Was ist die AfD - und wie mit ihr umgehen?

In kürzester Zeit hat die „Alternative für Deutschland“ bei Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse eingefahren und ist dabei, das deutsche Parteiengefüge nachhaltig zu verändern. Der Bonner Politikwissenschaftler Andreas Püttmann skizziert das Profil einer Partei, die sich teils offen antichristlich positioniert, teils kirchenfern-traditionalistische Christen anspricht.

In seiner „Berliner Rede 1997“ forderte Bundespräsident Roman Herzog: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!“ Inzwischen haben wir einen - doch ganz anders, als wir es uns noch bis vor etwa drei Jahren vorstellen konnten. Ein Rechtsruck schüttelt Deutschland und Europa durch. Sascha Lehnartz skizziert ihn in begrifflicher Reminiszenz an einen Essay von Botho Strauß aus dem Jahre 1993:

„Zunächst enthemmte sich das Reden in obskuren Internetforen, dann zog es in die sozialen Netzwerke und Kommentarspalten der Medien. Ein anschwellender Bocksgesang, der alles abräumen möchte, was unser Gemeinwesen trägt: Parlamente, Medien, Institutionen und ihre Repräsentanten. Der dünne Firnis der Zivilisation wird munter abgeschabt. Der destruktive Charakter, sagt Walter Benjamin, will Platz schaffen. Wofür, weiß er nicht. Als gäbe es ernsthaft etwas Besseres. Das Prinzip Verantwortungslosigkeit hat inzwischen die Wahlkämpfe erreicht. Trumps Kampagne ist dafür ebenso beredtes Beispiel wie Teile der Debatte um den Brexit. In beiden dominiert die Verächtlichmachung des anderen. Es ist ein Hass-Sprechen, das Hass-Taten gebiert.“ 1

Man erfährt es keineswegs nur durch Medienberichte, sondern auch durch Erlebnisse im Bekanntenkreis. Manche Bürger haben sich in erschreckend kurzer Zeit radikalisiert, rechtspopulistisches Vokabular adaptiert und trampeln Widerspruch und Kritik so verärgert nieder, dass man sich an Ionescos Drama „Die Nashörner“ 2 erinnert fühlen kann. Der für die Weimarer Republik verderblichen „Konservativen Revolution“ ähnlich, fräste sich antiliberales, antipluralistisches, antidemokratisches und völkisch-nationalistisches Denken, das jahrzehntelang auf sektiererische Zirkel und Zeitschriften der Neuen Rechten beschränkt war, während der Euro-, Schuldenund Flüchtlingskrise bis weit in die bürgerlich-konservative Mitte hinein3.
Erschien die „Alternative für Deutschland“ (AfD) anfänglich noch als eine Partei der Besserverdienenden (nur jeder Zehnte ihrer Wähler 2014 hatte Sorgen wegen der eigenen wirtschaftlichen Situation, jeder Dritte gehörte zum reichsten Fünftel der Bevölkerung) sowie der formal Höhergebildeten (allerdings mehr der „technischen Intelligenz“4), so fanden sich unter den AfD-Wählern bei den Landtagswahlen im März 2016 überdurchschnittlich viele Arbeiter und Arbeitslose; 35 Prozent machten sich nun Sorgen über die eigene wirtschaftliche Lage5. Dass die Partei in die sozialdemokratische und linke Kernklientel einzudringen vermochte, ist auch ablesbar am Absacken der SPD von über dreißig auf nahezu zwanzig Prozent - übrigens, wie der Existenzkampf der Liberalen, ein Déjà-vu der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre: Die mit 18 Prozent in die Weimarer Demokratie gestartete „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) erzielte im September 1930 nur noch 3,8 Prozent, bevor sie, zur „Deutschen Staatspartei“ umbenannt, in der Bedeutungslosigkeit verschwand; die SPD sackte von 38 auf 20 Prozent ab. Eine denkwürdige historische Daten-Parallele, selbst wenn man „Die Grünen“ als Alternative für Linksliberale aus beiden Parteien mit in Rechnung stellt.

Das „Eigene“ gegen das Fremde

Die ängstliche, trotzige oder aggressive Abgrenzung des „Eigenen“ vom Fremden, Andersartigen ist der Kitt zwischen den sozialen Schichten der AfD-Klientel:

„Letztendlich lässt sich alles auf einen Satz reduzieren: Die da oben sind für Immigration, und wir da unten müssen diese ertragen. Wir gegen die. Ein Klassenkampf, der längst klassenübergreifend funktioniert. Auf diesem Level verträgt sich das Großbürgertum glänzend mit dem Proletariat. Rassismus und Xenophobie schweißen die Milieus zusammen.“6

