Flüchtlinge und Migranten markieren einen historischen Veränderungsprozess zur internationalen Schicksalsgemeinschaft: Vermutlich sind wir noch nie mit so zwiespältigen Gefühlen in einen Jahreswechsel gegangen wie 2015/16. Die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung sind hervorragend, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen zuversichtlich. Seit vielen Jahren gab es nicht mehr so wenige Arbeitslose und so viele Beschäftigte. „Seit mehr als 20 Jahren haben die Deutschen nicht mehr so viel Geld für Essen, Wellness, Bücher und Schmuck ausgegeben wie 2015“, bilanzierte die „Süddeutsche Zeitung“ das Weihnachtsgeschäft1. In keinem anderen Land in Europa findet sich eine vergleichbare Situation; in keinem anderen Land hat die Jugend vergleichbare Zukunftsperspektiven. Die staatlichen und politischen Verhältnisse sind stabil.
Und trotzdem melden sich Unsicherheit und Zukunftsängste wie schon lange nicht mehr. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, lautet eine Standardformulierung in den Zeitungen. Die ständig wachsende Zahl von Flüchtlingen und Migranten schafft Unruhe und Unsicherheit. Dieses starke Deutschland erlebt mit dem ständigen Zustrom von Flüchtlingen und Migranten eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf die Menschen, die aus ihrer Hoffnungslosigkeit flüchten und neue Zukunftsperspektiven suchen. Das ist die Hauptursache der starken Orientierung nach Deutschland.
Ein unerwarteter Ansturm
Diese Entwicklung hat uns völlig unvorbereitet getroffen. Entsprechend ist auch weithin die Reaktion der Politik und der staatlichen Organe. Oft orientierungslos, verwirrend und entsprechend kontrovers die Debatten in der Gesellschaft und in der Politik. Politik und Staat werden weithin im aufgeregten Krisenmodus erlebt. Wenig Orientierung, wenig Ermutigung. Nur das starke freiwillige Engagement einer vorher unvorstellbar großen Zahl von Menschen und die Stärke der kommunalen Selbstverwaltung haben in den ersten Monaten die Handlungsfähigkeit des Staates erhalten.
Mit den rasch wachsenden Zahlen im Spätsommer und Herbst 2015 beginnen die Flüchtlinge und Migranten, das gesellschaftliche und das politische Klima zu verändern. Gegensätzliche Kräfte werden freigesetzt. Weltweit findet das starke Engagement der Bürgerinnen und Bürger Beachtung; ein ganz anderes Deutschland wird erlebt, ein neues Deutschlandbild, eine besondere „Willkommenskultur“.
Der Gegensatz: eine immer aggressivere Diskussion gegen diese Entwicklung, immer häufiger von Fremdenfeindlichkeit und Hass geprägt. Ein sprunghafter Anstieg von Aktionen und sogar sehr konkreten Anschlägen auf Unterkünfte von Flüchtlingen. In einem Jahr ein Anstieg von Anschlagsversuchen und Anschlägen von 200 auf 1000 Fälle. Attacken auch auf Kommunalpolitiker, die sich für eine menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge und für Unterkünfte einsetzen. Schon bevor die Flüchtlinge zum Thema wurden, gab es immer öfter Berichte über eine Verrohung der Sitten, über wachsende verbale Gewalt in den sozialen Medien und in Diskussionen, wurden vorher nicht gekannte aggressive Verhaltensweisen gegenüber Polizisten und sogar gegenüber Rettungssanitätern beklagt. Die Fremden sind nun ein neues Ventil für diese Aggressionen. Andererseits ist es wichtig - und es gelingt nicht immer ausreichend -, Äußerungen der Angst und der Ablehnung dieser Zuwanderung von Fremdenfeindlichkeit gut zu unterscheiden.
