resilienz und Glück verwendet“20.
Aber was genau ist mit Vulnerabilität gemeint? Sehr allgemein ist sie zu definieren als verminderte Fähigkeit, einen negativen äußeren Einfluss vorauszusehen, mit ihm zurechtzukommen oder sich von ihm zu erholen21. In diesem weiten Sinn kann man tatsächlich Menschen, Städte und das Betriebssystem eines Rechners verwundbar nennen; verwundbar zum Beispiel durch Armut, Feinstaub oder Virenattacken. Die Vulnerabilitätsidee rät gewissermaßen, das Augenmerk vom Großen und Ganzen eines Desasters auf die Betroffenen zu lenken. Gefahren, Risiken und Bedrohungen wird es immer geben. Es kommt darauf an, ihnen begegnen zu können bzw. Maßnahmen auf den Weg zu bringen „aimed at reducing people’s vulnerability to potential disasters“, so eine Formulierung des Internationalen Roten Kreuzes22.
Dieser Aufgabe widmet sich das sogenannte Vulnerabilty and Capacity Assessment. Hat dieser Vulnerabilitätsbegriff etwas damit zu tun, was wir im Anschluss an Gen 3,7 die Verletzlichkeit sexueller, nackter Wesen nannten? Zunächst einmal schon. Einem Begehren ungefragt preisgegeben zu sein, kann als Zudringlichkeit eine äußere Bedrohung sein. Aber auch wer begehrt und liebt, ist verletzlich. Er offenbart sich und wird so in gewisser Weise nackt und verwundbar vor dem, auf den sein Sehnen sich richtet. So gesehen sind wir alle als sexuelle Wesen entblößte „vulnerable persons“.
Gegen das Vulnerability and Capacity Assessment würde ich allerdings für die hier entwickelte Perspektive auf die Verletzlichkeit eine positive Tönung in Anspruch nehmen23. Ohne das Ja zur Verletzlichkeit kann es das paradiesnahe Glück der Intimität nicht geben: verletzlich zu bleiben und nicht verletzt zu werden.
Ethik verletzlicher Nacktheit – in drei Dimensionen
Was könnten die ethischen Konsequenzen aus der biblischen Theologie verletzlicher Nacktheit sein? Ich sehe drei Dimensionen einer Sexualethik verletzlicher Nacktheit.
1. Die reflexive Dimension. Eine christliche Sexualethik verletzlicher Nacktheit ist zunächst und zuerst reflexiv: Sie bejaht die Verletzlichkeit. Anders als im Vulnerability and Capacity Assessment kann es also nicht darum gehen, unsere Verletzlichkeit als sexuelle Wesen zu beseitigen, sondern zu bewahren; und zwar in einem doppelten Sinn: Sie soll bleiben und ist deshalb zu schützen.
2. Die „palliale“ Dimension. Eine zweite wichtige Dimension der christlichen Sexualethik könnte man versuchsweise eine „palliale“ nennen. „Pallium“ (lat.) bedeutet Mantel. Die Sexualethik sollte einen schützenden Mantel um uns sexuelle Wesen legen.
Das spricht für starke Institutionen, die wir Menschen immer dann einrichten, wenn wir Gefahr laufen, verletzt zu werden und Schaden zu nehmen24. Sexualität macht nackt und schutzbedürftig, aber auch Kinder zu erwarten, zu bekommen und zu erziehen gibt uns der Verletzlichkeit preis. Schwangerschaften, Geburten, das Leben mit Kindern sind zwar zutiefst beglückende Erfahrungen, aber sie vergrößern die Angriffsfläche für Schicksalsschläge ungemein. Wo beide Verletzlich keiten zueinander kommen, einander bedingen und überlagern, sind besondere Schutzräume vonnöten. Die Institution Ehe kann ein solcher Schutzraum sein. Sie gewährt rechtliche Privilegien und legt Verpflichtungen auf, die es außerhalb der Ehe nicht gibt. Das ist plausibel, sofern und solange die Ehe nicht als nötigende, sondern als bergende Institution erfahren wird, in der die doppelte Verletzlichkeit menschlicher Sexualität und Reproduktivität einen besseren Ort hat als irgendwo sonst25. Wer an der Ehe als starker Institution festhalten will, ist also stets in der Beweispflicht, dass sie wirklich diese Schutzkraft für uns multipel Verwundbare entfaltet und nicht einfach ein „Erbe vergangener Zeiten“26 ist, an dem man nur aus ästhetisch-nostalgischen Gründen festhält.
Eine palliale Sexualmoral nimmt uns auch innerhalb unserer Beziehungen in die Pflicht. Gegen alle romantische Verschmelzungsrhetorik, die auch in kirchliche Texte Einzug gehalten hat27, müssen wir moralischerweise festhalten am interpersonalen Grenzverlauf zwischen den Sexualpartnern. Wir hören beim Sex nicht auf, die Personen zu sein, die wir außerhalb des Sex auch sind. Und wenn doch jemand die Selbstaufgabe von uns beim Sex verlangt, erniedrigt er uns zur Funktion seiner selbst. Freiheitswesen lassen so nicht mit sich umgehen, und eine palliale Sexualethik steht ihnen schützend zur Seite. Das ist kein Plädoyer gegen die Leidenschaft, sondern für den Respekt – bei aller Leidenschaft.