Das am prominentesten von Thilo Sarrazin mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ 2010 gemachte Angebot, „sich wenigstens genetisch auf der sicheren, weil ‚deutschen‘ Seite zu fühlen“7, lässt selbst Arme „einem Mann zujubeln, der Hartz-IV-Empfängern einst empfahl, sich wärmere Pullover anzuziehen, um Heizkosten zu sparen“8. Nationalismus und Rassismus - heute mehr kulturell als biologistisch begründet - sind gleichsam das Opium des „kleinen Mannes“, das ihn über die sozialdarwinistischen Tendenzen der AfD hinwegtäuscht. Diese blitzten etwa in Beatrix von Storchs Distanzierung vom rechtsextremen „Front National“ auf, der für die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende keineswegs zu rechts, sondern „eine wirtschafts- und gesellschaftspolitisch sehr linke Partei“ ist, die „ihren Sozialismus in Frankreich ausüben“9 wolle.
Der psychosoziale Mehrwert eines auf Herkunft oder Gesinnung gestützten Selbstwertgefühls ist klar: Dadurch, dass die Ressentimentbürger „jemanden haben, dem sie negative Eigenschaften zuschreiben können, sind sie nicht gezwungen, sich im Vergleich zu ihresgleichen zu betrachten. Selbst der letzte Versager kann sich noch zur Elite zählen.“10
Insofern überrascht es nicht, wenn sich das Personal einer ressentimentgestützten Partei (spätestens der zweiten und dritten Reihe) als „ein Flohsack an Vorbestraften, mit Haftbefehl Verfolgten, Gescheiterten, Karrieristen, schräg Begabten, Rassisten“11 darstellt, wie Georg Dietz es im „SPIEGEL“ zuspitzte.
Wer es objektiver haben will, beachte die Leistungsbilanz der AfD-Landtagsfraktionen: Krasser Kenntnismangel, verbale Entgleisungen und Dauerquerelen erschweren die Arbeit der Partei12. Wer durch bloße Gesinnungstüchtigkeit und demagogische Begabung nach oben gespült wurde, wird Anreize zu fleißiger und realistischer Sacharbeit weniger verspüren als jemand, der die „Ochsentour“ durch eine Mitgliederpartei in vielfältiger Verantwortung absolviert hat.

Falscher Vergleich zu den „Grünen“

Während die Ende der 1970er-Jahre aufkommenden „Grünen“ sich in kleinen Schritten mühsam ins westdeutsche Parteiensystem vorarbeiteten - bei den drei Bundestagswahlen der 1980er-Jahre von 1,5 über 5,6 auf 8,3 Prozent - und erst nach 15 Jahren bei der Europawahl 1994 zweistellig wurden, schnellte die AfD nach ihrer Gründung in nur wenigen Monaten auf 4,7 Prozent bei der Bundestagswahl 2013 und auf zweistellige Ergebnisse bei den Landtagswahlen 2014 empor. In Sachsen-Anhalt wurde sie im März 2016 auf Anhieb zweitstärkste Fraktion, womit es angesichts der vergleichsweise geringen Mitgliederzahl nie eine höhere Chance gab, als Parteimitglied mit einem Parlamentssitz ausgestattet zu werden. Die Eroberung der politischen Bühne durch die bundesweit fast durchgehend über zehn Prozent liegende AfD erfolgte insofern „geradezu handstreichartig“, stellt Paul Nolte fest:

„Was die Dramatik der Entwicklung angeht, muss man weiter zurückblicken als in die 80er-Jahre, nämlich in die Weimarer Republik der 20er- und frühen 30er-Jahre. Völlig unabhängig vom Programm, das eine Partei vertritt, irritiert es einen Historiker, wenn eine neue Formation aus dem Stand 24 Prozent der Stimmen erobert, wie die AfD in Sachsen-Anhalt im März. Darin drückt sich eine quasi-revolutionäre Unruhe aus.“13

Nicht nur hinsichtlich der Schnelligkeit ihres flächendeckenden Durchbruchs ist die AfD im Parteiensystem der Bundesrepublik ein Novum. Auch ideologisch ist eine in erheblichen Teilen völkisch-nationalistische bis offen rassistische, die parlamentarische Demokratie mit Diktaturvergleichen diffamierende politische Gruppierung, in der Verschwörungstheorien, Widerstandspathos, Ressentiment und Gewaltverharmlosung wabern, von anderem Kaliber als die Grünen es je waren, selbst wenn man deren linksradikale Einsprengsel und sexualpolitische Entgleisungen der Frühzeit beachtet. Im Kern war und ist die Ökopartei links der Mitte trotz gelegentlicher sektoraler Bevormundungstendenzen gesellschaftspolitisch der liberalen Denktradition zuzurechnen, die das Individuum, seine Würde und Rechte in den Mittelpunkt der Staatszwecke stellt.