Bei der Finanzkrise wussten alle Regierenden: Wir sitzen in einem Boot. Ganz anders ist die Situation mit den Flüchtlingen. Es ist eine neue Entwicklung, bei der wir alle auch Lernende sind. Es gibt weder für den gesellschaftlichen noch für den politischen Prozess Patentlösungen. Für viele Menschen ist dabei die zentrale Frage, auf die sie keine für sie auch verständliche und nachvollziehbare Antwort bekommen haben: Warum plötzlich diese starke Fluchtbewegung, warum sollen gerade wir sie aufnehmen und damit auch die ganze Anstrengung und Belastung tragen? War das unabwendbar?
Darauf nachvollziehbare Antworten zu geben, die komplexen Sachverhalte verständlich zu vermitteln, ist die Aufgabe all derer, die in Führungsverantwortung sind. Das gilt zuvorderst für die Politik, aber nicht nur für die Politik. Diese Führungsleistung ist bislang nur sehr unzulänglich erbracht worden. Vielleicht, weil die Verantwortlichen mit dem Krisenmanagement beansprucht sind. Wahrscheinlich vor allem aber deshalb, weil wir uns als scheinbare Insel in einer zunehmend unruhigen Welt mit den Krisenentwicklungen in der Welt wenig auseinandergesetzt haben, wenig spürbar damit konfrontiert wurden.
Die Bilder von den Ertrinkenden und den Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer haben uns bewegt wie der Besuch des Papstes auf der Insel Lampedusa im Juli 2013, aber letztlich blieb es bei der von Papst Franziskus diagnostizierten „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Erst als diese Menschen in großer Zahl zu uns kamen, sind wir aufgewacht: erschreckt, oft ratlos.
Schuldzuweisungen und konkrete Erfahrungen
Wenn es bei Krisen und Konflikten für die Menschen keine nachvollziehbaren Erklärungen gibt, führt dies immer zu zwei Reaktionsmustern: Ein Sündenbock wird gefunden oder undurchschaubare Verschwörungen gelten als Ursache. Der Sündenbock ist nun für viele Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und damit wird nicht selten die Vorstellung verbunden, dass sich das Ganze nicht so entwickelt hätte und alle diese Belastungen und Anstrengungen nicht notwendig wären, wenn sie anders reagiert hätte. Dieser Eindruck ist ja auch in der politischen Debatte kräftig genährt worden, verbunden nicht selten auch mit scheinbar konkreten alternativen Vorschlägen zur wirksamen Reduzierung der Zahl der Flüchtlinge, deren Realisierungsmöglichkeiten aber selten wirklich beschrieben wurden. Zudem ist auch noch Wahljahr mit parteipolitischem Profilierungswettlauf. Das gefährliche Ergebnis: eine weithin verunsicherte Bevölkerung vor einer höchst schwierigen und kritischen Aufgabe.
In den ersten Wochen des Jahres 2016 entwickelte sich eine immer stärkere Übereinstimmung, dass Deutschland in diesem Jahr - und in den folgenden Jahren - nicht wieder eine ähnlich große Zahl von Flüchtlingen aufnehmen kann. Ob Obergrenze oder nationale Kontingente - was ist dafür der Maßstab? Vergleiche mit den Flüchtlingszahlen der Nachkriegszeit oder mit anderen Ländern und Regionen helfen nicht weiter; die Situationen sind nur sehr begrenzt vergleichbar.
Sehr konkret sind die Erfahrungen in den Gemeinden, Städten und Landkreisen. Hier, in den realen Lebensräumen, werden die Aufgaben und Situationen konkret. Die ständig wachsenden Probleme bei der Bereitstellung von Erstunterkünften und Wohnungen, beim notwendigen Fachpersonal der sozialen Dienste und der Lehrkräfte in den Schulen, in den kommunalen und staatlichen Verwaltungen bis hin zur Registrierung und den Sicherheitskräften sind die Realität. Dabei haben die Maßnahmen und die Reaktionen auf die zusätzlichen Bedarfe für eine wirksame Integrationspolitik noch kaum zu greifen begonnen. Immer mehr Gesprächspartner berichten von ihrer inneren Zerrissenheit angesichts des ungebrochenen Willens zu helfen und dem Erlebnis dieser Schwierigkeiten und der Sorge, wie Hilfe auf Dauer und in der weiteren Entwicklung geleistet werden kann. Das verstärkt den Ruf nach einer nachhaltigen Reduzierung der Zuwanderung. Aber wie kann diese Zahl tatsächlich und nachhaltig reduziert werden? Und mit welchen Maßstäben beurteilen wir etwaige Maßnahmen?