Die palliale Sexualethik soll uns aber auch noch vor einer anderen Zudringlichkeit in Sicherheit bringen: der des Diskurses. Man muss nicht alles dem Reden zugänglich machen, was mit Sex zu tun hat. Zugegeben: Ein Vertreter der katholischen Moraltheologie mag wenig prädestiniert sein für solch eine Mahnung. Weder sein Fach noch seine Kirche haben sich in ihrer Geschichte durch besondere Diskretion hervorgetan. Die Moraltheologie brachte ganze Jahrhunderte damit zu, die Sexualtechniken, -stellungen und -praktiken der Gläubigen akribisch zu beschreiben und zu bewerten vor dem Hintergrund, dass Sex „natürlich“ sein müsse, also auf keine Weise vollzogen werde, die das Schwangerwerden behindere. Der umsichtige Moraltheologe wechselte für die Kartografie des Sexuellen gern ins Lateinische, auch wenn er ansonsten in der Volkssprache schrieb, „damit er nicht so leicht von Andern als von den Beichtvätern gelesen werde“28, wie es in einem Werk des Alphons von Liguori heißt. Nicht ganz zu Unrecht, denn was der heilige Alphons, Patron der Beichtväter und der Moraltheologen, im Detail schreibt, muss man nicht unbedingt jugendfrei finden29.
Liguori war nicht der erste und nicht der letzte (und schon gar nicht der schlimmste) Sexual-Kasuist. Bereits die Autoren der iro-schottischen Bußbücher des Frühmittelalters zeigten sich als Meister der „pornografisch deutlichen Beschreibung aller denkbaren Verhaltensweisen“30. Und sogar bei Bernhard Häring CSsR, dem großen Moraltheologen der Konzilszeit, lesen wir zumindest noch in den 1950er-Jahren, die „Vereinigung [soll] von Angesicht zu Angesicht, Aug in Aug stattfinden, die Frau in empfangender, der Mann in führender, schenkender Stellung“31, wenngleich ihm die näheren Einzelheiten dann doch zu peinlich sind.
Die Sexual-Mikroskopierung war kein moraltheologischer Selbstzweck, sondern diente der Instruktion von Beichtvätern, die ihrerseits gehalten waren, ihre Beichtkinder nach „Art, Zahl und Umständen“ (DH 1707) ihrer schweren Sünden zu fragen. Insistierten sie nicht, bohrten sie nicht nach, und nahmen sie es nicht genau genug, so machten sie sich selbst schuldig. Die Hölle sei voll von Beichtvätern, die nicht scharf genug nachfragten, heißt es in einschlägigen Handbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts32.
So entstand ein hässliches Knäuel aus allseitiger Angst, Macht und Sex, aus Indiskretion, erzwungener diskursiver Selbstpornografisierung und Erotik, das bald an Psychiatrie und Psychoanalyse weitergegeben wurde und von hier die Betroffenen- Talkshows unserer Gegenwart erreichte. Michel Foucault hat diesen Prozess in seinem Buch „Der Wille zum Wissen“33 eindrücklich beschrieben. Aus ethischer Sicht reicht es indes nicht, mit Michel Foucault die „stumme Praktik“ antiker Erotik zu preisen und das neuzeitliche Brechen aller „Siegel der Zurückhaltung“34 zu geißeln. Gegen den Willen zum Wissen gilt es – die Zerbrechlichkeit scheuer sexueller Wesen vor Augen – ein Sollen des Nichtwissens zu proklamieren. Nicht aus Nonchalance oder Verklemmtheit, sondern aus klar angebbaren ethischen Gründen haben wir uns nicht für Schlafzimmerdetails zu interessieren – es sei denn, genau hier wird aus Verletzlichkeit Verletzung.
3. Die emanzipative Dimension. Wo immer das geschieht, ist die dritte, die emanzipative Dimension einer Sexualethik der Verletzlichkeit gefragt. Sie zeigt eine harte Gangart gegen jede Form von sexueller Gewalt, gegen Menschenhandel, Zwangsprostitution, Genitalverstümmelung usw. Und sie verschließt selbstverständlich auch nicht die Augen vor der Kirche. Ihrer Tradition nach bringt die Kirche alle Fragen sexueller Sittlichkeit in den binären Code ehelich versus nichtehelich, einen Code, der kaum mehr als ein paar Grauschattierungen hergibt für das Viele, das gemeinsam außerhalb der Ehe liegt und doch moralisch höchst unterschiedlich ist. Eine christliche Sexualmoral, die dagegen primär von der menschlichen Verletzlichkeit her urteilt, wäre fähig gewesen zu schnelleren, klareren und strikteren Reaktionen auf die Abgründe sexualisierter Gewalt, in die so viele Schutzbefohlene der Kirche gefallen sind.