„Starke Tendenzen, die Systemfrage zu stellen“

Die AfD marginalisierte ihre liberal-konservativen Anteile mit der Abwahl ihres Gründungsvorsitzenden Bernd Lucke auf dem Essener Parteitag im Juli 2015 und dem folgenden Austritt von etwa 2000 Mitgliedern - jedem Fünften. Als Gründe für seinen eigenen Austritt nannte Lucke die Zunahme islam- und ausländerfeindlicher Positionen, eine „antiwestliche, dezidiert prorussische außen- und sicherheitspolitische Orientierung“ sowie starke Tendenzen, „bezüglich unserer parlamentarischen Demokratie die ‚Systemfrage‘ zu stellen“; er habe die Menge der Mitglieder unterschätzt, „die die AfD zu einer Protest- und Wutbürgerpartei umgestalten wollen“14.
Schon die rechtspopulistische Rede von den „Systemparteien“ weist darauf hin, dass man sich nicht als Teil dieses Systems betrachtet, sondern als Systemopposition. Ebenso die Behauptung des AfD-Grundsatzprogramms, unsere Verfassungswirklichkeit sei gekennzeichnet durch einen „Bruch von Recht und Gesetz“, eine „Zerstörung des Rechtsstaates“ und „illegitime“ Usurpation der Macht durch ein „politisches Kartell“ als „heimlicher Souverän“, der „die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat“ - eine maßlose Tirade, die dem Bundesverfassungsgericht als einzig legitimierter Instanz zur Feststellung so gravierender Rechtsverstöße die Anerkennung faktisch verweigert. Dies passt zum Angriff der (durch nur 18 Prozent der wahlberechtigten Polen an die Macht gelangten) rechtskonservativen PiS auf das polnische Verfassungsgericht.
Das ebenfalls aus der AfD ausgetretene Bundesvorstandsmitglied Hans-Olaf Henkel beklagte einen „scharfen Rechtskurs“ sowie „Pöbelei, Protest und das Verbreiten von Vorurteilen“ bei der AfD-Mehrheit; man habe „ein Monster geboren“15. Trotzdem hatte die Partei schon im November 2015 ihren Mitgliederverlust wieder ausgeglichen. Sie wächst gegen den Trend und trotz mancherlei Querelen und Skandale weiter, auf inzwischen mehr als 20 000 Mitglieder.
Für Luckes und Henkels Diagnose sprechen die im ersten Quartal 2016 erhobenen Befunde der neuesten „Leipziger Mitte-Studie“ (2016) über „autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland“16. Über manche Indikatoraussagen der durch eher linke politische Stiftungen finanzierten Untersuchung lässt sich trefflich streiten17. Doch die meisten Aussagen haben in Inhalt und/oder Tonfall durchaus Indikatorcharakter für radikal rechte Haltungen, auch wenn sie nicht zwingend als rechtsextrem verstanden werden müssen: „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“, „Das oberste Ziel deutscher Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht“ (für Chauvinismus); „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“, „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ (für Ausländerfeindlichkeit); „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“, „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur); „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“, „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen“ (für Antisemitismus).

Nicht bloß eine „konservativere CDU“

Nach diesen (und weiteren) Kriterien zeigen bekennende AfD-Wähler etwa dreimal so oft wie die Gesamtbevölkerung Ausländerfeindlichkeit (53 zu 20 %), Chauvinismus (48 zu 17 %), Diktaturneigungen (18 zu 5 %), Antisemitismus (17 zu 5 %), Sozialdarwinismus (8 zu 3 %) und Nationalsozialismus-Verharmlosung (8 zu 2 %). Noch deutlicher sticht die Wählerschaft der AfD von der aller anderen parlamentarischen Parteien ab; von CDU/CSU-Wählern übrigens keineswegs weniger als von SPD-Wählern - ein erster Hinweis darauf, dass wir es mitnichten bloß mit einer konservativeren CDU oder der „CDU der 50er Jahre“ zu tun haben18. Nur jedes zehnte AfD-Mitglied war früher in der CDU. Inhaltlich fasst Jost Kaiser die wesentlichen Differenzen zusammen:

„Die CDU gründete sich programmatisch gerade nicht auf den Trümmern des diskreditierten deutschen Konservativismus, sie stellte eine Volkspartei ‚neuen Typs‘ dar: ultrapragmatisch, programmatisch verortet in der nun nicht unbedingt als konservativ einzuordnenden katholischen Soziallehre“ und mehr europäisch als national gesinnt; selbst „die Strauß- Dregger-Rechten stellten etwas völlig Neues dar: Ihr Konservativismus war, eine Neuheit in der deutschen Geschichte, amerikanophil“; insofern könnte es durchaus sein, „dass man zu Angela Merkel sagen muss: Mehr Konservativismus alter bundesrepublikanischer Provenienz, mehr CDU geht eigentlich nicht.“19

Von allen durch die Leipziger Studie als rechtsextrem Identifizierten bekannten sich 35 Prozent zur AfD - mehr als zu allen anderen parlamentarischen Parteien zusammen - und 26 Prozent als Nichtwähler. Unter denjenigen, die den Zielen von „Pegida“ besonders zugeneigt sind, ist die AfD die begehrteste Partei. Sie wurde vom nordrhein-westfälischen AfD-Landesvorsitzenden Marcus Pretzell auf dem Essener Parteitag sogar als „Pegida-Partei“20 bezeichnet; Frauke Petry betonte „inhaltliche Schnittmengen“21 mit Pegida, Alexander Gauland sah in den selbsternannten Abendlandrettern „natürliche Verbündete“22. Mehrmals kam es zu Auftritten von AfD-Funktionären bei Pegida-Demonstrationen; der sachsen-anhaltinische Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider schlug dabei im Mai 2016 in Dresden sogar den Pegida-Anführer Lutz Bachmann, einen laut Medienberichten unter anderem wegen Körperverletzung, Diebstahl, Einbruch, Drogenhandel und Volksverhetzung Vorbestraften, für das Bundesverdienstkreuz vor.
Ebenso aussagekräftig sind trotz offizieller Abgrenzungsbeschlüsse Kontakte von AfD-Vertretern oder Mitarbeitern zu rechtsextremen Parteien und Organisationen - etwa der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ zur „Identitären Bewegung“23 - und das nur knappe Votum des Bundesparteitags für den Vorstandsantrag, den saarländischen Landesverband solcher Kontakte wegen aufzulösen. Ebenso aussagekräftig sind die Niederlagen des AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen in seiner Stuttgarter Landtagsfraktion in der Frage des Ausschlusses des durch antisemitische Schriften hervorgetretenen Abgeordneten Wolfgang Gedeon.
Die AfD-Spitze mag sich noch so mühen und winden - immer wieder zieht die Partei rechtsradikale Kräfte an, derer sie sich, soweit sie es überhaupt will, schwer zu entledigen vermag, auch weil die Parteirechte die Schiedsgerichte infiltrierte und in Björn Höcke, André Poggenburg und Alexander Gauland erfolgreiche Wahlkämpfer vorzuweisen hat. Zudem kann man fragen, ob die als „gemäßigt“ bezeichneten Teile der Partei dies wirklich sind. Meuthen sprach beim Bundesparteitag vom „links-rotgrün versifften 68er Deutschland“24. Solche Parolen wären bei dem katholischen Volkswirtschaftsprofessor früher schwerlich vorstellbar gewesen.