Menschenwürde und Wertorientierung
Der „Willkommenskultur“ - und damit den engagierten Freiwilligen - wird mehr oder minder offen die Schuld an der Entwicklung zugeschoben. Richtig ist, dass im Zeitalter der weltweiten Kommunikation Nachrichten von Menschen, die bislang nur Angst, Lebensgefahr, oft unmenschliche Behandlung im eigenem Land und auf der Flucht erlebten und hier gut und menschlich behandelt werden und sicher leben, auch eine große Anziehungskraft auf andere ausüben, die sich dann ihrerseits auf den Weg machen. Was ist die Alternative? Mehr oder minder offen wird dann für eine „Abschreckungskultur“ plädiert. Ungarn hätte uns schließlich vorgemacht, wie man die Menschen abhält. Das wäre freilich eine moralische Bankrotterklärung für das „christliche Abendland“, für eine Europäische Union, die sich auch als Wertegemeinschaft definiert.
Für eine wertorientierte Gesellschaft, für eine wertorientierte Politik können nur Maßnahmen infrage kommen, die nach den europäischen Maßstäben von Recht und Gesetz, nach den Maßstäben der Menschenwürde vertretbar sind. Natürlich können wir nicht alle Menschen aufnehmen, die aus jeweils nachvollziehbaren Gründen bessere Lebensverhältnisse suchen. Dies darf aber nicht zur wohlfeilen Entschuldigungsformel für Abwehrmaßnahmen werden. Unsere Mitverantwortung und unsere Solidarität für Menschen in Not verlangen, dass wir das uns Mögliche tun, Anstrengungen und Belastungen auch auf uns nehmen. Dies gilt nicht nur für die Aufnahme in unserem Land und für den Umgang mit diesen Menschen, es gilt auch für entsprechende Maßnahmen in den Herkunftsländern. Ganz besonders gilt es für die bei gutem Willen rasch realisierbaren Verbesserungen für die Lebenssituation der Menschen in den riesigen Flüchtlingslagern im Umfeld von Syrien, in Jordanien, im Libanon und auch in der Türkei. Ein erster Lichtblick ist dafür das Ergebnis der Konferenz in London Anfang Februar 2016.
Die Kontroverse über den richtigen Kurs in der Flüchtlingskrise gibt es nicht nur allgemein in der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Christen und der christlichen Kirchen. Die Meinungsverschiedenheiten über die richtigen Maßnahmen, die Debatten und auch der - zivilisierte - Streit um die richtigen Maßnahmen sind nicht nur der Preis der freien Gesellschaft, sondern auch ihre Stärke. Gerade wir Christen und die Kirchen müssen aber unverrückbar dafür eintreten, dass gegenüber diesen Menschen das Menschenbild Maßstab ist, das für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in Artikel 1 des Grundgesetzes formuliert ist:
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Diese Verpflichtung des Grundgesetzes gilt also auch gegenüber denjenigen, denen wir sagen müssen, dass sie bei uns nicht bleiben können, gegenüber denen, die wir abweisen müssen. Sie alle haben Anspruch auf Respekt und Achtung ihrer Menschenwürde. Mit der Ziffer 2 ist auch die notwendige Haltung gegenüber „jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ beschrieben. Als Christen sind wir diesem Maßstab, dieser Aufgabe besonders verpflichtet. Die Mitverantwortung für die Not und das Elend der Menschen endet nicht an unseren Landesgrenzen. Das ist die zentrale Botschaft des Evangeliums, dies will Papst Franziskus mit dem Heiligen Jahr der Barmherzigkeit uns allen bewusst machen. Damit ist es auch Aufgabe aus unserem Glauben und Aufgabe der Kirchen, nötigenfalls immer wieder unbequem diesen Maßstab zu vertreten, „Stachel im Fleisch“ zu sein.
