Sind wir alle Flüchtlinge?Das Vermächtnis von Rupert Neudeck (1939-2016)

Ahnte er etwas? Dieses Buch wurde sein Vermächtnis, ungeplant wohl und doch ganz nach seinem Geschmack, seiner Lebensdevise – und es ist in der Tat der Schlussstein auf einem abenteuerlichen Leben geworden, das wirklich (und wirksam) für andere da war und sich verbrauchen ließ1: Am 31. Mai 2016 ist Rupert Neudeck verstorben, überraschend, die Kollegen von „Christ & Welt“ konnten in ihrer Ausgabe vom 9. Juni noch einen allerletzten Text – „Seid barmherzig“ – abdrucken, ein Vorabdruck aus dem Buch „Jenseits der Ironie“, das dann im August erschien. Der Auszug endet mit einem Appell: „Ich kann nur bitten, die alten Werke der Barmherzigkeit nicht zu vergessen, die mehr sind als ein Regierungsprogramm. Sie sind ein Menschheitsprogramm, an das sich zu halten jedem aufgegeben ist.“2

„In uns allen steckt ein Flüchtling“ – der übliche Neudeck-Jargon? Von den Utopien, den flammenden Appellen war ich nicht überrascht. Auch nicht von der Humanität, die darin beschworen wird. Aber vom Realismus. Der überraschte mich. Schon im Vorwort: „Mit Leidensbildern und Leidensgeschichten ist es nicht getan. Sie sind dennoch notwendig, um die Angst der Menschen, die auf der Flucht waren und sind, spüren zu lassen, um durch ihren Blick wenigstens in Ansätzen die Folgen eines Krieges aufzuzeigen.“ (7) Und erst recht, im fünften Abschnitt („Gelingende Integration“: 141-168), Forderungen wie: „Wir müssen uns bemühen, eine freundliche, aber bestimmte Disziplin in die Asylbewegung zu bekommen“ (142) oder dem von Rafik Schami übernommenen Zehn-Punkte- Programm „Integration aus muslimischer Sicht“: 153-155), das kompromisslos von gleichen Rechten für Frauen und Männer in den Ländern Europas spricht, vom Versagen der reichen arabischen Staaten in der Flüchtlingsfrage, von der deutschen Verfassung, die alternativlos zu gelten habe usw.

Neudeck sieht „zwei Deutschlands“: „das Deutschland, das eine große Begeisterung für humanitäre Ziele zeigt, das bereit ist, großzügig zu spenden und sofort Hand anlegt, um Flüchtlingen zu helfen – und das Deutschland der Ämter mit Bataillonen von Sachbearbeitern, die an die nächste Behörde verweisen“ (160 f.). Dass er, in einem Nachruf als „einsamer Rufer in der Wüste“3 bezeichnet, ein leidenschaftlicher, grundehrlicher Verfechter eines humanen, großzügigen Deutschlands war, steht außer Frage – und er eckte damit an. Ihm ging es um „gelingende Integration“, nicht nur um eine spontane humanitäre Hilfeleistung, auch wenn sein ganzes öffentliches Leben mit den vietnamesischen Boatpeople und der Cap Anamur erst im Februar 1979 begann, wovon das zweite Kapitel handelt (33-77).