Radikalisierung in medialen Filterblasen

Im Vergleich zu 2014 ist die Radikalisierung des AfD-Anhangs besonders in den Kategorien Chauvinismus (+ 19 %), Befürwortung einer Diktatur (+ 10 %) und Sozialdarwinismus (+ 6 %) ersichtlich, und zwar ohne dass die Zustimmung zu diesen Haltungen in der Gesamtbevölkerung signifikant gewachsen wäre. Es scheint sich eine Art Polit-Großsekte am rechten Rand der Gesellschaft gebildet zu haben, die anders als die anderen „tickt“ und den Namen „Alternative für Deutschland“ tatsächlich verdient: im Sinne eines radikalen Gegenentwurfs zu dem, was bislang als „Grundkonsens“ galt und heute von rechts her als „Mainstream“ verächtlich gemacht wird. Man kann insofern eine regelrechte „Sezession“ von der Bundesrepublik konstatieren, die ihren bizarrsten Ausdruck in der sektiererischen „Reichsbürger“- Bewegung fand25.
Medial sichtbar ist sie im - gegen den Trend - starken Auflagenzuwachs von Publikationen der Neuen Rechten: Dieter Steins Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (inoffizielle AfD-Parteizeitung), Götz Kubitscheks „Sezession“ und Jürgen Elsässers „Compact-Magazin“. Als eine Sogwirkung von deren Aufwind könnte auch der auffällige Rechtsruck des „Cicero“ zu erklären sein26. Allzu gern möchten manche Medienmacher ein Stück vom aufquellenden Kuchen neurechten Denkens für sich abschneiden. Zudem haben Journalisten ihre Nase im Wind des Wandels und sind gerade in Zeiten sinkender Auflagen und Einschaltquoten erpicht darauf, nicht abseits zu stehen, sondern Avantgarde oder zumindest „Volksversteher“ zu sein.
Da dies noch mehr für Parteienvertreter gilt, würde die AfD nicht erst dann wirkmächtig, wenn sie als Koalitionspartner an politischer Gestaltungsmacht partizipierte. Sie wird es schon jetzt, indem sie, wie jüngst bei Mecklenburg-Vorpommerns wahlkämpfendem CDU-Innenminister27, ethische Standards und Handlungsoptionen anderer Parteien verändert und das soziale und politische „Klima“ vergiftet durch das Schüren von Unzufriedenheit, Ressentiments gegenüber Minderheiten und Verdächtigungen der politischen Eliten. Die Annahme, eine zehn- bis 15-prozentige Daueropposition könne in demokratischen Systemen kaum etwas bewirken, ist auch deshalb falsch, weil Anhänger hoch motivierter, fanatisierter Minderheiten im Vergleich zur kognitiv moderaten, aber meist auch habituell „lauen“ Mehrheit ein Vielfaches an Zeit, Geld und „Herzblut“ zu investieren bereit sind. Diese strukturelle Überlegenheit der Radikalen wird nur durch ihre höhere Neigung zum erbitterten internen Zwist konterkariert.