Glaubwürdig und wirksam ist dies freilich nur möglich, wenn wir uns als Christen und als christliche Kirchen bis an die Grenze unserer Möglichkeiten den Menschen in Not und den damit verbundenen Aufgaben in unserer Gesellschaft widmen. Dazu gehört auch, dass wir uns mit unausweichlich notwendigen und schwierigen Abwägungsprozessen der politisch Verantwortlichen seriös auseinandersetzen.
Der Beitrag der Kirchen
In den vergangenen Monaten sind auch unnötige Spannungen zwischen „den Kirchen“ und der Politik entstanden. Zu oft werden die Kirchen nur als „soziale Dienstleister“ verstanden und ihr Beitrag nur an der Zahl der Plätze für die Unterbringung gemessen. Dass die Kirchen gerade aus ihren Kirchengemeinden und den vielen kirchlichen Gemeinschaften heraus, durch Caritas und Diakonie einen großen Beitrag leisten, haben vor allem diejenigen nicht gesehen, deren Kirchenbild auf Bischöfe, Kleriker und die „offizielle Kirche“ fixiert ist.
Dies gilt allerdings auch für nicht wenige Christen in der Politik. Im kirchlichen Raum sollte man sich mit diesen Erfahrungen aufmerksam und auch selbstkritisch auseinandersetzen, weil dieses Kirchenbild für viele andere anstehende Fragen in der Beziehung von Staat und Kirche von Bedeutung sein wird. In der Gesellschaft und in der Politik - aber auch in großen Teilen der Kirchen selbst - wird die radikale sozialkritische Botschaft des Jesus von Nazareth kaum wahrgenommen. Vielfach ist die primäre Erwartung der Politik an die Kirchen der Beitrag zur Ordnung und Stabilisierung der Gesellschaft.
Die Ursachen von Flucht und Migration
Warum „plötzlich“ diese großen Wanderungs- und Fluchtbewegungen? Warum sollen gerade wir uns damit so stark belasten? Diese Fragen stehen weiter im Raum, und die verständliche Klärung und Antwort ist von grundlegender Bedeutung für die weitere Entwicklung in unserer Gesellschaft und in der politischen Landschaft in Deutschland. Mit der weitverbreiteten Einschätzung, es hätte ja nicht so kommen müssen, wenn die Politiker - vor allem die Bundeskanzlerin - anders reagiert hätten, hat sich eine gefährliche Vergiftung des gesellschaftlichen und politischen Klimas entwickelt. Ohne Grundkonsens über die Ursachen der Entwicklung, unsere Handlungsmöglichkeiten und Aufgaben im eigenen Land und mit Mitteln der internationalen Politik, ist eine konstruktive Entwicklung nicht möglich.
Damit wir die Ursachen für die Entwicklung der großen Wanderungsbewegungen begreifen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen, müssen wir uns mit der grundlegenden Veränderung im Globalisierungsprozess auseinandersetzen. Nur so können wir die notwendige Rationalität, die richtigen Maßstäbe, eine neue Handlungsfähigkeit und den notwendigen gesellschaftlichen und politischen Konsens für unseren weiteren Weg finden.
Die fortschreitende Globalisierung haben wir bisher vor allem als die zunehmende Verflechtung der wirtschaftlichen Beziehungen erlebt. Wir zählen zu den großen Gewinnern der Globalisierung. Die Erschließung der Weltmärkte ist wesentliche Grundlage unseres Wohlstandes. Unser Wohlstand begründet sich aber auch auf einer weltweiten Arbeitsteilung, bei der wir zu den jeweils günstigsten Preisen in den verschiedensten Regionen der Welt einkaufen. Dies gilt für Textilien ebenso wie für die Gewinnung wichtiger Rohstoffe für technologische Produkte.