Emanzipativ hat sich die christliche Sexualmoral aber auch an die Seite der Alltagsopfer des Sexuellen zu stellen: an die Seite der Trennungsverlierer und Sitzengelassenen. In einer zerbrochenen Partnerschaft mag es den Einen geben, für den die Trennung Zukunft, Freiheit und womöglich eine neue Liebe verheißt. Wer ausbricht, bricht immer auch auf, er hat Hoffnungen und Pläne. Das verleiht ihm eine vitale Anmutung. In seiner Gesellschaft ist man eigentlich ganz gern. Aber da ist womöglich auch noch der Andere, der der Gemeinsamkeit lieber noch eine Chance gegeben hätte, dem am Weitermachen lag, der von der endgültigen Trennung ins Mark getroffen wird und über sie vielleicht niemals hinwegkommt. Seine Position ist nicht nur schmerzhaft, sie macht auch hässlich und klein. Wer will wirklich einen Abend mit dem sitzengelassenen Trauerkloß in der Ecke verbringen? Christliche Sexualmoral nackter Verletzlichkeit gibt die Zuständigkeit für ihn nicht auch noch ab. Sie wird auch nicht einfach Druck ausüben auf ihn, sich mit der Situation abzufinden, „loszulassen“ und endlich ebenfalls neu anzufangen.
Es gibt nicht nur sakramententheologische Gründe35, dass die Kirche die Unauflöslichkeit der Ehe nicht einfach preisgibt. Es gibt auch moralische. Denn mit ihrem Ja zur Fortexistenz der Ehe setzt sie den Vereinsamten, Zurückgelassenen ins Recht. Das ist ein heilsamer Kontrapunkt zum „Wer liebt, hat Recht“-Pathos, das uns Kindern der Romantik ja unmittelbar einleuchtet. Bei alledem gilt es einzuräumen: Den schuldhaften Ehebrecher und den schuldlos Verlassenen gibt es eher selten, die Gemengelagen sind viel häufiger. So stellen die deutschen Bischöfe zu Recht fest:
„Welche Ursachen und Gründe letztlich zum Zerbrechen einer Ehe geführt haben, [ist] objektiv, also von außen kaum benennbar […]. Auch den beiden Partnern ist nicht immer klar, welche Entscheidungen, welche Handlungen und welche oft langfristigen Entwicklungen schlussendlich zum Zerbrechen der Ehe geführt haben.“36
Mitunter zerbrechen Ehen einfach an den „Mächten und Gewalten unserer Zeit“37, an zu viel Arbeit, zu wenig gemeinsamer Zeit, zu schlechten Nerven, sodass am Ende nicht einer trauert, sondern zwei. Sollte dem so sein, gehört die christliche Moral eben an die Seite beider Beziehungsverlierer.
Gerade aus der Sicht einer Verletzlichkeitsethik darf die Parteinahme für die gescheiterte Ehe aber nicht dazu führen, die Verletzung schlicht zu affirmieren. Die Trauer ins Recht zu setzen bedeutet nicht, bei ihr stehenbleiben zu müssen. Eine verletzungs- und befreiungssensible christliche Sexualmoral wird die Kirche ermahnen, Wege zu finden, um mit den in ihrer Ehe Gescheiterten zu neuer Hoffnung aufbrechen zu können. Die Chancen, dass solche Mahnung bei der Kirche Gehör findet, standen kaum je besser als im Moment38.
Fazit
Im vorliegenden Text war von vielem Wichtigen nicht die Rede, etwa von der „Schlüsselfunktion des Gender-Denkens“39 und nur andeutungsweise von einer personalistischen Sexualethik40. Auch der moraltheologischen Tradition hätte man mehr Sensibilität entgegenbringen können. All das möge mit guten Gründen andernorts geschehen. Hier ging es nur um Grundlinien einer neuen Sexualethik. Es ging darum, ein skizzenhaftes Relevanzangebot zu machen mit einer Ethik nackter Verletzlichkeit, die mehr sagen kann als die Allerweltsmoral der Einvernehmlichkeit und dabei aus dem Herzen der christlichen Anthropologie kommt; die die christliche Ethik auch dort sprachfähig bleiben lässt, wo Sexualität nicht automatisch mit Reproduktivität einhergeht: bei Unfruchtbarkeit, im Alter und auch bei Homosexualität; die andererseits aber erlaubt, gerade auch die menschliche Reproduktivität unter dem Aspekt der Verletzlichkeit ethisch anzusprechen; die es ferner erlaubt, moraltheologische Gründe auszuweisen gegen die grell ausleuchtende Schlafzimmer- Zudringlichkeit der Moraltheologie und doch umso klarer und ohne jede Relativierung alle Formen sexueller Gewalt zu brandmarken; die es nicht zuletzt erlaubt, auch theologisch davon zu sprechen, was das Glück der Intimität ist: verletzlich bleiben zu können, ohne verletzt zu werden.