Ursachen der rechtskonservativen Sezession

Die Sezession eines Teils der Konservativen ist nicht nur eine Reaktion auf die Zumutungen und jüngsten Krisen der Globalisierung. Viel mehr und bisweilen ausdrücklich ist sie eine Reaktion auf die jahrzehntelange kulturelle Hegemonie einer in Medien, Bildungswesen, Geisteswissenschaften, Kulturszene und EKD majoritären Linken sowie auf den Tribut, den die „bürgerlichen“ Parteien diesem „Zeitgeist“ zollten. Insofern bricht sich nun bei AfD-Anhängern älterer und mittlerer Jahrgänge ein lange aufgestauter Leidensdruck Bahn, der als solcher von Linken und Linksliberalen kaum wahrgenommen wurde.
Am ehesten nachvollziehbar ist er für selbst Konservative, die nicht Maß und Mitte verloren haben. Sie stehen dennoch staunend vor langjährigen Weggefährten, die abdriften und verbal regelrecht ausflippen: Bislang brave katholische Bundesbeamte nennen ihre Regierung plötzlich „Merkelregime“; katholische Journalisten, die sich vor CDU-Granden durch ihr Parteibuch als Treueste der Treuen ausweisen, lassen ihren Internet-Fanclub wissen: „Früher habe ich oft ,kleinere Übel‘ gewählt. Das mache ich heute nicht mehr.“ Das Lebensgefühl dieses Typus ist: „Schnauze voll!“, „Der Wind hat gedreht“, „Jetzt sprengen wir die Ketten“. Derweil finden sich Liberal- Konservative, die früher nicht minder unter dem Linksdrall von 68er-Lehrern, ökopazifistischen Pastoren und öffentlich-rechtlichen Sendern gelitten haben, an der Seite von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen wieder. Gemeinsam freut man sich, dass wenigstens die „Heute-Show“ dem fanatischen Polit-Gesinnungsdilettantismus von AfD und Co. klare Kante zeigt, statt den angeblich nur „besorgten Bürgern“ leisetreterisch oder quasi therapeutisch zu begegnen.
Insofern ist die „Weimarer Koalition“ wieder da, die sich demagogischer linker und rechter Systemkritik und Realitätsverweigerung erwehren musste - wobei heute die Linkspartei mehr für die (ökonomische) Wirklichkeitsverweigerung, die AfD für Systemkritik steht. Das heißt auch: „Die Linke“ ist für die Regierung unseres demokratischen Rechtsstaats (jedenfalls auf Bundesebene) „nur“ unbrauchbar, die Rechte für seinen Bestand gefährlich. „Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel, dieser Feind steht rechts“, rief Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrumspartei) im Juni 1922 nach der Ermordung Außenminister Walter Rathenaus, auf die rechte Seite des Reichstagsplenums schauend. Von den Deutschnationalen erwarte er „nicht nur eine Verurteilung des Mordes an sich“, sondern „einen Schnitt zu machen“ und „die in Ihren eignen Reihen zu einer gewissen Ordnung zu rufen, die an der Entwicklung einer Mordatmosphäre in Deutschland zweifellos persönlich Schuld tragen“.
Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat den von einem Rechtsradikalen verübten Mordanschlag knapp überlebt. Ob er angesichts der Hassrhetorik in unserem Land der Letzte sein wird, ist - auch nach dem mörderischen Amoklauf eines ausländerfeindlichen AfD-Verehrers im Juli 2016 in München28 - eine nicht minder bange Frage als die nach weiteren islamistischen Terroranschlägen.
Die rechtskonservative Sezession ist auch eine Folge der „Demokratisierung“ politischer Information und Meinungsbildung durch die Innovation des Internet und darauf aufbauend der sozialen Netzwerke. Auf Facebook ist die AfD „eine Macht. Die Partei verfügt über eine regelrechte Armee von Unterstützern und über Reichweiten, von denen SPD und Union nur träumen können. Und das weiß sie gekonnt einzusetzen“ 29. Geistig egalisierende, moralisch desensibilisierende und die Öffentlichkeit fragmentierende Effekte der Online-Kommunikation sind offenkundig. Wo der Einzelne sich wie nie zuvor in „Filterblasen“ des Netzes mit Gleichgesinnten zusammentun und, so Kardinal Reinhard Marx, „sich in Szenen gegenseitig bestätigen und hochjubeln“ kann, ohne sich argumentativ mit Andersdenkenden messen und Publikationsstandards journalistischer „Gatekeeper“ erfüllen zu müssen, herrscht statt Schwarmintelligenz leicht Schwarmborniertheit und Schwarmaggressivität. So könne „Verbloggung“ eine „Verblödung“ fördern, sagte Marx in der Abschlusspressekonferenz der Herbstvollversammlung 2015 der deutschen Bischöfe - und wurde prompt in den einschlägigen Nischen des Online- Katholizismus wütend gescholten.

Resistenz und Resonanz unter Christen

Die Anziehungskraft der AfD macht auch vor kirchlichen Milieus nicht halt: Laut einer Allensbacher Auszählung30 der „Sonntagsfrage“ im Juni 2016 gaben von 912 Wahlberechtigten mit erklärter Zweitstimmen-Wahlabsicht zwar „nur“ sechs Prozent der Protestanten und zehn Prozent der Katholiken die AfD als bevorzugte Partei an, weit weniger als die Konfessionslosen mit 18 Prozent. Doch kann die relative Resistenz des Kirchenvolks angesichts des ethischen Anspruchs des Christentums nicht wirklich zufrieden stellen, zumal nach der - zumindest beim Thema Flüchtlinge - klaren Positionierung der Bischöfe gegen den Rechtspopulismus.
Dass kirchennahe Katholiken (mindestens „ab und zu“ im Gottesdienst) seltener als kirchenferne die AfD favorisieren (8 zu 12 %), kirchennahe Protestanten aber häufiger als kirchenferne (9 zu 4 %), dürfte durch die Evangelikalen zu erklären sein, die als Minderheit von nur rund fünf Prozent aller Protestanten ein Drittel der evangelischen Gottesdienstbesucher stellen. Sie sind insgesamt - trotz einiger „Linksevangelikaler“ - konservativer als die Landeskirchen und haben insbesondere in der Religions- und Familienpolitik Schnittmengen mit der AfD. Hinzu kommt ein oft emotionalerer, weniger differenzierter Diskurs, der auch dem Habitus politischer Populisten eigen ist. Bezeichnenderweise wollten weiße Evangelikale in den USA im Juli 2016 laut „Pew Research Center“ zu 78 Prozent Donald Trump wählen. Schon lange gilt Amerikas religiöse Rechte als „das stärkste und mobilste Bataillon der konservativen Revolution“31.
Der unter den Kirchenfernen hingegen weit größere Zuspruch von Katholiken zur AfD ist durch ein katholisches Ordnungs- und Autoritätsdenken erklärbar, das sich bei religiöser Sinnentleerung als kognitive Struktur für Homogenitäts- und Sicherheitsvorstellungen der politischen Rechten besser eignet als der eher individualistisch ausgerichtete Protestantismus. Schon eine Auszählung der westdeutschen „Republikaner“-Anhänger 1992 (laut kumuliertem Datensatz des „Politbarometers“) ergab ein ähnliches Bild: Während kirchennahe Katholiken bis zur Kirchgangsfrequenz „ab und zu“ etwas weniger als kirchennahe Protestanten den Rechtspopulisten zuneigten („jeden Sonntag“: 1,8 zu 2,3 %), lag deren Sympathisantenanteil bei kirchenfernen Katholiken („einmal im Jahr“/„seltener“ /„nie“) höher als bei den kirchenfernen Protestanten (6 zu 4,5 %).