Eine Auswirkung dieser arbeitsteiligen Wirtschaft ist aber auch die Ausbeutung von Menschen in anderen Regionen dieser Welt und die Zerstörung vieler Lebensräume. Wir müssen nun realistisch zur Kenntnis nehmen, dass wir mit der weiteren Entwicklung nicht mehr nur Gewinner der Globalisierung sind, sondern immer mehr und unentrinnbar (!) auch Betroffene und Beteiligte der zunehmenden Krisen und Konflikte in der Welt. Die Weltbevölkerung wird in wechselseitiger Abhängigkeit immer mehr zu einer Schicksalsgemeinschaft! Unser Wohlstand, unsere Lebenssituation ist immer mehr von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Regionen der Welt abhängig.
Die Entwicklung der digitalen Kommunikation, das Internet verändert die Welt in einem Ausmaß und mit Folgen, wie wir uns das nicht vorstellen konnten. Ohne Internet wären der Welthandel und unser Wohlstand nicht möglich. Ohne Internet gäbe es keine globale Urlaubswelt. Ohne Internet hätte es keinen „Arabischen Frühling“ gegeben - mit seinen fatalen Folgen an Chaos. Ohne Internet wäre kein international organisierter Terrorismus wie der „Islamische Staat“ (IS) entstanden. Ohne Internet hätten wir keine Flüchtlingsströme dieser Größenordnung.
Mit der modernen digitalen Kommunikation wissen wir immer mehr voneinander, und daraus entstehen immer mehr Konflikte. Die Verlierer der bisherigen Entwicklungen wissen um unsere Lebenssituation und sind nicht mehr bereit, dies einfach hinzunehmen.
Papst Franziskus hat mit der Enzyklika „Laudato Si’“ (2015) den inneren Zusammenhang, die gemeinsamen Ursachen der verschiedenen Krisen eindrucksvoll dargelegt. Er hat leidenschaftlich darauf verwiesen, dass von den Krisen in der Welt immer die Armen am meisten betroffen sind. Die Entwicklungen werden von den Menschen im Norden geprägt und bestimmt, die Beziehungen zu den Völkern und Staaten im Süden weitgehend nach dem Nutzen für den Menschen in den wohlhabenden Ländern gestaltet. Mit den modernen Kommunikationsmitteln wissen aber die Menschen im Süden immer mehr vom Leben in den wohlhabenderen Teilen der Welt, von Auswirkungen dieses Lebens auf ihr Leben - und sie sind nicht mehr gewillt, dies einfach hinzunehmen. Eine weitere Auseinanderentwicklung von Arm und Reich, die Ausbeutung von Menschen durch entsprechende Wertschöpfungsketten bei der Produktion in Billigländern, den Raubbaumethoden und die Vernichtung von Lebensräumen durch einen „kostengünstigen“ Abbau von Rohstoffen für die Produkte der Reichen wird zu immer mehr Konflikten, Krisen und großen Wanderungsbewegungen führen. Wir müssen uns selbstkritisch mit der Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen und ihren Auswirkungen auf die Lebenssituation der Mehrheit der Weltbevölkerung auseinandersetzen.
Notwendige Weichenstellungen
Es ist allgemein akzeptiert, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen zu den ganz wesentlichen Konsequenzen der wachsenden Flüchtlingsströme gehört. Aus Gründen der Humanität, aber ebenso auch als Gebot der Klugheit, der vorsorgenden Politik aus eigenem Interesse:
„60 Millionen Flüchtlinge auf unserem Planeten Erde schreien die Ungerechtigkeit der Welt förmlich heraus. Wir müssen endlich begreifen, dass wir die Herausforderungen auf unserem Planeten nur gemeinsam oder gar nicht lösen können. Wir sitzen sprichwörtlich alle in einem Boot! Es gibt nicht mehr länger eine erste, zweite und dritte Welt. Es gibt nur noch eine Welt, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen!“2
Das wird viel Anstrengung und viel Geld kosten. Wer jetzt fabuliert, dass es doch nicht zumutbar ist, dass wir jetzt so viel von „unserem Geld“ für die Flüchtlinge ausgeben, wo wir doch selbst so viele Aufgaben haben, hat nicht begriffen, dass ein Fundament unseres Wohlstandes auch die Situation der Armen in der Welt ist, ihre Lebenssituation und ihre fehlenden Zukunftsperspektiven auch ein Baustein unseres Wohlstandes sind.
