Bilder bleiben hängen, nicht Zahlen oder Statistiken. Sie graben sich ins Gedächtnis ein, besetzen die Herzen. Bilder von Gesichtern prägen sich ein: Es geht um konkrete Menschen, nicht um abstrakte Ideen. Letztlich geht es um Menschlichkeit. Wieviel davon können, wieviel wollen wir uns „leisten“? Anno 2016 kann man nicht von Gottes Menschwerdung vor über 2000 Jahren reden, ohne auf die Flüchtlingstragödie in Europa zu schauen. Kommt jetzt das übliche Theologenkauderwelsch, kirchliche Weihnachtsrhetorik - fern jeder Realpolitik? Wie das auch Papst Franziskus, Kardinal Reinhard Marx als Vorsitzendem der Deutschen Bischofskonferenz oder Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands, so oder so vorgehalten wird - und damit allen, die sich ihre humanitären Appelle zu eigen machen?
Erinnert werden muss daran: Menschwerdung Gottes war konkret, sie spielte sich in einer bestimmten Zeit in einem konkreten Raum ab. Inkarnation erfolgte in Palästina, am Ostrand des Römischen Reiches. Jesus war Jude - das wurde von 1933 bis 1945 von vielen verdrängt, auch von Theologen, die den Rabbi aus Nazareth problemlos zu arisieren verstanden. Was folgt daraus für die, die sich auf das Kind von Bethlehem berufen? Weihnachten feiern als idyllischen Rückblick auf eine harmlose Krippengeschichte - das geht fast nicht (mehr). Das Schicksal Jesu selber hat einen Migrationshintergrund: unterwegs geboren, unter unwirtlichen Umständen, so wie heute Kinder unterwegs, auf der Flucht - auf dem Mittelmeer, in Flüchtlingslagern, vor einem Grenzzaun - geboren werden. Frommes Geschwätz?
Die Geburt Jesu hieß, theologisch gesprochen und im Sinne ignatianischer Exerzitien ausgedeutet, nichts anderes als das, was die deutsche Kanzlerin im Sommer 2015 für Deutschland festgestellt und im Sommer 2016 wiederholt hat - trotz heftiger Proteste, auch aus der eigenen Partei wie aus der Schwesterpartei, die bekanntlich beide ein C in ihrem Namen führen: „Wir schaffen das!“ Angela Merkel wurde dafür als Pastorentochter verspottet. Bedeutet Menschwerdung Gottes aus theologischer Sicht nicht: Wir schaffen das - das Projekt Menschheit, trotz aller Bosheit, trotz Gewalt, Krieg, Verfolgung, Not, Elend? Weihnachten ohne das „Wagnis der Verwundbarkeit“ (Hildegund Keul) - das funktioniert irgendwie nicht.
Bilder bleiben hängen. Wer erinnert sich noch an den Namen des syrischen Jungen, der wie ein Stück Schwemmholz an die Küste von Bodrum angespült und von einem Polizisten weggetragen wurde? Aylan Kurdi hieß das ertrunkene Kind - ein Bild, das weltweit Entsetzen auslöste. Unter die Haut gefahren ist vielen auch der Anblick des fünfjährigen Omran Daqneesh, der in Aleppo nach einem Luftangriff blutverschmiert und verstaubt in einen Krankenwagen gesetzt wurde, völlig benommen, mit leerem Blick. Tags darauf ist sein zehnjähriger Bruder verstorben. Bilder: eine „Waffe des Humanismus“ (Malin Schulz)?
Die Stippvisite von Papst Franziskus auf der Insel Lesbos im April 2016 liegt Monate zurück. Ohne politische Aussagen zu machen, war diese Reise sehr politisch, und der Bischof von Rom überraschte die Weltöffentlichkeit einmal mehr, indem er in dem Airbus, der ihn nach Rom zurückbrachte, drei Flüchtlingsfamilien mitnahm. In einer Ansprache sagte er, man dürfe „nie vergessen, dass die Migranten an erster Stelle nicht Nummern, sondern Personen sind, Gesichter, Namen und Geschichten. Europa ist die Heimat der Menschenrechte, und wer auch immer seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, müsste das spüren können.“
Bald setzen die Weihnachtsansprachen ein: Gott wurde Mensch … Es geht nicht um Rhetorik oder einen Jargon der Betroffenheit. Menschwerdung ist konkret. Nicht alle werden der Analyse des Papstes folgen, der von der Flüchtlingskrise als der größten Krise in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs sprach. Die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ war in aller Munde, seitdem er auf Lampedusa den Skandal Tausender ertrunkener Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ansprach. Ähnliche Worte bei seinem Besuch in Straßburg (November 2014), wo er vor dem Europäischen Parlament und dem Europarat sprach, blieben wirkungslos.
Gesichter, Namen und Geschichten: Das Weihnachtsevangelium widerspricht jeder Art von Wellness-Religion. Es stört „Salonchristen“ (Papst Franziskus). Kalt, unberührt lassen kann Christen nicht, was auf dem Mittelmeer, was im griechischen Idomeni oder andernorts passiert. Ist naiv, wer an Menschlichkeit, wer an Mitgefühl, wer an Großzügigkeit, wer an pragmatische Lösungen für Schutzsuchende appelliert? Ja, vielleicht. An einer Kultur der Integration müssen alle politischen, gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Kräfte hierzulande arbeiten: „Willkommenskultur“, so der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner, der fragt, warum das Wort oft ironisierend unter Anführungszeichen gesetzt wird, ist „nichts anderes als politisch ausformulierte Nächstenliebe“. Wer ehrenamtlich Engagierten Naivität unterstellt oder Predigern den Mund verbietet, reduziert Christentum auf Spiritualität oder auf Weihnachtsliturgie mit Gratiskonzerten („Die Kirche ist für Barmherzigkeit zuständig, der Staat für Gerechtigkeit“ - so der bayerische Finanzminister Markus Söder).
Rupert Neudeck schreibt in seinem Buch „In uns allen steckt ein Flüchtling“ (2016), das durch seinen plötzlichen, postoperativen Tod zu seinem Vermächtnis geworden ist: „Mit Leidensbildern und Leidensgeschichten ist es nicht getan.“ Und bei Rafik Schami lese ich: „Ein wunderbarer Freund und Theologe erzählte mir, was ihm ein Freund schrieb: Wenn bei der Weihnachtskrippe zu Betlehem Juden, Araber, Fremde und Flüchtlinge fehlen, bleiben nur noch Ochs und Esel.“ Diese Fremden und Flüchtlinge sind heute Syrer, Afghanen oder Afrikaner. Manche sind Christen, andere nicht. Was sagt das Kind in der Krippe dazu? Es blickt überall und zu allen Zeiten in Gesichter, die von Namen und Geschichten erzählen.