Die antiliberale Versuchung der Kirche

An historischen Vorläufern für ideologische Entgleisungen von Christen nach rechts mangelt es in beiden Konfessionen nicht. Dabei geht es gar nicht nur (wie gern unterstellt und empört zurückgewiesen wird) um „Nazi-Vergleiche“, sondern um die dezidiert antiliberalen, gegen die pluralistische Demokratie gerichteten Ideen der „Konservativen Revolution“ oder die noch älteren eines autoritären kirchlichen Staatsdenkens nach der Devise „Keine Freiheit für den Irrtum!“32 Der ethische Gehalt der staatlichen Ordnung wird hierbei allein an seinem „Output“, an „katholischen Gesetzen“ oder, in eher protestantischer Diktion, am Einklang mit der „Königsherrschaft Christi“ gemessen. Für eine differenziertere Sozialverkündigung im Sinne der „richtigen Autonomie der Kultursachbereiche“ (GS 36) und einer christlichen Anthropologie der Demokratie bleibt auch fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum und dreißig Jahre nach der „Demokratie-Denkschrift“ der EKD noch viel Bildungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten.
Die angloamerikanische Politikwissenschaft unterscheidet drei Dimensionen von Politik: politics, policy und polity. Sie stehen, kurz gesagt, für den Prozess, die Inhalte und die Form des Politischen. Solange die polity-Dimension, die System- und Regelakzeptanz von der AfD, nicht klar und durchgehend im Sinne unseres demokratischrechtsstaatlichen Grundkonsenses beantwortet ist, können ihre teilweise auch für Christen verlockenden policy-Angebote - etwa zum Schutz vorgeburtlichen Lebens oder zum Leitbild der traditionellen Familie - schwerlich als Wahlargumente für sie geltend gemacht werden. Und ohne eine Fundamentalkonversion der AfD zur Menschenwürde als Dreh- und Angelpunkt der Verfassungsordnung wird man in jeder vordergründig richtigen policy immer einen Pferdefuß finden: „Lebensschützer“ bringen plötzlich den Schießbefehl an der Grenze ins Gespräch oder sehen in Abtreibungen vor allem ein Demografie-Problem; Law-and-order-Vertreter lassen ihre Klientel leichtfertig mit dem Widerstandsrecht hantieren.
Christen können „unmöglich schweigen“ (Apg 4,20) zu einem wieder um sich greifenden Denken, das nicht die gottgegebene Würde jeder einzelnen Person ins Zentrum stellt, sondern das Pathos der „Volksgemeinschaft“ oder das Kalkül des Wohlstandsegoismus. Indem sich die Kirche der rechten Re-Ideologisierung durch falsche Propheten „christlicher Kultur“ entgegenstellt, leistet sie nicht nur Wiedergutmachung für historische Sünden der Kumpanei mit faschistoiden Systemen, sondern kann auch ihr Menschenbild und ihre Sozialethik klarer herausarbeiten, deren Kern nach der Überzeugung eines Konrad Adenauer und Papst Johannes Pauls II. die Freiheit ist33.
Die neuen politischen Fronten bieten die Chance, den traditionellen Soupçon bei Linken und Liberalen gegen eine im Zweifel immer rechts stehende Kirche weiter abzubauen und Religion nicht nur als schmückendes Beiwerk eines bürgerlichen Konservativismus erlebbar zu machen. Papst Franziskus hat für diese notwendige Klarstellung Meilensteine gesetzt, und es gereicht den deutschen Bischöfen zur Ehre, dass sie in den derzeitigen aufgeregten Debatten menschenrechtlich Kurs gehalten und eine Lanze für den humanitären Auftrag Europas gebrochen haben. Allerdings fehlt noch ein klares kirchliches Wort zur Verteidigung der liberalen Demokratie gegen das autoritäre Rollback, das in den orthodoxen und katholischen Kirchen Osteuropas viel Unterstützung findet, wie besonders das russische und das polnische Beispiel zeigen.