Zu den wichtigen politischen Entwicklungen zählt, dass der für die Finanzen zuständige Bundesminister Wolfgang Schäuble zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt wie Minister Gerd Müller für die Entwicklungspolitik:
„Wir wussten, dass es vielen Menschen auf der Welt viel schlechter geht als uns. Uns war auch klar, dass sie wissen, wie man zu uns kommt. Jetzt haben sich viele auf den Weg gemacht. Unser Interesse muss jetzt sein, die Krisenregion im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika zu stabilisieren, damit die Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät. Das ist unser Rendezvous mit der Globalisierung - ob uns diese Begegnung nun gefällt oder nicht. Dafür können wir uns nicht im warmen Stübchen verstecken [...]. Wir werden unsere Ausgaben für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, für innere und äußere Sicherheit deutlich erhöhen. Die Verteidigungsausgaben müssen steigen, weil wir unser militärisches Engagement ausweiten müssen. Das werden zentrale Aufgaben der deutschen Politik, um die Wünsche der Menschen ernst zu nehmen, in Sicherheit leben zu können!“3
Wir werden uns also darauf einstellen müssen, dass ein wachsender Anteil unserer materiellen Erträge für die internationalen Aufgaben eingesetzt werden muss: entweder für vorsorgende und solidarische Politik - oder für die Bewältigung von Krisen
Die wachsende Zahl von Flüchtlingen und Migranten hat uns mit den Fehlentwicklungen der Globalisierung und mit den Schwächen der internationalen Politik drastisch konfrontiert. Dies gilt besonders auch für die innere Entwicklung in der EU. Die „Flüchtlingskrise“ hat sich zur Schicksalsfrage der Europäischen Union entwickelt. Das Jahr 2016 kann damit zu einem Schicksalsjahr für die weitere Entwicklung in Europa werden. Eine anhaltende Lähmung oder gar ein Auseinanderbrechen der EU hätte für die Zukunft der Völker und Staaten Europas dramatische Folgen.
Für die weitere Entwicklung in Deutschland wird prägend werden, wie wir die große Aufgabe der Integration gestalten. Und ob wir dafür im Hinblick auf die Ziele, die Maßstäbe und die Maßnahmen den notwendigen Grundkonsens finden. Schon mit Blick auf die wachsende Vielfalt von Lebensstilen und unterschiedlichen Prioritäten für die Lebensgestaltung gesellschaftlicher Gruppen sehen wir uns immer wieder veranlasst, darüber zu diskutieren, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Mit dieser großen Zuwanderung hat dies eine zusätzliche Aktualität. Dafür steht der immer sehr kontrovers diskutierte Begriff „Leitkultur“.
Glaubwürdigkeit und Offenheit
Integrationspolitik beginnt mit der Selbstvergewisserung über unsere eigenen Maßstäbe, unsere eigenen Werte. Allgemeine Formulierungen wie „christliche Werte“ oder „westliche Werte“ führen nicht weiter. Wie hohl die Wortwaffen „Christliches Abendland“ und „Islamisierung“ sind, zeigt sich bei den Pegida-Demonstrationen.
Gewiss können wir uns rasch darauf verständigen, dass dies die grundlegenden Aussagen unseres Grundgesetzes sind: die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Meinungsfreiheit, der Rechtsstaat, die Trennung von Religion und Staat, die Religionsfreiheit - um nur einige Beispiele zu nennen.
Dies müssen wir gegenüber den Menschen aus anderen Kulturen klar markieren, klar positionieren. Dafür ist die Übersetzung in ihre Landessprache hilfreich, reicht aber nicht aus. Wir müssen dies den Menschen aus ganz anderen Kulturen und Denkweisen auch verständlich und zugänglich machen. Dafür wird entscheidend sein, dass wir diese Werte auch überzeugend vertreten und leben! Dass die Flüchtlinge und Migranten dies nicht nur als Forderung an sie vernehmen, sondern bei uns auch erleben.