Wie so oft ist es eine biografische Erfahrung, die den Menschen Rupert Neudeck für den Rest seines Lebens für das Thema Flüchtlinge sensiblisiert hat und die das erste Kapitel beschreibt (13-32): die eigene Flucht aus Danzig und das zufällige Überleben, weil die Mutter mit ihren vier kleinen Kindern, darunter der fünfeinhalbjährige Rupert, die Wilhelm Gustloff verpasste, jenes Luxuskreuzfahrtschiff, das von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde und Tausende Menschen in die eiskalten Fluten der Ostsee und in den Tod riss. Kaum dachte ich mir: Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben – da begegnete ich diesem Satz wörtlich, für Neudeck ein „eigenes Lebensmotto“ (20). Das Erlebte wirkte nach, Schlüsselerlebnisse wurden zum unsichtbaren Imperativ fürs spätere Leben.
Heinrich Böll, Bernard Kouchner, André Glucksmann, Alain Geismar, Claudie und Jacques Broyelle, Franz Alt kreuzten den Lebensweg im Zusammenhang mit den verschiedenen internationalen Versuchen, vietnamesische Bootsflüchtlinge aus dem Meer zu fischen. Andere reagierten anders – der malaysische Innenminister erteilte zum Beispiel einen Schießbefehl (vgl. 45). Und um „kriminelle und illegale Aktivitäten zugunsten von Flüchtlingen“ kam, wer helfen wollte, nicht herum (vgl. 51-53).

Vieles ist Rückblick, man staunt, wie lange es her ist, aber die Fragen, die sich damals stellten, gibt es auch in der jetzigen Situation, angesichts von Lampedusa und Lesbos: „Gibt es richtige und falsche Flüchtlinge? Wer ist politischer und wer wirtschaftlicher Flüchtling? Wer ist ein berechtigter Asylbewerber, wer ein ,Asylerschleicher‘?“ (56) Dass Menschen die Freiheit der Sicherheit vorziehen, dass Bürger und nicht Regierungen zu Helfern wurden und werden – das mögen Allgemeinplätze sein. Aber die Realität der konkreten Hilfeleistung schaut eben manchmal sehr banal aus – doch sie wirkt. Die Parole „Das Boot ist voll“ bekamen Flucht- und Flüchtlingshelfer schon damals, im südchinesischen Meer und in deutschen Bundesländern, die Boatpeople aufnehmen sollten, zu hören.

„Flüchtlinge gibt es überall auf der Welt“ (79-107) ist das dritte Kapitel überschrieben. An Kurden, Syrer, Palästinenser, Afghanen, Eritreer und andere Migranten aus Afrika wird erinnert, und prophezeit wird: „Noch sind die Klimaflüchtlinge nicht da, aber sie werden bald kommen.“ (107) Kein Buch wie dieses kann auskommen ohne eindringliche Fragen wie: „Warum zwingt Europa die Menschen aufs Meer und zu dieser schrecklich unmenschlichen Art der Flucht?“ (96) oder die Feststellung: „Wir müssen den Menschen eine Perspektive geben – es muss eine Möglichkeit geschaffen werden, dass auch als ,Wirtschaftsflüchtlinge‘ Abgestempelte auf legalem Wege nach Europa kommen können.“ (103)

Dass wir uns in den kommenden Jahren unausweichlich damit beschäftigen müssen, macht Kapitel 4 klar: „Die Flüchtlinge kommen“ (109-139). Dass es dabei nicht nur um spontane humanitäre Hilfe geht, dass Europa, mit den Worten von Martin Walser, „jetzt geprüft (wird) auf seine Gültigkeit als humaner Kontinent“ (122), dass die AfD, die Kölner Ereignisse der Silvesternacht 2015/16 und andere Vorkommisse Fragen nach dem Wie einer Willkommenskultur aufwerfen, liegt auf der Hand. Genauso wie, angesichts der Griechenlandkrise, des Brexit oder der Einstellungen vieler ost- und mitteleuopäischer EU-Mitgliedsstaaten, der Befund, „dass die EU noch nicht als Wertegemeinschaft existiert“ (129).

Propheten waren noch nie bequem. Rupert Neudeck war einer. Propheten neutralisiert man, indem man sie ehrt und ihnen Denkmäler baut. Rupert Neudeck ist an den Folgen einer Herzoperation gestorben. Zu früh, wie immer. Am 21. September 2016 wurde ihm im Ständehaus in Düsseldorf, zusammen mit seiner Frau Christel, von Beruf Sozialpädagogin, postum der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen – für sein humanitäres Lebenswerk. Es sagte uns, was alle Phantasten und Realisten wagen: „Wir schaffen das!“

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