Dialog und Distanzierung gemäß der „Höffner-Formel“

Mit „Dialogverweigerung“ darf eine klare Distanzierung gegenüber der AfD nicht verwechselt werden. Wer das Gespräch mit Vertretern der Kirche sucht, der soll und wird es bekommen. Katholische und evangelische Büros im Bund und in den Ländern sind geeignete Ansprechpartner. Viel hängt davon ab, ob und wie eine parlamentarisch gewordene AfD sich „zurechtrüttelt“: Kann sie sich von rechtsradikalen Hetzern, populistischen Demagogen und reaktionären Ideologen trennen und eine respektable nationalkonservative Partei werden, oder wird sich der Sog der Radikalisierung als stärker erweisen? Kardinal Joseph Höffner (1906-1987) betonte, nicht die Kirche bestimme ihre Nähe zu einer Partei, sondern:

„Die politischen Parteien bestimmen selber durch Programm und Praxis ihre Nähe oder Distanz zur Kirche.“34

Nur: Wie erkenne ich Nähe und Distanz? Das Papier der Parteiprogramme - auch das gegenüber ihrem sonstigen Diskurs vergleichsweise gemäßigte der AfD - ist geduldig, die Praxis für die meisten Bürger nicht leicht zu überschauen. Da läge es für Christen nahe, sich vom sensus fidelium, dem Glaubenssinn des Gottesvolks, beraten zu lassen. Säkular gesprochen: von der „Schwarmintelligenz“ derer, die ihr Leben an Jesus Christus ausrichten. Dass die demoskopische Sonntagsfrage bei Katholiken mit der christlichen Sonntagsfrage: „Zur Kirche gehen oder nicht?“ korrespondiert und hier die „Abstimmung mit den Füßen“ gegen die AfD spricht, wirft die Frage auf, warum ausgerechnet unter Wortführern eines betont konservativen, „romtreuen“ Katholizismus - „papsttreu“ nennt man sich heute weniger - nicht selten verklausulierte oder offene Parteinahmen für die AfD zu beobachten sind. Steht die selbst gefühlte katholische Bekennerelite damit doch näher beim heidnischen Deutschland und den kirchlich Randständigen als bei den übrigen regelmäßig praktizierenden Glaubensbrüdern? Sind diese Katholiken, die AfD-kritische Bischöfe als „parteipolitische Gouvernanten“35 verhöhnen oder des „Populismus“36 verdächtigen, vielleicht verweltlichter als sie selbst ahnen?

Rechtspopulismus-Affinität der „narzisstischen Kirche“

Dafür spricht, was Papst Franziskus in „Evangelii gaudium“ (EG 93-97) zur „spirituellen Weltlichkeit“ sagt, „die sich hinter dem Anschein der Religiosität und sogar der Liebe zur Kirche verbirgt“: Dieser Katholikentypus, der „einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu“ ist, „die Energien im Kontrollieren verbraucht“ und „das Leben der Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger“ verwandeln will, suche „den eigenen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi“. Er sei „in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen“. „Bestimmte Normen einhaltend“, fühle er sich „den anderen überlegen“ und pflege „eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein“. „Da ist kein Eifer mehr für das Evangelium, sondern der unechte Genuss einer egozentrischen Selbstgefälligkeit.“
Die Brutstätten eines katholisch drapierten Rechtspopulismus sind im Lichte dieser päpstlichen Gardinenpredigt offenbar einer „Pathologie der Religion“ erlegen. Dass Vertreter dieses kleinen Katholikensegments alle anderen für Geisterfahrer halten, passt zu Franziskus’ Diagnose der Egozentrik. Die den Rechtspopulismus inspirierenden Neuen Rechten tanzen ja auch um das Goldene Kalb des „Eigenen“: die eigene Nation, die eigene „Kultur“, den eigenen Wohlstand, die eigene Familienform. Schon begrifflich sollte der Kult des „Eigenen“ aber einen Christen zurückschrecken lassen, muss ein Jünger Jesu doch immer auch vom Anderen her denken. Empathie in Form von Einfühlung, Mitleid und Hilfsbereitschaft ist die DNA des Christentums.
Das zweite große Erkennungsmerkmal der Christen neben der Nächstenliebe ist die Gelassenheit: „Geborgenheit im Letzten gibt Gelassenheit im Vorletzten“ (Romano Guardini). Den Rechtspopulismus zeichnet auch hier das Gegenteil aus: Daueralarmismus, maßlose Übertreibungen, Schüren von Ängsten, Wut. Dazu passen die Verbalexzesse der religiösen Rechten, von der angeblichen „Zerstörung“ der Familie durch die Weltverschwörung der „Homo-Lobby“ und der „Genderisten“ über die „Abschaffung“ Deutschlands durch die Aufnahme der Flüchtlinge bis zur chronischen Selbstviktimisierung als „Verleumdete“ oder gar „Verfolgte“.