Ebenso wichtig ist es, die Schwierigkeit und die Dimension der Aufgabe offen und ehrlich zu benennen. Einwanderungen in diesen Größenordnungen laufen niemals ohne Spannungen, ohne Konflikte. Dies haben schon die Erfahrungen mit den Flüchtlingen aus den kriegerischen Konflikten im Balkan und später der Zuwanderung der Russlanddeutschen gezeigt. Es wird immer wieder auch zu berechtigten Sorgen führen. Welche Wirkung einzelne Ereignisse dabei haben können, zeigen die Erfahrungen mit der Silvesternacht 2015/16 in Köln. Dabei vermengen sich berechtigte Sorgen mit einer Legitimation der eigenen Abwehrhaltung, der grundlegenden Vorbehalte gegenüber Menschen anderer kultureller und religiöser Prägung, der generellen Ablehnung der Aufnahme dieser Menschen.
Für ein Gelingen der Integration ist die richtige Verbindung von Fordern und Fördern, von Rechten und Pflichten wichtig. Es genügt nicht - vor allem in Hinblick auf die Ängste in der Bevölkerung -, nur zu fordern. Die Integrationsbereitschaft wird auch wesentlich davon abhängen, dass die Menschen Zukunftsperspektiven sehen und damit die Erfahrung machen, dass sie in dieser Gesellschaft einen anerkannten Platz erreichen können. Integration wird vor allem dann nicht gelingen, wenn diejenigen, die sich integrieren sollen, die Erfahrung machen, dass sie eigentlich unerwünscht sind.
Die Aufgabe der Integration
Was verbinden wir mit dem Anspruch auf Integration? Es wird wichtig sein, zu unterscheiden zwischen Integration und einem Verlangen nach Assimilation, was bedeuten würde, sie müssten ihre eigenständigen Prägungen aufgeben, sich von ihren kulturellen Wurzeln, ihrer Identität lösen. Als Entwurzelte werden sie sich nicht integrieren. Im Gegenteil: Das ist der Nährboden für Radikalisierung.
In der politischen Debatte geht es auch um eine präzise Unterscheidung zwischen „rechts“ im demokratischen Spektrum und „rechtsextrem“, zwischen Patriotismus und Nationalismus
Die Aufgabe der Integration hat mehrere Dimensionen: die soziale Dimension im Hinblick auf die Auswirkungen auf den Sozialstaat, auf das Sozialverhalten in unserer Gesellschaft, auf mögliche Konkurrenzen in den unteren Einkommensgruppen; die kulturelle Dimension im Hinblick auf das gesellschaftliche Leben und Zusammenleben; die sicherheitspolitische Dimension, sowohl mit Blick auf die radikalen Kräfte im Islam als auch auf die am rechten Rand unserer Gesellschaft; die finanzielle und ökonomische Dimension im Hinblick auf die Kosten der Integration; die ökonomischen Kosten der Integration, die gleichzeitig eine Investition in die anhaltende Stabilität unseres Gemeinwesens und unseres Staates sind.
Notwendige Debatte über den Islam
In der allgemeinen Wahrnehmung, in der öffentlichen Berichterstattung, ist der Islam vor allem mit Problemen der Gewalt präsent. Damit löst er schon bisher bei vielen Menschen Ängste aus. Der Zustrom von Muslimen aus anderen Kulturen verstärkt dieses Gefühl.
Deshalb ist gerade zum Gesamtthema Islam eine offene und intensive Debatte notwendig. Das erste und wichtigste ist dabei die Bereitschaft zur Differenzierung. Dies setzt entsprechende Kenntnisse voraus. Diese Differenzierung sind wir auch den hier schon lebenden Muslimen schuldig, die - wie alle Untersuchungen zeigen - in ihrer überwältigenden Mehrheit in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz ihr Leben und unser Zusammenleben gestalten. Sie sind in unserer Arbeitswelt, gerade auch im Bereich der Dienstleistungen, wichtige Leistungsträger. Das ist heute schon eine Selbstverständlichkeit, und in aller Regel funktioniert die Zusammenarbeit ohne besondere Konflikte.
Gegenüber den radikalen Strömungen und Positionen, wie etwa den Salafisten, ist höchste Wachsamkeit und konsequentes Handeln des Rechtsstaates notwendig.
Mit der nun rasch wachsenden Zahl von Muslimen in Deutschland ist eine offene, ehrliche und intensive Debatte über die Situation, die Perspektiven und Entscheidungen notwendig. Für diesen Weg müssen wir vor allem mit den Muslimen und ihren Repräsentanten aktiv zusammenarbeiten, die sich in den vergangenen Jahren mit ihrem Verhalten und ihrem Engagement als verlässliche Partner ausgewiesen haben.
Notwendige Veränderungen innerhalb des Islam können wir nicht von außen erzwingen, aber durch die Stärkung dieser Kräfte fördern. Die Angst vor einer „Islamisierung“ unseres Landes ist vor allem Ausdruck der eigenen Unsicherheit über unsere Werte, Ausdruck einer verunsicherten und oft in sich zerrissenen Gesellschaft. Die etwa vier Millionen Muslime in Deutschland und ca. 15 Millionen Menschen mit „Migrationshintergrund“ sind nicht die Ursache für manche Defizite und Problementwicklungen unserer Gesellschaft.
Diese grundsätzlich positive Bilanz darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir viele ungelöste Problem- und Aufgabenstellungen haben, für die nun mehr denn je ein Klärungsprozess notwendig ist. Zu einer durchdachten Integrationspolitik gehört also zwingend die offene, intensive und konstruktive Gestaltung all der Themenbereiche, die mit der Realität des Islam in Deutschland und mit der zwingenden Notwendigkeit, gemeinsam den Weg in die Zukunft zu gestalten, verbunden sind. Wer Islam und Islamisten gleichsetzt, erfüllt den radikalen Islamisten einen großen Wunsch!
Die größte Gefahr für die freien Gesellschaften ist der international organisierte Terror des IS. Diese bestens organisierte Terrororganisation ist für das Eindringen in unsere Gesellschaften und Staaten auf die Flüchtlingsbewegung nicht angewiesen, aber sie nutzt auch diesen Weg, und vor allem belastet sie die Flüchtlinge und Migranten ebenso wie uns. Diese Gefahr bedroht auch alle Muslime, die sich dieser radikalen Ideologie nicht anschließen.
Diese Terrorgefahr, die allgegenwärtige Gefahr von Terroranschlägen nicht nur in Europa und in der westlichen Welt, sondern in allen Erdteilen, die wirksame und nachhaltige Bekämpfung ihrer Ursache, ihrer Entwicklung und ihrer Aktivität ist die größte Herausforderung.
Die Wirklichkeit nicht verdrängen!
„Politik beginnt mit der Analyse der Wirklichkeit“: Dieser alte Grundsatz politischen Handelns gilt für die lokale wie auch für die globale Wirklichkeit. Noch nie war das Motto aus der Umweltbewegung „Global denken - lokal handeln“ so aktuell und so zutreffend wie gegenwärtig. Dabei darf es keine Differenz geben zwischen Denken, Erkennen und entsprechendem Handeln. Das Verdrängen der Wirklichkeit führt immer zu bitteren Ergebnissen. Viele der gegenwärtigen Schwierigkeiten aus internationalen Entwicklungen haben genau darin ihre Ursache.
Jede realistische Einschätzung führt uns zu der Schlussfolgerung, dass die kommenden Jahre anstrengender werden als die vergangenen. Nach jedem Unwetter können wir an den Bäumen feststellen, dass in stürmischen Zeiten nur Tiefwurzler bestehen. Dies gilt auch für Menschen und Gesellschaften: ob sie Halt haben in festen Überzeugungen, in von gemeinsamen Werten geprägten Gemeinschaften und Staaten.