Die notwendige Scheidung der Geister

Will man der AfD-Debatte als Christ etwas Gutes abgewinnen, dann gehört dazu sicher die Scheidung der Geister in der Kirche. Nur ein schlechter Baum bringt schlechte Früchte hervor. Einer Art Glauben, die ideell und habituell in die Nähe der Petrys, Storchs, Gaulands, Höckes und Putins dieser Welt führt, kann es nur an Wahrheit fehlen. Er ist nicht mehr als „ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle“ (1 Kor 13,1). Er gibt ein Antizeugnis. Er bestätigt - horribile dictu - jene, die von der Religion als bloßer Projektion oder gar mit Richard Dawkins als „Gotteswahn“ reden.
Wie kann ein Christ mit einer Partei sympathisieren, deren Thüringer Landeschef höhnte: „Der gläubige Christ weiß: Jesus sitzt wahrscheinlich nicht zufällig zur Rechten Gottes“37 und der Angela Merkel „in der Zwangsjacke“ aus dem Kanzleramt abgeführt sehen will? Beatrix von Storch, als Protestantin christliches Aushängeschild der Partei mit Verbindungen zur rechtskatholischen Szene, fantasierte bei Anne Will (24. 1. 2016) von einer Flucht Merkels nach Chile „aus Sicherheitsgründen“. Alexander Gauland erklärte in der „ZEIT“-Beilage „Christ & Welt“ (26. 5. 2016), die AfD sei „keine christliche Partei“, er „bekämpfe das Programm der Kirchen“, wenn die Flüchtlingspolitik dazu gehöre. AfD-Funktionäre beschimpfen Bischöfe in seit 1945 nicht gekannter Schärfe als „gefährliches Irrlicht“ und „verlogene“, „verrottete Funktionsträger“38, als „Förderer“ des Islam und Geschäftemacher vom „Asylindustrieverband“, als Manipulatoren und „Beamte des Staates“.
Dass es inzwischen etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland gibt, die einer Partei mit solchen Führungsfiguren ihre Stimme geben würden, ist beunruhigend genug. Dass nicht wenige angeblich „rechtgläubige“ Christen darunter sind, ist beschämend. Nach dem Einzug der AfD in weitere Landesparlamente und in den Bundestag wird man wohl auch kirchlich bekanntere Gesichter in deren Berater-, Mitarbeiter- und Pressestäben finden, zuerst die anderswo beruflich oder politisch Gescheiterten. Mancher schürt jetzt schon in Blättern der Neuen Rechten ungehemmt gegen „medienaffine und applausgeneigte Bischöfe“, die „gerne das sagen, was hoffentlich gut ankommt“39.
Jahrelang haben Bischöfe und Vertreter des ZdK die Umtriebe dieser „Rechtsausleger“40 im katholischen Milieu als irrelevante Randerscheinung abgetan und ignoriert. In der jetzigen nationalen und internationalen politischen Lage wäre dies grob fahrlässig. Die Brückenköpfe der Neuen Rechten in der Kirche verfälschen und verdunkeln das christliche Zeugnis, führen der AfD Sympathisanten und Wähler zu, tragen zur Diskriminierung von Minderheiten bei, vergiften das Klima in der Kirche, schaden einzelnen Personen durch Mobbing, Rufmord und Erschütterung ihres Glaubens und liefern antikirchlichen Laizisten Argumente im Kampf gegen das kooperative Verhältnis von Staat und Kirche. Dieses Schadensspektrum sollte als Handlungsherausforderung eigentlich ausreichen.
In erster Linie ist eine Informations- und Bildungsanstrengung vonnöten: in katholischen Akademien und Fakultäten, in der Erwachsenenbildung und Jugendarbeit, in der katholischen Journalistenschule und im Cusanuswerk, in Pfarreien und Medien. Geistige Zusammenhänge und personelle Netzwerke sind transparent zu machen, einschließlich der Erinnerung an frühere Irrlichtereien des Rechtskatholizismus, insbesondere in der Weimarer Zeit. Eine hinreichend klare Abgrenzung katholischer Bischöfe, Verbände und Publizisten, auch durch Zurechtweisungen im Forum internum und externum, verlangt konkret, unkritische Auftritte bei einschlägigen Veranstaltungen der rechtskatholischen Szene zu vermeiden, keine Gelder dafür zur Verfügung zu stellen und stattdessen Gegengewichte zu unterstützen. Streiter gegen die Versektung und Politisierung am rechten Kirchenrand müssen ermutigt, Aussteiger der Szene willkommen geheißen werden. Moderat konservative, fromme Katholiken dürfen von Vereinen und Medien des liberalen Katholizismus nicht ausgegrenzt werden. Mit öffentlich-rechtlichen Sendern sollte die Talkshow-Einladungspolitik besprochen werden: Fast die gesamte rechtskatholische Heldenriege bekam dort schon ein Podium - vom unkundigen Publikum wahrgenommen als Repräsentanten der Kirche.
Geistig gilt es immer wieder, die Imago-Dei-Lehre, die „Menschenmajestät“ (Jan Ross) und den Zusammenhang von Gottesdienst und Menschendienst zu betonen, sozialethisch eine „Theologie der Demokratie“ zu entwickeln, die dem autoritären Modell entgegen gehalten werden kann. Wo unser Gemeinwesen als „Meinungsdiktatur“ verleumdet wird, müssen auch Kirchenvertreter klar widersprechen und differenziert über die Normalität von „Medientenor“ und „Schweigespirale“ in freien Gesellschaften aufklären. Ein freieres System, auch für die Kirche, wird es in Deutschland nicht geben. Verloren ist es vielleicht schneller, als wir ahnen.

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